StartseitePublikationenBernd Hainmüller17. April 1936: Wanderung in den Tod am Schauinsland

17. April 1936: Wanderung in den Tod am Schauinsland

Bernd Hainmüller

Abb. 1:  Jack Alexander Eaton starb am Schauinsland, 15 Jahre alt , Aufnahme kurz vor Abfahrt

Das Abendläuten der Hofsgrunder Kirche und der mutige Einsatz der gesamten Hofsgrunder Bevölkerung rettete am Abend des 17. April 1936 das Leben der Mehrheit einer Gruppe von 27 am Schauinsland in Bergnot geratenen Schülern der Strand School in London-Brixton. Für 5 Schüler im Alter zwischen 12 und 14 Jahren kam jede Hilfe zu spät. Vier von ihnen konnten von den Hofsgrunder Rettern im Gasthaus „Hof“ nicht mehr wiederbelebt werden. Der fünfte Schüler starb nur 10 Minuten nach dem Eintreffen des Krankenwagens in der Freiburger Universitätsklinik am frühen Morgen des nächsten Tages. Ein weiterer konnte in der Klinik am Leben gehalten werden. Erst im Nachhinein ließ sich das ganze Ausmaß des Unglücks am 17. April 1936 übersehen: eine Gruppe von 28 Personen – 27 Schüler im Alter zwischen 12 und 17 Jahren und ihr Lehrer – waren in Bergnot geraten und wenn die Hofsgrunder Retter nicht zur Stelle gewesen wären, wären noch mehr Personen ums Leben gekommen. Völlig orientierungslos war der Lehrer mit der Gruppe zuletzt querfeldein in Nebel und starkem Schneefall die Kappler Wand hinaufgeklettert, um irgendwo Schutz zu suchen. Aber fünf Jugendliche waren aufgrund von Erschöpfung und Kreislaufversagen am diesem Abend am Freiburger Hausberg gestorben. Dieser Sachverhalt ist unstrittig.

Er ist in die Freiburger Stadtgeschichte als „Engländerunglück“ eingegangen. Von ihm künden auf der Gemarkung Hofsgrund drei Denkmale: Das „Engländerdenkmal“, der Gedenkstein des Vaters Eaton für seinen am 17. April 1936 ums Leben gekommenen Sohn Jack Alexander Eaton (ca. 800 Meter davon entfernt) und eine Gedenktafel der Londoner Eltern der geretteten Schüler in der Eingangshalle der Hofsgrunder Kirche. Ein „lebendiges“ Denkmal setzten die Hofsgrunder Bürger auf Initiative der Ortsverwaltung Hofsgrund am 17. April 2016 mit einer dort durchgeführten, vielbesuchten Gedenkfeier zum 80. Jahrestages des Unglücks im Beisein zweier Kinder eines damals geretteten Schülers, Ken Osborne.

Die Legenden um das Unglück 

Im kollektiven Gedächtnis des Dorfes ist die uneigennützige, spontane Rettungstat der Hofsgrunder Gemeinde tief verwurzelt; bei den Freiburger Bürgern herrschte bis zur Bombardierung der Stadt durch englische Geschwader am 27. November 1944 der Glaube vor, man werde aufgrund der Rettungstat für die englischen Jugendlichen sicherlich von deren Luftschlägen verschont bleiben, was sich als Irrtum erwies. Dies ist nicht der einzige Irrtum geblieben: Bei kaum einem vergleichbaren Unglück wurde von so vielen Seiten der wirkliche Hergang so sehr vertuscht oder so stark geschönt, dass immer dieselbe Version des Unglücks bis heute nacherzählt wird: Ein plötzlicher „Blizzard“ und einsetzender Nebel sollen der Grund für das Desaster gewesen sein. Die Gruppe habe sich auf dem Schauinsland verirrte und der „heldenhaft“ agierende Lehrer sei trotz aufopferungsvollen Einsatzes nicht in der Lage gewesen, alle Schüler zu retten. Das einzige, was an diesen Legenden stimmt, ist, dass ohne die beherzte Hofsgrunder Bevölkerung – ihre Rettungsaktion zog sich über mehrere Stunden nachts bei starkem Schneefall hin –vermutlich kein Mitglied der Gruppe die Nacht überlebt hätte. Kaum beachtet wurde aber die Frage, warum die Gruppe überhaupt in Bergnot geraten war – gab es wirklich einen plötzlichen, unvorhersehbaren Blizzard, dem die fünf Schüler zum Opfer fielen? War es das warmherzige Andenken der Nationalsozialisten an diese Jugendlichen, das in einem Denkmal ihren Niederschlag fand? Tatsache ist, dass die Hilfe eines ganzen Dorfes keinen Niederschlag im zwei Jahre später errichteten „Engländerdenkmal“ am Schauinsland fand. 

