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Zur Psychologie des Jugendalters

Kämme, Hörner und gesträubtes Haar - Zur Psychologie des Jugendalters im Hinblick auf den Ethikunterrichtt

Hiltrud Hainmüller

Wer Ethik in der Mittelstufe, in unserem Fallspeziell in den beruflichen Schulen, unterrichtet, stellt fest, daß dieses Fach gerade in didaktischer Hinsicht hohe Anforderungen an den Lehrer stellt. Kenntnisse in Philosophie, Belesenheit und Erfassen philosophischer Fragestellungen reichen nicht aus, wenn es darum geht, Schüler zu erreichen. Gerade im Fach Ethik können wir nicht umhin, die psychische Situation unserer Schüler sowie unseren eigenen Standort zu reflektieren. Kenntnisse der Entwicklungspsychologie und der Gruppendynamik erleichtern die pädagogische Arbeit und können die Phantasie zu wirksamen didaktischen Einfühlen freisetzen. Deshalb wird im Folgenden der Versuch unternommen, wissenschaftliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie in die Situation im Klassenzimmer zu übersetzen, verbunden mit einigen Überlegungen zur Didaktik des Faches Ethik.

»Ich bin nicht, was ich sein sollte, ich bin nicht, was ich sein werde, aber ich bin nicht mehr, was ich war.« [1]

Jörg B., Schüler. Jörg B., Schüler. Er stellt allen, die mal ein wenig finding sein wollen, das Lied "Warum" der Gruppe NorMAhl zur Diskussion.

Diesen Wandspruch schrieb sich ein Jugendlicher in einem Erziehungsheim über sein Bett. Treffender läßt sich wohl kaum die Umbruchsituation beschreiben, in der sich der Mensch im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein befindet. Er wirft die Frage nach seiner eigenen Identität auf, er beginnt, seine Persönlichkeit neu zu strukturieren.

Körperliche und geistige Entwicklung verlaufen beim einzelnen sehr verschieden. So haben manche Mädchen ihre Menstruation bereits mit neun Jahren, andere erst mit vierzehn oder fünfzehn Jahren.

Einige Jugendliche haben schon mit vierzehn oder fünfzehn die ersten sexuellen Kontakte, andere dagegen sind in diesem Alter eher zurückhaltend. Vom »Frühreifen« oder vom »Spätentwickler« zu reden, wie dies manchmal Pädagogen und Eltern (meistens über Kinder von anderen!) tun, wirkt gegenüber den Betroffenen diskriminierend. Oftmals versuchen Schüler innerhalb einer Klasse eine bestimmte Norm zu errichten, wobei Druck auf die ausgeübt wird, die »noch nicht so weit« sind.

Dem Lehrer obliegt es, demgegenüber eine Atmosphäre zu schaffen, die jedem ein Recht auf seine eigene Entwicklung und einen behutsamen Umgang mit sich selbst und anderen gestattet. Gerade die Unterschiedlichkeit in der Entwicklung erfordert Nachdenken über die jeweilige gruppendynamische Konstellation in der Klasse.

Das Jugendalter - eine zweite psychische Geburt

Kaplan bezeichnet das Jugendalter als eine »zweite psychische Geburt«, vergleichbar mit einer dramatischen Reise von der Kindheit in die Erwachsenenwelt, an die sich Erwachsene leider ungern und oft nur verschwommen erinnern. Verlorenheit und innere Leere gehören zu den Geburtswehen, die durchgestanden sein wollen, bis beispielsweise aus einem verunsicherten jungen Mädchen eine selbstsichere junge Frau geworden ist, die zu sich selbst und ihrem Körper ja sagt und sich selbst gut leiden mag. Was wir von außen bei Jugendlichen deutlich wahrnehmen können, ist die körperliche Entwicklung. Die sich im Jugendalter vollziehende geistig-seelische Entwicklung erfordert eine sensiblere Wahrnehmung.

Der »Abschied von der Kindheit«, d. h. die psychische Weiterentwicklung ist ein »mühsames Geschäft«, das niemals ohne Konflikte, Auseinandersetzungen, Krisen und Trennungsängste verläuft - völlig unabhängig davon, wie sich die Entwicklung eigener Identität beim einzelnen gestaltet, ob als massive Krise oder als harmonische Dynamik.  Während in der sogenannten »Latenzphase« (etwa vom 6. bis zum 12. Lebensjahr) die Kinderstubenmoral der Eltern vom Kind übernommen wird, bringt die Pubertät alles durcheinander.

»Der Triebdurchbruch der Pubertät lockert die vorher in der Familie gebildeten psychischen Strukturen und schaffe damit die Voraussetzungen für eine nicht mehr auf den familiären Rahmen bezogene Neustrukturierung der Persönlichkeit.« [2]

Der Triebdurchbruch wird als elementar, oft zunächst beängstigend erlebt. Alles wird in Frage gestellt, ist nicht mehr stimmig, eigene Entwürfe, neue Muster und Konstellationen werden ausprobiert. Der Jugendliche ist dabei der ständigen Polarität zwischen Verlangen (vor allem sexuellem Verlangen) und Autorität ausgesetzt. In diesen Jahren werden oft die Weichen gestellt, ob es einem Menschen gelingt, erwachsen in dem Sinn zu werden, daß er eine befriedigende Beziehung zum jeweils anderen Geschlecht entwickelt und darüber hinaus eine Urteilskraft herausbildet, die auch eine Wertschätzung anderer Personen der Gesellschaft ermöglicht, so daß er seinen ihm angemessenen Platz in der Gesellschaft ausfüllen kann. Strunk weist auf drei Entwicklungsschritte hin, die im Jugendalter vollzogen werden müssen und hier näher erläutert werden sollen.

Sexualität

Der Jugendliche ist vor die Aufgabe gestellt, »die triebhaften sexuellen Bedürfnisse in das eigene Seelenleben zu integrieren und in eine befriedigende und verantwortungsbewußte Rolle als Mann oder Frau hineinzuwachsen“. [3]

Die Rolle des Kindes, in der bisher vor allem die Eltern seine libidinösen Bedürfnisse, z.B. die nach Zärtlichkeit, befriedigt haben, muß aufgegeben werden. Dies bedeutet, daß seine durch die körperliche Reifung ausgelösten Phantasien und Bedürfnisse von den Eltern weggelenkt werden müssen auf andere Beziehungen und Personen. Jetzt erlebt der Jugendliche auch, daß er sexuelle Bedürfnisse bewußt durch sich selbst (Masturbation) oder durch Austausch von Zärtlichkeiten mit anderen Jugendlichen befriedigen kann. Der Jugendliche erlebt eine Phase, in der er stark auf sich selbst, seinen eigenen Körper und seine sexuellen Phantasien bezogen lebt:

»In der Tat kann die Masturbation in der Adoleszenz die Entwicklung vorantreiben, indem sie der noch im Werden begriffenen erwachsenen Person erlaubt, Anspruch auf ihren neuen Körper zu erheben und mit den komplizierten Vorgängen von genitaler Erregung und Abfuhr vertraut zu werden. Es ist eine Möglichkeit, den Körper von den Abhängigkeiten der Kindheit zu befreien. Indem sie sich den Liebkosungen und zärtlichen Blicken ihrer Eltern entzieht, lernt die Jugendliche, ihren Körper zu lieben und selbständig zu verstehen.« [4]

Edward Munk: PubertätEdward Munk: Pubertät.

Auf dieses auf sich selbst bezogene Erproben kann langsam eine intimer und intensiver werdende Beziehung mit einem andersgeschlechtlichen Partner folgen: »Die wichtigste Strategie im Kampf um die Ablösung von den Eltern besteht darin, das sexuelle Verlangen auf Personen außerhalb der Familie zu verlagern“. [5]

Daß gerade die Masturbation bei aller Aufgeklärtheit immer noch mit starken Schuldgefühlen behaftet und als Charakterschwäche angesehen wird, kommt u.a. schon dadurch zum Ausdruck, daß eines der am häufigsten gebrauchten Schimpfwörter unter Jugendlichen »du Wichser« ist.

Genauso verunsichernd wirkt die zeitweilige Unklarheit darüber, mit welchem Geschlecht man sich mehr verbunden fühlt. Schimpfworte wie »du schwuler Hund« oder »du Detlef« zeigen, daß sexuelle Phantasien wie in diesem Falle gegenüber Homosexuellen bei Jungen oft mit sehr großen Ängsten besetzt sind, wobei die Sexualisierung der Sprache, die zur Schau gestellte »Coolness« oft einen Selbstschutz darstellen. Die Tatsache, daß in Unterrichtsstunden jedes noch so harmlose Wort wie z.B. »Verkehr« oder »unberührtes Land« Anlaß zu sexuellen Assoziationen, Anspielungen oder Witzen gibt, kann einen Lehrer oft ganz massiv in Abwehrhaltungen drängen.

Jugendliche sind in ihrer Phantasie und in ihren Tagträumen stark mit ihrer Sexualität beschäftigt. Gerade diejenigen, die die stärksten Ausdrücke »draufhaben«, signalisieren oft den größten inneren Notstand. Mädchen sind in der Übergangsphase intensiv mit ihrem eigenen Körper beschäftigt. Oft sind sie von Zweifeln geplagt, ob ihr Äußeres den Ansprüchen anderer genügt. Wenige sind mit ihrem Spiegelbild zufrieden. Manche Mädchen schämen sich, weil sie schon sehr früh einen Busen haben, andere jammern darüber, daß der ihre zu klein ist. Vor allem die Angst, zu dick zu sein, nicht über die Idealmaße, wie sie die Illustrierten vorschreiben, zu verfügen, verfolgt Mädchen oft so sehr, daß ihr Denken zuweilen ausschließlich auf die vermeintlich mißratene Figur gerichtet ist. Jugendliche entwickeln - ihr Äußeres betreffend - eine regelrechte »ars erotica«, um zu zeigen, daß sie auf »der Suche« sind.