Abb. 1:  Engländerdenkmal oberhalb von Hofsgrund (Photo: Lorenz) 

Dieses erinnert in der Form eines nordischen Runenmals eher an den Totenkult, den die Nationalsozialisten immer dann einsetzen, wenn es ihre gestorbenen Helden zu beklagen gab. Wie wurden die fünf toten Schüler zu solchen Helden, wer hat sie dazu gemacht? Geplant war eine zehntägige Wanderung mit ihrem Lehrer durch den südlichen Schwarzwald in den Osterferien. Die Gruppe aus London stand in keinem ideologischen und organisatorischen Zusammenhang mit der Hitlerjugend. Ein aufmerksamer Wanderer wird auf folgende Merkwürdigkeit stoßen: Nicht weit entfernt vom großen Denkmal befindet sich ein Gedenkstein für einen der Schüler, Jack Eaton, der hier ums Leben kam. Unter der Inschrift befindet sich ein sichtbares Feld mit einer offensichtlich ausgemeißelten weiteren Inschrift. Eine Recherche von Ute Scherb (in ihrem Buch von 2011: Wir bekommen die Denkmäler, die wir verdienen, S. 174ff.) ergab, dass sie der Wahrheit näher gekommen wäre als das große Denkmal, denn die Inschrift sollte auf Englisch das benennen, was im Zuge der Ereignisse nach dem Unglück völlig aus dem Blickfeld gezogen wurde: „Their leader failed them in the hour of trial“ – eine Benennung der verantwortungslosen und fahrlässigen Handlungsweise des englischen Lehrers durch den Vater des toten Jack Eaton, der den Stein setzen ließ. Diese vorgesehene Inschrift musste auf Veranlassung des Landrats Dr. Gross wieder ausgemeisselt werden.

Abb. 2:  Eaton-Stein mit ausgemeisselter Zusatzinschrift

Das stattdessen von Seiten der Reichsjugendführung der Hitlerjugend – Baldur von Schirach (später als Kriegsverbrecher in Nürnberg zu 20 Jahren Haft wegen Kriegsverbrechen verurteilt) in Auftrag gegebene Denkmal ist hingegen Teil der Inszenierung nach dem Unglück – eine Instrumentalisierung toter englischer Schüler, der auch von Seiten des englischen Außenministeriums – Sir Anthony Eden, später Premierminister – nichts entgegengesetzt wurde. Ursprünglich in Freiburg gefertigte Dokumente z. B. der Staatsanwaltschaft Freiburg, die vom englischen Generalkonsulat in Frankfurt ins Englische übersetzt wurden und die Originalakten des Foreign Office zeigen, dass durch das Unglück eine Gemengelage unterschiedlichster Interessen entstanden war, die verhinderte, dass der tragische Vorgang am Schauinsland sowohl in Freiburg durch die Staatsanwaltschaft wie auch in London durch die Schulbehörden und den Stadtrat rechtlich korrekt aufgearbeitet wurde. Weil einerseits niemand ein wirkliches Interesse an der Aufklärung der Vorgänge um das Unglück zeigte (schon gar nicht der Lehrer) und sich andererseits aus dem Unglück politisches Kapital schlagen ließ, geriet nicht nur die beispiellose Rettungsaktion der Hofsgrunder in den Hintergrund, sondern die Toten selbst wurden zu Statisten einer schaurigen Inszenierung der Freiburger Nationalsozialisten, die europaweit auf großen Widerhall traf und Sympathien für das „neue Deutschland“ nicht nur in der englischen Öffentlichkeit schuf. Genau das war bezweckt worden. Die Reichsjugendführung der Hitlerjugend in Berlin zeigte genauso wenig Interesse an der vorurteilslosen Aufklärung des Geschehens vom 17. April 1936 wie das britische Aussenministerium in Whitehall – beiden waren ihre spezifischen außenpolitischen Ziele wichtiger – den einen die „Appeasement-Politik“ gegenüber dem Deutschen Reich, um einen Krieg gegen Nazi-Deutschland zu vermeiden und die anderen spielten auf der propagandistischen Klaviatur ihrer Friedensliebe und Völkerverständigung – die Olympiade im Sommer 1936 stand vor der Tür. In diesem Ränkespiel auf beiden Seiten kam die Wahrheit über das Unglück schlichtweg unter die Räder und der verantwortliche Lehrer ungeschoren davon. Um das zu verstehen, muss man zunächst auf die Ursachen des Unglücks zurückgreifen.