»Die Pubertät ist der Lenz der Kindheit, das Tor zum Erwachsenwerden. Traditionell und in der Natur ist es die »Paarungszeit« ... Das Leben fließt über von frischen Farben. Die Luft ist voller Lieder. Die Körper der Tiere weisen neues Zubehör auf, das auf die Jahreszeit hinweist: Kämme, Hörner, gesträubtes Haar, Federbüsche/, hochzeitliches Gefieder, Ziegen und Affen bekommen Bärte, das Glühwürmchen sein Liebeslicht. ... Die Tierwelt ist vollauf beschäftigt mit Liebespossen, Liebesrufen, Liebestänzen, der »ars erotica« des Frühlings. Die Jugendlichen stimmen in dieses Konzert ein, indem sie ihre Geschlechtsmerkmale übertreiben und modifizieren. Die Ars erotica der ganzen Menschheit schließt Körperverstümmelungen und Tätowierungen ein. Das Haar wird abrasiert, oder man läßt es so lang wachsen wie möglich.«[6]

Auffallende Kleidung, vielfältig gestylte und colorierte Frisuren, Stiefel, enge Lederhosen - nicht zuletzt der bereits in EU 1/93 besprochene Mützenkult- deuten darauf hin, daß man sich von den Erwachsenen deutlich absetzt, sich einer bestimmten Gruppe Jugendlicher zugehörig fühlt und sexuell aktiv ist oder sein möchte. In einer Schulklasse sind oft die verschiedensten Varianten vertreten: zur Schau gestellte Aggressivität, grell aufgemotzte Geilheit, zarter Rosenduft, aber auch schüchternes In-Sich-Zurückgezogen-Sein oder gehemmtes und eckiges Verhalten.

Gruppen und Cliquen, die sich anfeinden oder Druck auf nichtkonformistische Altersgenossen ausüben, spielen bei diesen Pfauentänzen eine nicht unerhebliche Rolle. Das Zurschaustellen des eigenen Stils ist eine Selbstinszenierung, die einem Entwurf zur Selbstwerdung gleichkommt. Ein Lehrer hat hier die Möglichkeit, sich über die Vielfalt zu freuen, auch wenn nicht immer sein Geschmack getroffen wird. Jeder Schüler sollte auch im Unterricht mit seinem Entwurf zu Wort oder »ins Spiel« kommen. Ethik bietet wie kaum ein anderes Fach die Gelegenheit, z.B. durch lnteraktionsspiele einen Prozeß in Gang zu setzen, bei dem Schüler lernen, sich selbst zu artikulieren, einander zuzuhören, statt übereinander herzufallen oder sich gegenseitig zu beschämen.

Zum Bereich der Sexualität gehört auch, daß Lehrer und Lehrerinnen selbst sexuelle Wesen mit einer erotischen Ausstrahlung sind. Daß sich Schüler in Lehrer verlieben, ist nicht ungewöhnlich; Dramatisierungen erscheinen unnötig. Für Winnicott, der diesen wenig beachteten Aspekt der Lehrer-Schülerbeziehung hervorhebt, hilft aus diesem Dilemma lediglich »das Verstreichen der Zeit« (teenage doldrums). Er meint damit die wenigen Jahre der Adoleszenz, »in denen kein Mensch einen anderen Ausweg hat, als zu warten, und zwar ohne zu wissen, was vor sich geht. In dieser Phase weiß das Kind nicht, ob es homosexuell, heterosexuell oder narzißtisch ist. Es hat keine festgelegte Identität und keine bestimmte Lebensweise, die die Zukunft formt und es sinnvoll erscheinen läßt, für ein Abschlußexamen zu arbeiten.«[7]

Unterschiedliche Pubertätsentwicklung Mädchen/Jungen Quelle: Remo Largo/Monika Czernin: Jugendjahre, München 2011 S. 354/355

Dem Thema Liebe gilt nach wie vor das Hauptinteresse Jugendlicher in dieser Phase. "When I look into your eyes" beginnt der melancholische Song »Novemberrain« der Gruppe Guns'n'Roses, der in der Beliebtheitsskala meiner Schüler weit vorne stand. Ich habe in mehreren Klassen eine sogenannte »Wertebörse« vorgelegt, die verschiedenste Werte enthielt. Die Schüler konnten sie in der Reihenfolge der für sie jeweiligen Bedeutung durchnummerieren.

An erster Stelle stand immer »Lieben und geliebt werden« sowie »gute Freunde haben« und »in Freiheit leben«. An den absolut letzten Platz wurde stets »einen festen Glauben haben« verwiesen. Jedoch kommen Jugendliche gerade mit dem Wert, den sie als den höchsten erachten, am wenigsten zurecht. Viele Schüler äußern ihre Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme zu anderen. Bei all unserer sexuellen Aufgeklärtheit gibt es für Jugendliche doch wenig geschützte Räume, in denen sie sich kennen lernen und ausprobieren können. Auch Gesprächsmöglichkeiten über Sexualität und Liebe sind rar.

Das Vorbild der Erwachsenenwelt macht Jugendlichen nicht gerade Mut. Über Fragen von Liebe, Freundschaft und Aufklärung im weitesten Sinne im Unterricht zu sprechen, erfordert viel Einfühlungsvermögen. Diese Themen sollten wir jedoch nicht als zu heiße Eisen verdrängen oder nur bei der entsprechenden Lehrplaneinheit behandeln und alles übrige den Psychologen der einschlägigen Jugendzeitschriften überlassen, sondern Schule als einen Lebensraum begreifen, in dem über diese elementaren Fragen reflektiert werden kann.