Ein Wintereinbruch im April – und seine Folgen

„Überraschender Wintereinbruch im Schwarzwald“, lautete am Morgen des 17. 4. 1936 die kurze Meldung im Lokalteil des „Alemannen“, der Zeitung der National-sozialisten in Freiburg. Bis Mittag waren im Feldberggebiet 30 cm Neuschnee gefallen, die Temperaturen waren auf drei Grad minus gesunken. Auch der Schauinsland war in Nebel eingehüllt, ein mäßiger, kalter Westwind bei Temperaturen um und knapp unter null Grad wehte, verursacht durch ein kräftiges Tiefdruckgebiet, das zunächst für warme 17 Grad am 16. 4. in Freiburg gesorgt hatte, dann aber südwärts zog und maritimpolare Kaltluft aufsaugte. Den damit einhergehenden schnellen Wettersturz vom Frühling in den Winter hatte der deutsche Wetterbericht vorausgesagt und er kam fast „planmässig“ im Schwarzwald an (ein Phänomen übrigens, das im April am Schauinsland nicht selten ist). Kein vernünftiger einheimischer Bergwanderer hätte am Morgen des 17. April 1936 angesichts dieses Wettersturzes seine Schritte Richtung Schauinsland – Gipfel gelenkt.

Abb. 3:  Kenneth Keast als Student im Kings College Cambridge 1930

Ganz anders der Lehrer Kenneth Keast, der seine Schutzbefohlenen um 9 Uhr am Morgen des 17. April im Essensraum der Jugendherberge Freiburg im Peterhof antreten ließ.


Abb. 4:  Eugen Schweizer- einer der Hofsgrunder Retter

Am erstem Tag sollte es von der Jugendherberge in der Freiburger Innenstadt zur Jugendherberge Radschert in Todtnauberg gehen – eine mit ihren rund 800 Höhenmetern selbst für gewohnte Wanderer eine mehr als anspruchsvolle Strecke, auch in ihrer Länge. Ein Blick auf den Wetterbericht hätte ihm allerdings gezeigt, dass die Wanderbedingungen nicht günstig waren: In Hofsgrund, dem späteren Unglücksort, lagen an diesem Morgen des 17. April schon 15 cm Schnee. Auch in Freiburg – so hielt der überlebende Schüler Ken Osborne in seinem Tagebuch fest - , lag beim Abmarsch der Gruppe auf den Dächern und in den Strassen bereits Schneegriesel: „It was snowing and we lost our way“. Und der Schneefall wurde intensiver, je höher sie kamen. Dass in diesem „Sauwetter“ eine Gruppe am Schauinsland unterwegs war, merkte der damals 22 jährige Eugen Schweizer am Abend des 17. April 1936 in der Stube des Dobelbauern Bernhard Lorenz in Hofsgrund erst, als es an die Tür zum Laden klopfte. In einem am 28. April1936 verfassten handschriftlichen Bericht schilderte Schweizer die folgende Begegnung der „unheimlichen Art“: 

Abb. 5:  Retter Dobelbauer Bernhard Lorenz vom Dobelbauernhof (Bild: Lorenz)

Auf einmal hörten wir junge Burschen laut gegen den Bauernhof im tiefen Schnee daher stampfen. Sogleich gingen Herr und Frau Lorenz vor die Haustür, um mit ihnen zu sprechen. Zuerst bekamen sie gar keine Antwort, da die Jugendlichen nur Englisch sprachen. Als der Ladenbesitzer merkte, daß die Burschen sehr erschöpft aussahen, gab er ihnen Sprudel und Kaffee zu trinken. Auf die Frage, woher sie kämen, antwortete einer: Vom Schauinsland, zwei Mann liegen krank am Berg, es sind 28 Mann beisammen. Nun bat mich Herr Lorenz, die Burschen in das zehn Minuten entfernte Gasthaus »Zum Hof« zu bringen. Ich schnallte meine Skier an und ging den etwa fünfzehn Jungen voraus; zwei weitere kamen noch dazu, die in einem anderen Bauernhaus Rettung gesucht, aber die Besitzer nicht angetroffen hatten. Nun hörte man auch die Hilferufe der am Berg Zurückgebliebenen, die immer lauter wurden und einem durch Mark und Knochen gingen“. Die jetzt anlaufende Hilfsaktion war für die Retter lebensgefährlich. Mit Schlitten wurden die über den ganzen Südhang verstreuten englischen Schüler und ihr Lehrer vom Berg geholt bis kurz nach Mitternacht. Die letzten drei Verunglückten fand man etwa 3/4 Stunden von den übrigen entfernt - bei der sogenannten Platzhürst knapp unterhalb des Schauinsland-Kamms. Eugen Schweizer erinnerte sich auch an die Bekleidung der Gruppe: „ohne Kopfbedeckung, kniefrei, Halbschuhe“. Er konnte sich nicht erklären, warum drei der toten Schüler so weit oben am Hang gefunden wurden. Hatten die Kameraden sie sterbend im Schnee liegengelassen, als sie die Glocken der Kirche von Hofsgrund gehört hatten und in wildem Durcheinander jeder für sich Rettung suchte? Zumindest der Vater einer der tödlich verunglückten Schüler, Jack Eaton, behauptete das in einer schriftlichen Einlassung bei der zweitägigen Sitzung des Untersuchungsausschusses der Londoner Schulbehörde im Mai 1936. Wenn es so gewesen wäre, wäre es allerdings nur der letzte Beweis einer langen Kette von Unzulänglichkeiten des Lehrers, der den Tod der fünf Schüler herbeigeführt hatte. Die Wanderung war insgesamt schlecht vorbereitet:

  • der Lehrer hatte sich nicht über das Wetter informiert, obwohl er bereits am Vortag in Freiburg dazu die Gelegenheit gehabt hätte;
  • Seine Karte im Maßstab 1:100.000 war nicht geeignet, sich im Schwarzwald zu orientieren;
  • die Kleidung der Schüler war für die Jahreszeit allgemein unzweckmäßig;
  • der Proviant (zwei Brote und eine Orange für jeden) war zu knapp bemessen;
  • der gewählte Aufstiegsweg zum Schauinsland ist von allen möglichen der steilste.

Der Lehrer verlief sich schon kurz hinter Günterstal, die Warnung von Susanne Trenkle, der Wirtin von St. Valentin, wegen des Schneefalls nicht weiterzugehen, wurde von ihm ignoriert. Erneut verlief er sich am Kybfelsen; kurz danach traf er zwei Holzfäller, die ihn ebenfalls warnten, weiterzugehen; auch das Angebot des Postmann Steiert, den er gegen 15 Uhr 15 im Oberen Kappler Tal traf, schlug er in den Wind. Steiert hatte ihm angeboten, im Bergwerkszechenheim am Ende des Kappler Tals unterzukommen und die Gruppe von dort zurück nach Freiburg zu begleiten. Keast ging stattdessen querfeldein die steile Kappler Wand hinauf, ohne zu ahnen, dass die Gruppe am Schauinslandkamm die ganze Wucht des Schneesturms frontal ins Gesicht bekam. Dennoch hielt der Lehrer mit einem fast fanatisch zu nennenden Willen an dem Ziel fest, herumirrend in Nebel und Dunkelheit das auf der Karte eingezeichnete Dorf Hofsgrund zu erreichen – die näherliegende Bergstation der Schauinslandbahn als Notunterkunft zog er nicht in Betracht. Dadurch verringerten sich die Überlebenschancen für die jüngsten der Gruppe drastisch. 

Abb. 6:  Drei der fünf tödlich verünglückten Schüler (ein Foto von Francis Bourdillion existiert auf Wunsch der Eltern nicht, Jack Eaton oben auf der Seite. 