Autorität

»Die Ablösung von den primären Bezugspersonen - in der Regel Vater und Mutter- verbunden mit der Aufgabe, eine dem Erwachsenen angemessene Beziehung zu diesen zu entwickeln«, stellt nach wie vor eine der schwierigsten Aufgaben im Jugendalter dar.«[8] Jugendliche stellen fest, daß Eltern nicht die Götter darstellen, als die sie einst dem Kind erschienen sind. »Im Gegensatz zum Säugling und zum kleinen Kind, in deren Augen die Eltern vollkommene, allmächtige Wesen sind, wissen jugendliche sehr genau, daß Erwachsene nicht omnipotent sind Sie ahnen, daß sie vielleicht sogar genauso verletzlich sein könnten wie sie selbst.« [9]

Eltern werden einer kritischen Prüfung unterzogen, oftmals provoziert, herausgefordert. Manchmal fühlen sich Vater und Mutter zu Unrecht angegriffen, klagen über die mangelnde Dankbarkeit ihrer Kinder, fühlen sich in die Rolle des Geldgebers gedrängt. Eltern tun gut daran, die starken Stimmungsschwankungen, die Provokationen, die Kritik als notwendige Auseinandersetzung im Ablösungsprozeß zu begreifen, die auch den Jugendlichen den Durchbruch zu Eigenem erleichtert. Wenn nur vom Harmonieideal ausgegangen wird, hat der Jugendliche nichts, wogegen er sich abgrenzen kann, er bleibt eine Kopie seiner Eltern und somit von ihnen psychisch abhängig.

Zunge raus für die Schule...Zunge raus für die Schule...

Auch Lehrer werden einer Nagelprobe unterworfen. Es erstaunt immer wieder, wie genau Jugendliche Lehrer beobachten. Nicht nur das Äußere, die Kleidung, das Verhalten, das Wissen, - nein - die gesamte Lebenseinstellung ist für die Schüler von Interesse.

Jugendliche mögen es nicht, wenn ein Lehrer »dicht macht«, scheinbar nichts an sich herankommen läßt oder versucht, sich hinter seinem Fachwissen zu verstecken. Hierin liegt sicher auch ein Grund - allen kritischen Stimmen zum Trotz - für das hohe Ansehen, das der Fernsehlehrer »Dr. Specht« in Schülermeinungen genossen hat. Lehrer sind mögliche Identifikationsfiguren, an denen sich Schüler abarbeiten können.

Schüler haben dabei einen untrüglichen Instinkt für die Echtheit einer Person. Mit einem Lehrer, der sich auch als Reibefläche zur Verfügung stellt, wird direkter kommuniziert als mit einem, der sich nur anbiedert oder seine Fassade zur Schau stellt.

Zahllose Schüleraufsätze und Rollenspiele zeigen, wie unterschiedlich die Ablösung vorn Elternhaus erfolgt. Da wird um Freiheiten und Selbständigkeit gerungen, da werden Kompromisse geschlossen und neue Wege gefunden. Das eigene Zimmer, die Ausgehzeiten, der Freundeskreis, nicht zuletzt die Höhe des Taschengeldes spielen eine wichtige Rolle. Im Unterricht bietet sich eine gute Gelegenheit für Jugendliche, sich gegenseitig auszutauschen und auszuloten, welche Form der einzelne für sich selbst als annehmbar erkennen kann. Die in Gesprächen geäußerten Gefühlslagen Jugendlicher kreisen vor allem um drei Problembereiche:

Funktionsverlust der Familie

Die Familie ist oft nicht mehr in der Lage, Kinder in ihrem Übergang ins Erwachsenendasein zu begleiten. Strunk weist auf einen Funktionsverlust der Familie hin, der dazu führt, daß die Tragfähigkeit des Systems Familie für die emotionale Einbindung des einzelnen stark beeinträchtigt ist:

»Die Häufigkeit von Ehescheidungen mit den damit verbundenen Beziehungsabbrüchen und die Segmentierung der Freizeitgestaltung des Kindes: ein Wochenende Vater, ein Wochenende Mutter - sind weitere Beispiele, von denen eine beachtliche Zahl von Minderjährigen betroffen ist und Jugendliche betroffen werden, deren Eltern sich in der Adoleszenz scheiden lassen. Die Kinder sind Zeugen von neuen Partnererfahrungen oder der Partnersuche ihrer Eltern, die sich kaum von ihren eigenen Partnerproblemen unterscheiden.«[10]

Diese Probleme spiegeln sich im Klassenzimmer in Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen wider. Häufig werden am Lehrer Autoritätsprobleme ausagiert, die eigentlich den primären Bezugspersonen, dem Vater oder der Mutter, gelten. Es ist notwendig, sowohl im Interesse der Klasse insgesamt als auch im Interesse des einzelnen Jugendlichen, Grenzen zu ziehen, Spielregeln aufzustellen und darauf zu achten, daß diese auch eingehalten werden. Konflikte müssen ausgehalten und ausgestanden werden. Hier sind die Lehrer oft »überforderte Erzieher«, denn sie können Versäumnisse, die ihre Ursachen in anderen Bereichen haben, nicht oder nur schwer kompensieren. 

Bedeutung der Gruppe, Kontakt zu Gleichaltrigen, Vorbilder

In dem Moment, in dem die kindlichen »Allmachtsphantasien « in Bezug auf die Eltern hinterfragt und als falsch erlebt werden, geht ein Sicherheitsfaktor, der für das Kind notwendig war, verloren. Dies bedeutet für den Jugendlichen einerseits Verlust, andererseits bekommt er ein vitales Gefühl von Unabhängigkeit, indem er seine Fähigkeiten als eigenständige Person ohne den Einfluß der Eltern wahrnimmt. Dieses »Sich-Selbst-Kennenlernen« ist ein schmerzhafter Prozeß, in dem der Jugendliche sich psychisch und sozial neu konstituiert.