Francis Bourdillon, 12 Jahre alt; Peter Ellercamp 13 Jahre alt; Stanley Lyons, 13 Jahre alt; Martin Witham, 14 Jahre alt, Alex Jack Eaton, 15 Jahre alt waren zum Zeitpunkt ihres Todes schon über 10 Stunden durch das Gebiet geirrt, durchnässt und verfroren in ihren kurzen Hosen und Halbschuhen, dehydriert und völlig erschöpft durch das Waten im Tiefschnee bis zur Hüfte und es war kein Wunder, dass sie es waren, die zuerst zusammenbrachen. Spätere Berichte einiger Überlebender nach der Rückkehr der Gruppe nach London beschrieben die nahezu aussichtslose Situation so: „Wir sangen “I want to be happy und „Tea for Two” und andere fröhliche Lieder, um unseren Geist wachzuhalten. Wir hatten keine Ahnung, dass es einigen so dreckig ging“ (Ken Osborne). Arthur Roberts, der 14 Jährige, der gerettet werden konnte, sagte in der Freiburger Uniklinik einem Reporter: „ Ich bin froh, dass alles vorbei ist. Schon bald nach dem Abmarsch verirrten wir uns im dichten Nebel. Wir sahen gar nichts mehr und fürchteten uns sehr. Der Schnee fiel schneller und schneller und es war auch Hagel dabei. Wir hängten uns ein und versuchten, einen Weg zu finden. Wir machten Pläne, uns aufzuteilen, um einen Platz zum Unterstellen zu finden. Aber letztlich wurde entschieden, dass wir zusammenbleiben. Ich sah, wie ein Junge nach dem anderen zusammenbrach und im Schnee lag, bis es ungefähr zehn waren. Ich verlor ganz plötzlich das Bewusstsein. Es schien mir so, als ob ich weiterginge und den Schnee mit meinen Händen zusammenpatschte, als etwas sehr Dunkles über mich kam und ich wurde warm und vergaß alles. Ich krallte meine Hände in den Schnee und alles, was ich erinnere ist, dass ich nur noch einen Wunsch hatte: Schlafen, Schlafen, Schlafen“.

Wer war der Lehrer, der die Gruppe in das Verhängnis führte?

Kenneth Keast war an der Strand Schule Lehrer für Deutsch und Sport. Er war einer der jüngsten Lehrer der Schule (27) und war früher selbst Schüler der Strand School gewesen. 1926/1927 wurde er zum „head boy“ (Schulsprecher) der Schule und er war der Captain des Cricket und Fußballteams. Er bekam nach dem Schulabschluss (1929) ein Stipendium für das Kings College in Cambridge, wo er 1931 seinen Magister machte. Danach unterrichtete er vom September 1931 bis zum April 1933 an der deutschen Privatschule Schloss Neubeuern im bayrischen Alpenvorland als Lehrer für Englisch und Sport. Nach der Rückkehr an seine alte Schule unterrichtete er Englisch, Deutsch und Geschichte. Aufgrund seines sportlichen Könnens als Kletterer und Skifahrer war er ganz besonders beliebt bei den Schülern. Die Schüler, die die Tour nicht überlebten, zählten überwiegend zu den sportlichsten der Schule: So war Jack Alexander Eaton ein Boxchampion der Schule, der auch „House Captain“ für Reiten, Fußball und Schwimmen war. Er war ausserhalb der Schule Mitglied des Belsize Boxing Clubs. Peter Ellercamp war ebenfalls Boxchampion seiner Gewichtsklasse. Er überredete seinen Vater, ihn trotz seiner 13 Jahre mitfahren zu lassen. Auch Stanley Michael Lyons war „ein kleiner Sportsmann“, der dem Junior Team des Fußballteams der Strand-Schule angehörte. Der älteste Teilnehmer war Douglas Mortifee, 17 Jahre alt, der – so ist zu vermuten- als Hilfslehrer für die Gruppe den Lehrer unterstützen sollte. Er überlebte, musste sich aber später den Vorwurf gefallen lassen, die erschöpften Kameraden im Stich gelassen zu haben. Warum der Lehrer – entgegen des Angebots des Postmanns Steiert – im Kappler Tal nicht umkehrte, sondern die Rettung der Gruppe im weit hinter dem Schauinslandskamm liegenden Dorf Hofsgrund suchte, ist bis heute unklar. Er behauptete vor dem Londoner Untersuchungsausschuss, diese Strecke sei kürzer gewesen als der Rückweg – eine krasse Fehleinschätzung angesichts der vor ihm liegenden Höhenmeter. Unter normalen aufsichtsrechtlichen und schulrechtlichen Bedingungen in Freiburg und London hätte dies als Ausrede nicht ausgereicht; er wäre zur Rechenschaft gezogen worden. Wolf Middendorf, damals Amtsgerichtsrat in Freiburg, stellte bereits 1978 in seinem ersten umfangreichen Artikel über das Engländerunglück (Freiburger Almanach, Illustriertes Jahrbuch, Freiburg, S. 103 – S. 109) die Frage: „Aus heutiger Sicht und im Abstand der Jahre mag man fragen, wie wohl die Behörden und die Justiz im „Dritten Reich" reagiert hätten, wenn es sich bei der Wandergruppe um katholische Schüler z. B. aus Berlin und unter der Führung eines Pfarrers gehandelt hätte. Die Überschriften der Zeitungen hätten dann nicht gelautet „Erschütterndes Unglück" oder „Die Tragödie auf dem Schauinsland", sondern wohl „Mit Halbschuhen und Kniehosen auf den Schneeberg" oder „Unverantwortlicher Pfarrer führt Jugend in den Tod". (…) Man hätte ihn der fahrlässigen Tötung angeklagt und ihm folgende Vorwürfe gemacht: zunächst, dass er vor der Wanderung sich nicht nach dem Wetter erkundigt bzw. sich nicht nach der Auskunft gerichtet habe“.

Dass diese juristische Aufarbeitung sowohl in Freiburg als auch in England unterblieb, ist den Zeitumständen zu verdanken. Sie versetzten den Lehrer in die komfortable Lage, seine Legende vom unvermeidlichen Schicksalsschlag weiterzuspinnen. Nach dem Abschluss der „Untersuchung“ des London Schools Council, bei der keine Augenzeugen außer ihm selbst und einem Schüler gehört wurden, wurde er von jeder Schuld freigesprochen und nahm wenig später seine Aufgaben an der Schule wieder auf. Bis zu seinem Tod am 3. August 1971 in Marlborough in der Grafschaft Wiltshire (mit 63 Jahren) unterrichtete er u. a. als Rektor an drei renommierten Privatschulen Südenglands. Es existieren keine Unterlagen darüber, ob er jemals die verhängnisvollen Fehler, die zum Tod seiner damaligen fünf Schutzbefohlenen führte, bedauert hat.

Die nationalsozialistische Propaganda verhindert die Aufklärung der Unglücksursachen

Die erste Nachricht vom Unglück am Schauinsland übermittelte der Lebensmittelhändler Bernhard Lorenz aus Hofsgrund – an seinem Laden hatten die ersten Schüler angeklopft – am Freitag abend um 22 Uhr 15 telefonisch dem Polizeiposten Kirchzarten. Lorenz ging zunächst von zehn vermissten Schülern aus und teilte wenig später (kurz bevor die Telefonleitung aufgrund des Sturms zusammenbrach) mit, dass nunmehr vier Schüler tot seien. Hauptwachtmeister Malter gab diese Nachricht an das Polizeipräsidium Freiburg (Polizeikommissar Malsch) weiter, der wiederum den zuständigen Landrat Dr. Gross davon in Kenntnis setzte. Zwei Motor-Ambulanzen mit entsprechendem Personal und ausgestattet mit Sauerstoff-Geräten wurden in Marsch gesetzt, die auf der Fahrt nach Hofsgrund in Kirchzarten den dort ansässigen Arzt Dr. Krieg und neben dem Hauptwachtmeister Malter auch seinen Kollegen Wachtmeister Ulrich mit seinem Schäferhund mitnehmen sollten, „der für das Suchen der Schüler hilfreich sein könnte“. Die ersten Nachrichten vom Tod am Schauinsland erreichten am Samstagmorgen via Fernschreiben von Freiburg aus die Gauleitung der NSDAP in Karlsruhe unter Gauleiter Robert Wagner; dieser wiederum informierte das Reichsinnenministerium und bat darum, sofort das Auswärtige Amt und das Propagandaministerium zu verständigen. Von hier war es nur ein kurzer Weg in die Reichsjugendführung der Hitlerjugend. Parallel dazu hatte die Freiburger Polizei dem Freiburger Korrespondenten der British United Press die ersten Einzelheiten des Unglücks plus die Namen der tödlich Verunglückten bekanntgegeben, so dass bereits die Abendausgaben der englischen Samstagsblätter vom Unglück berichteten. Jetzt setzte ein reger Telefonverkehr zwischen britischen Zeitungsredaktionen und dem Lehrer Keast ein. Seine Aussagen begründeten die Legendenbildung des „unvermeidlichen Unglückes“, als er am Sonntag, den 19. 4. 1936 in einem ersten Telefoninterview mit der Londoner Tageszeitung „The People“ die Ursache des Unglücks bekräftigte: „Niemand in England hat eine Vorstellung davon, was das für ein Schneesturm war. Das Wetter war schrecklich und kam völlig unerwartet“. In einem zweiten Telefoninterview ging er noch einen Schritt weiter: „Es war Gottes Wille (wörtlich: „An act of God“ d. V.) - es kann nichts anderes gewesen sein“, sagte er mit zitternder Stimme. Die Version vom unvorhergesehenen „Blizzard“ als Auslöser der Katastrophe wurde von Keast in der Folgezeit konsequent aufrechterhalten. Er ging sogar soweit, zu behaupten, die Gruppe sei mit Skiern unterwegs gewesen, was nachweislich nicht stimmte. Sehr schnell erkannte der Reichsjugendführer Baldur von Schirach – auch durch die schnelle Berichterstattung in England - die einzigartige Gelegenheit, für das Deutsche Reich aus dem Unglück politisches Kapital gegenüber England zu schlagen. Schon am Sonntag, 19. April sandte er folgendes Telegramm an den englischen Botschafter:

 

„Soeben erhalte ich die Nachricht von dem schweren Unglücksfall im Schwarzwald, der fünf englischen Jungen auf einer Wanderung durch Deutschland (was nicht stimmte – d. V.) das Leben kostete. Tief erschüttert bringe ich Eurer Exzellenz das herzliche und tiefgefühlte Beileid der gesamten deutschen Jugend zum Ausdruck. Ich habe den Leiter des Auslandsamtes der Reichsjugendführung, Gebietsführer Schultze, beauftragt, in meinem Namen und im Namen der deutschen Jugend einen Kranz am Orte der Aufbahrung niederzulegen und angeordnet, dass Hitlerjugend des Gebietes Baden an den Bahren der Toten eine Ehrenwache bis zur Überführung in die Heimat stellt.

Gez. Baldur von Schirach“.

Abb. 7:  Der Lehrer macht einen Ausflug mit der HJ an den Kaiserstuhl

Dem Lehrer Kenneth Keast konnte das nun folgende inszenierte Schauspiel des nationalsozialistischen Totenkultes bis zur Abreise der überlebenden Gruppe am Dienstag, 20.April nur recht sein. Während die fünf toten Schüler in der Einsegnungshalle des Freiburger Hauptfriedhofs aufgebahrt wurden (im Hintergrund die Hakenkreuzfahne einträchtig neben dem Union Jack) und die Hitlerjugend die „Ehrenwache“ hielt, ließ er sich mit den überlebenden Schülern auf Einladung der Freiburger NSDAP zu einem Ausflug an den Kaiserstuhl und nach Breisach fahren, um die Schüler „auf andere Gedanken zu bringen“.

Abb. 8:  Totenwache der HJ im Freiburger Hauptfriedhof.

Ein Fussballspiel wurde organisiert und Pressefotos wurden geschossen, die wiederum in allen britischen Zeitungen abgedruckt wurden, zum Beispiel unter der Schlagzeile: „Betrauert von zwei Nationen“. Der Totenkult erstreckte sich auf halb Deutschland: Neben der Parade der Särge zum Hauptbahnhof unter dem Geleit der nationalsozialistischen Formationen am Strassenrand, der Bereitstellung zweier Sonderwaggons der Reichsbahn, ausgeschlagen mit Schwarzwälder Tannenreisig, dem Fahnenschmuck und den Kränzen (u. a. einer des Reichsführers Adolf Hitler persönlich, wie englische Zeitungen bemerkten) war es vor allem das Ehrengeleit, das zwanzig Freiburger Hitlerjungen den Särgen und den Überlebenden bis zur Reichsgrenze in Aachen gaben, das Eindruck machte. An jedem größeren Bahnhof unterwegs waren Formationen der HJ angetreten, um die „toten Kameraden“ zu grüßen. Menschen warfen Süßigkeiten durch die Fenster, bemerkte Ken Osborne in seinem Tagebuch.