Er sucht sich Vorbilder in Heldenfiguren aus dem Kino, im Fernsehen; in Comicfiguren, Musikinterpreten und Sportler können alle Wunschvorstellungen hineininterpretiert werden. So werden z.B. Kleidung und Sprache imitiert. Diese Helden bieten auch deshalb eine günstige Identifikationsmöglichkeit, weil sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihre Stellung in sozialem Gefüge und moralischen Wertemustern gesellschaftlich eindeutig definiert sind (the good, the bad and the ugly).

Engel und Teufel - oft nahe beieinanderEngel und Teufel - oft nahe beieinander

Ein weiterer Aspekt der Identifikation besteht darin, sich in Gruppen von Gleichaltrigen zusammenzutun, um in und durch die spezifisch definierte und abgegrenzte Gruppe eine Identität zu finden. Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergibt ein Gefühl der wechselseitigen Solidarität und die Möglichkeit der Identifizierung mit gleichen Verhaltensmustern. Schwankend zwischen einem vernünftigen Erwachsenenverhalten und eher kindhaften Verweigerungsstrategien, sucht der Jugendliche nach solchen Gruppenzugehörigkeiten.

In einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige lnitiationsriten gibt, kreieren Jugendliche selbst Riten, um ihre Zugehörigkeit zur Gruppe und die Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt zu signalisieren. Die Palette kann vom »Komasaufen «, über Mutproben in Form von S-Bahn-Surfen, Joy Riding (in gestohlenen PKWs) bis hin zu okkulten oder sexuellen Praktiken reichen.

Alltagsrituale, Signalkulturen, Lebensstile

»Jugendliche phantasieren und inszenieren, was sie sein - oder auch nicht sein - wollen in Stilen und Ritualen .. « Dabei handelt es sich um eine phantasierende und auseinandersetzende Bewältigung von Realität, die eine Vermittlung zwischen »lebenssinnstiftenden Bemühungen « des einzelnen und seiner sozialen Umwelt ermöglichen. [11]

Dem Phänomen der beständig wechselnden Rangskalen von »In« und »Out« in Hinsicht auf Signalkulturen, Lebensstile, Kleidung etc. und entsprechenden heftigen Diskussionen in und außerhalb von Klassenzimmern stehen Lehrer oft abweisend, manchmal gar verächtlich, gegenüber. Der Verweis auf eine Generation, die von »born to be wild« zum »born to shop« [12] heruntergekommen ist, geht aber am Kern des Problems vorbei.

Lange,[13] der in einer neueren Untersuchung von der Vermutung ausgegangen war, daß sich in der Phase des Jugendalters Jugendliche zum Beispiel beim Kauf von Gütern »daran orientieren, inwieweit die Güter zur Selbstverwirklichung und zur Mehrung ihres Ansehens bei ihren Freunden und Bekannten beitragen«, mußte feststellen, daß die Ergebnisse der empirischen Befunde ein ganz anderes Bild ergaben: Jugendliche kaufen preis- und qualitätsbewußt und nur Güter, die ihnen gefallen. Der vorgebliche »Konsumismus« entpuppte sich als Abgrenzungsmerkmal gegenüber der festgezurrten Erwachsenenwelt, und in Hinsicht auf Rituale, Signalkulturen, Lebensstile liegen die Befunde ähnlich. 

Quelle: Remo Largo/Monika Czernin: Jugendjahre, München, 2011 S. 19Quelle: Remo Largo/Monika Czernin: Jugendjahre, München, 2011 S. 19.

Um einen emotionalen Zugang zur Innenwelt der Schüler zu finden, erscheint es unerläßlich, sich in den »Scenes« ein wenig auszukennen, denn gerade hier ist die Nahtstelle, die es ermöglicht, sich auf den Zwischenbereich von Phantasie und Realität der Jugendlichen einzulassen.

»Mitgehen«, ohne sich zum Spielball machen zu lassen, erfordert Offenheit und Risikobereitschaft im Sinne Korczaks:

»Das Leben macht Träume wahr; aus hundert Traumbildern des Jünglings stückelt es ein Standbild der Wirklichkeit zusammen.« [14]

Urteilskraft und Sinnfindung

„Die dritte Entwicklungsaufgabe besteht darin, »einen erheblichen Zuwachs an Erlebnisfähigkeit und die Erweiterung des Erfahrungshorizontes auch mit der Erfahrung einer umschriebenen persönlichen Freiheit zu bewältigen und dabei ein angemessenes Empfinden für die eigenen Möglichkeiten, aber auch Grenzen zu entwickeln. « [15]

An der Fragestellung der Möglichkeiten und Grenzen wird deutlich, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der die Chancen sehr ungleich verteilt sind. Vieles hängt vom Beziehungs- und Erziehungsangebot der ersten 12 Lebensjahre ab. Möchtest du statt Fußball lieber Tennis, Hockey oder Handball spielen, lieber Skifahren, Surfen oder Wildwasserfahren? Magst du lieber Klavier, Geige oder Saxophon spielen, mit Ton oder Holz arbeiten, einen Elektronikkurs besuchen oder doch lieber Spanisch als 3. oder 4. Fremdsprache lernen? - solche Fragestellungen finden sich im Elternhaus von Berufschülern wenig. Deren Interessen sind oft einseitig, weil ihnen nie etwas anderes in der Familie angeboten wurde.