"Whitewash" von beiden Seiten - der Lehrer kommt ungeschoren davon

Diese „Show“ erzielte nicht nur unter den Überlebenden, sondern vor allem in der britischen Öffentlichkeit und darüber hinaus den gewünschten Propaganda-Effekt. Das Bild der „Ehrenwache“ wurde in fast allen führenden europäischen Tageszeitungen nachgedruckt. Angesichts dieser Inszenierung deutsch-englischer Freundschaft nimmt es nicht wunder, dass ein juristisches Nachspiel des Unglücks auch in England von höchster Stelle mehr oder weniger untersagt wurde. So schrieb der Chef der Konsularabteilung des Aussenministeriums, G.C. Allchin, im Vorfeld der Sitzung des Untersuchungsausschusses des Londoner Stadtrats vom 18. – 20. Mai 1936 an die Vorsitzende: „Unter den gegebenen Umständen schlägt der Generalkonsul (in Frankfurt- d. V.) vor und Mr. Eden (der Aussenminister d. V.) stimmt dem zu, sollte den gegenwärtigen Beschuldigungen gegen Mr. Keast keinerlei Wichtigkeit beigemessen werden“.

Abb. 10:  Während der Vater des toten Jack Eaton versucht, ein Verfahren gegen den Lehrer zu erstreiten....vergeblich

Staatsräson geht vor Aufklärung – es verwundert nicht, dass der Vater des ums Leben gekommen Jack Alexander Eaton mit seinem jahrelangen Bemühungen letztlich gescheitert ist, die Wahrheit über das Unglück ans Licht zu bringen, obwohl er alle Fakten vor Ort in Freiburg auf eigene Kosten zusammentrug und in einer Broschüre und in Zeitungen veröffentlichte.


Abb. 11:  John William Eaton, der sich nach dem Tod seines einzigen Sohnes in Jack Alexander umbenannte, starb am 23. Februar 1963 in London, ohne dass ihm Gerechtigkeit widerfahren wäre. Sei Widersacher Keast überlebte ihn um 8 Jahre 

Auch der Brief des Freiburger Oberstaatsanwalt Dr. Weiss vom 2. Mai 1936 blieb in der Londoner Untersuchung unbeachtet. Weiss war nach späteren Vernehmungen von Augenzeugen, die Keast gewarnt hatten, zur Einschätzung gelangt, dass es besser gewesen wäre, „wenn Herr Keast eine Landkarte im Maßstab von 1: 50.000 in Besitz gehabt hätte; diese Karte ist vom Schwarzwaldverein vorbereitet und herausgegeben worden. Im Besitz einer solchen Karte hätte er vielleicht früher zur Kenntnis genommen, dass die Richtung, die er in Richtung Schauinsland eingeschlagen hatte, nicht die richtige war, angesichts der vorhergesagten Wetterbedingungen und unter dem Blickwinkel seiner verfügbaren Zeit; er wäre vielleicht zeitig umgekehrt, statt den Versuch zu wagen, die Naturgewalten herauszufordern und ohne zu überlegen, dass er in seiner Verantwortung mit Kindern unterwegs war, die weder körperlich dazu fähig waren, noch adäquat ausgerüstet und bekleidet waren für eine Unternehmung unter solchen Bedingungen“. 

Abb. 9:  Die Bilder des Leichenzugs in Freiburg gehen um die Welt...

Letztlich hat sich die Mithilfe bei der Unterdrückung der Wahrheitsfindung durch die politische Einflussnahme des Foreign Office gegenüber Nazi-Deutschland nicht ausbezahlt - im Oktober 1938, als das von der Hitlerjugend am Ort der Tragödie erbaute „Engländer-Denkmal“ eröffnet werden sollte, wurde die Einweihung zunächst verschoben, dann ganz zu den Akten gelegt. Nach dem Münchner Abkommen war auch den Diplomaten klar, dass es in Kürze zum Krieg mit England kommen würde und als es dazu gekommen war, sah niemand in England mehr einen Grund, Freiburg zu verschonen. Das Engländerdenkmal steht allerdings immer noch am Schauinsland und kündet von einer Zeit, in der die Wahrheit nicht viel zählte.


Abb. 1:  Dokumentation, 2. Auflage, 2017.

  • Alle Zitate sind meinem Buch entnommen: Tod am Schauinsland (2021) Rombach Verlag Freiburg

Auch die Landesschau Baden-Württemberg hat darüber berichtet: Drama auf dem Schauinsland: Engländerdenkmal – was geschah 1936?.