Viele klagen darüber, daß sie eigentlich überhaupt keine Interessen haben. Wir stoßen immer wieder auf drei Begriffe, die die Gefühlslage eines Teils von Berufsschülern bezeichnen: Langeweile, die empfunden wird, wenn nach einem langen Schultag nur noch passiv konsumiert wird, Fernsehen, Video, Zigaretten, Bier. Neid auf die, von denen man meint, daß es ihnen besser geht, wie z.B. Gymnasiasten. Haß auf die, die einem angeblich die Früchte des Konsums streitig machen und die sich »nicht benehmen können« (so die Aussagen von Schülern), nämlich die Ausländer.

Es gibt aber auf der anderen Seite auch eine Minderheit von Jugendlichen, die gelernt haben, ihre Möglichkeiten »abzuchecken«, und die genau wissen, was sie wollen. Die Mehrheit jedoch scheint eher orientierungslos zu sein, so daß Lehrer die zwei Jahre nützen können, Begabungen und Interessen, die nicht unbedingt schulstoffgebunden sind, bei Schülern zu wecken und zu entwickeln, auch wenn die Barriere »keine Lust« vor ihnen aufgebaut wird.

Mir ist eindrücklich in Erinnerung ein Schullandheimaufenthalt, den wir für Schüler der zweijährigen Berufsfachschule (setzt den Hauptschulabschluß voraus) in Frankreich organisierten. Dort hatten die Schüler Gelegenheit, Selbsterfahrung über Körpererfahrung zu gewinnen. Beim Motocrossfahren, Paragliding, Höhlenwandern, Steilwandklettern und Brückenspringen konnten die eigenen Kräfte erprobt, aber auch Grenzen erfahren werden. Die sich anschließenden nächtlichen Gespräche, in denen die Erfahrungen ausgewertet wurden, erreichten eine Tiefe, die in der verhackstückten 45-Minuten-Stunde niemals erreicht worden wäre.

Der Zugewinn an Selbstbewußtsein und Vertrauen war sichtlich spürbar. Es gibt viele Berufsschüler, deren Talente brachliegen, was fatale Folgen haben kann: Wer im Jugendalter »nichts mit sich anzufangen weiß«, kann zu Suchtverhalten neigen oder sucht Bestätigung in Gruppen, in denen er sein Ausgeflipptsein mit anderen teilen kann, oder er wird zum »Hänger«. Schule kann auch hier nicht alles aufholen, dennoch ist es umso notwendiger, daß gerade im Ethikunterricht Möglichkeiten der Selbsterfahrung gegeben werden.

»>Der Jugendliche schlüpft zwar auch in verschiedene Rollen, er scheint sich aber im Gegensatz zum Kind nicht immer sicher zu sein, ob er nur die Rolle spielt oder ob er diese Rolle tatsächlich ist.“[16] Die Folgen: „Dies macht Jugendliche in einer ganz anderen Weise als Kinder von ihrer Umwelt abhängig und verletzlich und stürzt sie in ein Dilemma, das man in etwa so beschreiben kann: Zeigen sie, was sie eigentlich wollen und fahlen (vorausgesetzt, sie wüßten es so klar), dann müßten sie riskieren, daß sie es verlieren, weil die Umwelt und die Altersgenossen sagen könnten: >Das ist nichts<, das ist Kinderphantasie, das >bringst du nicht<, das ist >out<. Zeigen sie aber nicht und nirgends, was sie wollen und fahlen, dann haben sie keine Möglichkeit, zu prüfen: >Was von dem, was ich sein möchte, ist real, bin wirklich ich, ist das, was ich werden kann?<« [17]

Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Spielen, in denen sich Jugendliche selbst und in der Gruppe ganz anders, vielseitiger erkennen können, als dies in einem rein stoffgebundenen Unterricht möglich ist. Das Spiel erinnert an die Kindheit und wird deshalb oft begeistert aufgenommen. Organisieren kann man beispielsweise eine Spielrunde, in der jeder Schüler erzählen kann, was ihm schon mal passiert ist oder was er schon mal Außergewöhnliches getan hat.

Der Schüler darf dabei die Wahrheit sagen oder auch eine kleine Geschichte erfinden. Die Gruppe einigt sich anschließend auf eine Frage, die dem Schüler gestellt wird, um die Wahrheit zu ermitteln. Anschließend wird über wahr oder nicht-wahr befunden, danach nimmt der Betroffene Stellung. Dieses Spiel läßt viel Raum zwischen Phantasie und Realität, und man ist erstaunt, über welches sowohl sprachliche als auch emotionale und schauspielerische Repertoire die Schüler verfügen. Nach einer solchen Runde kennen alle Beteiligten einander und sich selbst besser.

Es gibt Schüler, die nur über Bilder und mit Bildern etwas von ihrem Lebensgefühl, ihren Sorgen, Ängsten, Freuden und Zuneigungen ausdrücken können. Gibt man ihnen im Ethikunterricht die Chance zu malen, finden wir zu Annäherungen an die individuellen und alterstypischen Problemlagen des Jugendlichen. Handlungsorientierung des Ethikunterrichts kann in vielfältigen Bezügen, die für das Jugendalter konstitutiv sind, verwirklicht werden: Besuche von Einrichtungen außerhalb der Schule, Expertengespräche, Berufsorientierung, Berufswahlfragen, Bundeswehr/ Zivildienst-Themen kurz, eine methodische Auswahl an relevanten Teilbereichen jugendlicher Entwicklung kann eine Verbindung von sachbezogenem und sozialem Lernen herstellen und die Entwicklung von Identität durch Horizonterweiterung befördern.

Wenn das Jugendalter eine Phase ist, in der der Mensch so flexibel ist wie vielleicht als Erwachsener nie mehr, muß auch die Frage der schulischen Flexibilität immer wieder neu gestellt werden. Es ist das Vorrecht von Jugendlichen, über neue Möglichkeiten des Zusammenlebens, Utopien und Ideale nachzudenken. Einerseits ist im Jugendalter eine vitale Offenheit für neue Ideen vorhanden, eine Bereitschaft, sich zu engagieren und sich einzusetzen, andererseits sind aber auch gerade Jugendliche in ihrer Offenheit ungeschützter und Gefährdungen ausgesetzt. Die Herausbildung eigener Maßstäbe findet heute unter veränderten historischen und kulturellen Bedingungen statt, unter denen sich mindestens zwei Schlüsselprobleme für das Jugendalter herauskristallisiert haben: 

Die Informationsgesellschaft erzeugt einen Zustand informierter Unwissenheit.

Jugendliche, die in der pubertären Entwicklung erstmals in der Lage sind, abstrahierend zu denken, Hypothesen, Konzepte und somit ein ihnen angemessenes Weltbild zu entwickeln, sehen sich vor ein ungeheures Erkenntnisangebot gestellt, das - über eine Flut von Medien vermittelt - über sie hereinbricht.

»Der enorme Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen wird mit Hilfe der modernen Kommunikationstechnik und der Medien rasch verbreitet. Dies geht nicht ohne Simplifizierungen vor sich, die einen Zustand informierter Unwissenheit produzieren, in dem es außerordentlich schwierig ist, Nutzen und Risiken wissenschaftlich- technischer Innovationen abzuschätzen. (...) Die informierte Unwissenheit schwächt rationale Realitätsprüfung und fordert emotional bedingte Orientierung, die für eine Politisierung günstig ist“.[18]

Hinter jeder beantworteten Frage in der Wissenschaft tauchen zehn neue ungelöste Fragen auf, so daß man in der Soziologie schon längst begonnen hat, von einer »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) zu sprechen. Diese Tatsache erzeugt einen Zustand »informierter Unwissenheit«, dem wir täglich auch und erst recht im Klassenzimmer begegnen. Das Fernsehen behandelt heute alle Probleme von »irgendwie« bis »irgendwo«. Vom Bericht über den Straßenkampf in Sarajevo im Stile von »reality-tv« bis zur seichtesten Talkshow, in der pseudo-öffentliche Diskussionen gepflegt werden, reicht die Palette der Kommunikationsmedien, die zu informieren vorgeben, in Wirklichkeit aber einen Müllplatz unzusammenhängenden Wissens produzieren. Dieses »Wissen« kommt als Second-hand-Wissen daher, das von sich aus kein Schüler vertiefen oder an der Realität überprüfen kann, das aber meinungsbildend wirkt nach dem Motto: »Je mehr vom selben, desto glaubwürdiger.«

Erosion einheitlicher Weltanschauungs- und Wertesysteme

Von der »neuen Unübersichtlichkeit sind sowohl Schüler als auch Lehrer - wenn auch in unterschiedlicher Weise - betroffen. Die Zeiten, in denen sich herrschende Verhältnisse mittels in sich geschlossener Ideologien kritisieren ließen, sind vorbei. Die Jugendlichen heute sind bereits in einem Klima aufgewachsen, in dem eindimensionale Erklärungsmuster und einseitige Ideologisierungen abgelehnt werden.

Auffällig ist darüber hinaus eine ausgesprochene Politikverdrossenheit sowie eine starke Abwehr gegen jede Form des Moralisierens. Dagegen muß man einen ungeheuren Lebenshunger bei Jugendlichen, den Wunsch nach gerechten Verhältnissen, den Drang zur Selbstverwirklichung in überschaubaren Gemeinschaften, ein ausgeprägtes Interesse an der Erhaltung bzw. Schaffung lebenswerter Umweltbedingungen sowie einen gewissen Komsumüberdruß konstatieren.

Gewiß finden sich diese Impulse nicht bei allen Jugendlichen, es gibt auch gegenteilige Entwicklungen. Dennoch sind hier Ansatzpunkte für den Ethikunterricht gegeben. Der Lehrer wird notwendig als »Dialogpartner“ im Sinne Klafkis, der einen Reflexionsprozeß ermöglicht, Distanzierungsfähigkeit einübt, sich aber mit Lösungsvorschlägen zurückhält. (Der größte Teil der Schüler reagiert allergisch auf Ideologisierungen.) Darin liegt eine große Chance, sachgebundener zu arbeiten.

Einige Konsequenzen für den Ethikunterricht in Mittelstufe und Berufsschule

Wenn wir davon ausgehen, daß sich im Jugendalter Identitätsbildung auf verschiedenen Ebenen vollzieht, dann ist diese eben nicht ohne persönliche Krisen möglich. Verschärfen wir in der Schule diese Krise? Tragen wir dazu bei, daß das jeweilige Drama sich noch zuspitzt, oder sind wir wache, einfühlsame Begleiter? Die psychologische Forschung hat mit einiger Verspätung erkannt, daß es nicht nur die vielzitierte »peer group«, die Gleichaltrigen sind, an denen sich Jugendliche orientieren, sondern daß Eltern, Freunde und Bekannte der Familie und eben auch Lehrer einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf Jugendliche ausüben. Die Schule verschärft die Identitätskrise; überfüllte Stundentafeln lassen nur wenig Spielraum für die Entwicklungsschritte, die hier ausgeführt wurden. Die Zielvorgaben der Lehrpläne liegen überwiegend - auch an der Berufsschule - im kognitiven Bereich. Ganzheitliches Lernen ist in der Schulpraxis immer noch ein Fremdwort.

Es ist aber gerade das Jugendalter, in dem der Mensch in allen seinen Sinnen angesprochen sein möchte und nach emotionaler Zuwendung hungert. Wenn im Jugendalter die Fähigkeit zum abstrakten Denken zunimmt, wird die Bereitschaft dazu nur über die Vermittlung einer direkten Betroffenheit, eines direkten Bezuges mobilisiert. Um Schüler begleiten zu können bei der Frage: »Wer bin ich, und wo will ich hin? muß man sie dort erreichen, wo sie stehen.

Begleiten kann man nicht als einer, der schon alles - womöglich besser - weiß, aber auch nicht als derjenige, der sich nie festlegen möchte. Zugang zu Jugendlichen zu finden, setzt Empathie (einfühlendes Verstehen) voraus. Dazu braucht es keine »Anbiederung« an Jugendliche im Sinne der Bewegung auf ihrer Ebene, in ihrer Sprache oder in ihrem »Outfit. Aber ihre Sprache, ihre Gefühlswelt und ihre Rituale, Signalkulturen und Lebensstile sollten uns nicht fremd bleiben. Einen solchen Zugang zu Jugendlichen wird man umso eher entwickeln, als man einen Zugang zu sich selbst hat, eine Wahrnehmung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung.

Als Vierzig- oder Fünfzigjährige befinden wir uns in anderen Lebensbezügen, die andersgeartete Probleme aufwerfen, als sie ein 14jähriger hat. Jung bleiben bedeutet in diesem Zusammenhang, dazulernen zu können, Überkommenes über Bord zu werfen. Das heißt auch eigene Schwächen zugeben zu können, eigene Störanfälligkeiten zu orten sowie sich auf Stärken und das Begeisterungsfähige in sich selbst zu besinnen. Gelegentlich darf man sich selbst die Zeit schenken, bewußt innezuhalten:

»Hin und wieder gibt es Ruhepunkte: Wenn eine Frau schwanger ist, wenn ein Neugeborenes aus dem Mutterleib in die Welt tritt, wenn ein Kind die Pubertät erreicht, wenn jemand heiratet oder jemand stirbt. Wir gehen zu Hochzeiten, wir gehen zu Begräbnissen. Wir beginnen etwas und stellen fest, daß es zu Ende ist. Wir schauen auf unsere Jugendjahre zurück, die hoffnungsvolle Zeit, als es möglich schien, den Verlauf unseres persönlichen Geschicks radikal zu verändern. Wir vergessen die Einsamkeit, die schmerzlichen Verluste, die narzißtische Angst,das Ringen mit dem Verlangen, die Qualen unseres ungebärdigen, unschönen, ungehorsamen Körpers. Wir erinnern uns verschwommen an die Wiederkehr der heftigen Leidenschaft, der Sehnsucht, die uns aus der einengenden Sicherheit der Kindheit herausführte.«[19]

Die Erinnerung an das eigene Kind in uns kann uns davor bewahren, philosophische Worthülsen vor den Schülern auszubreiten. Dieses Kind wird unseren Humor, unsere Phantasie und unser Einfühlungsvermögen freisetzen, um als Mitspieler und echter Dialogpartner wirken zu können.


Anmerkungen

[1] Erikson, E., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1971, S. 112.
[2] Erdheim, M., Zur Entritualisierung derAdoleszenz bei beschleunigtem Kulturwandel, in: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, Frankfurt 1982, S.80
[3] Strunk, P. Außenwelt - Innenwelt. Körperliches Befinden im Jugendalter, in: Blum, M./Nesseler, T. (Hrsg.): Psychische Umwelt - Körperliche Gesundheit, Freiburg 1992, S. 29.
[4] Kaplan, L., Abschied von der Kindheit, Stuttgart 1991, S. 244.
[5] Kaplan, a. a. O. S. 162
[6] Kaplan, a. a. O. S. 225
[7] Winnicott, D. W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt 1984, S. 320.
[8] Strunk, a. a. O. S.29
[9] Kaplan, a. a.O. S. 101
[10] Strunk, a. a. O. S. 33
[11] Müller, B., Rituale und Stile in Jugendkultur und Jugendarbeit, in: Deutsche Jugend 37/1989, München, S. 318.
[12] Vodde, Th., Von »born to be wild« zu »born to shop«, in: Jugend und Gesellschaft, Nr. 1/93, Hamm, S. 1.
[13] Lange, E., Jugend, Konsum, Konsummuster, Freizeitverhalten, soziale Milieus, Opladen 1991, S. 57.
[14] Korczak, J. Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 1989, S. 144.
[15] Strunk, a. a. O. S. 29
[16] Kannicht, A., Selbstwerden des J ugendlichen, Würzburg 1985, S. 241.
[17] Müller, a. a. O. S. 318
[18] Strunk, a. a. O. S. 31 ff.
[19] Kaplan, a. a. O. S. 411