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Hiltrud Hainmüller

Gute Welt – schlechte Welt, ich bin mitten drin

Gute Welt – schlechte Welt, sag wo soll ich hin?

So lautet der Refrain eines Rap, der von den Schülern unserer Klasse verfasst wurde. Vorlage zu diesem Refrain bildete ein Kunstwerk von Faizal und Nasrat , dem die beiden den Titel gegeben haben: Die gute Welt und die schlechte Welt Mit diesem Kunstwerk und Refrain haben die Schüler selbst auf den Begriff gebracht, was kenn-zeichnend für ihre Situation ist: das Leben zwischen verschiedenen Welten, in denen sie sich orientieren müssen. Sie haben dazu folgende Geschichte geschrieben:

 

Die gute und die schlechte Welt

Die gute Welt ist wie ein Garten. Ein Mann und eine Frau sitzen auf einer Bank im Garten. Im Garten ist es schön. Die Frau und der Mann sehen vor sich eine Mauer. Hinter der Mauer ist die schlechte Welt. Dort sind zwei Häuser. Es sind Gefängnisse. In den Gefängnissen sind zwei Menschen. Sie sind Gefangene. Sie sind nicht frei. Sie haben Hunger und Durst.

Die Frau in der guten Welt hat ein Buch in der Hand. Sie liest und lernt. In der guten Welt sind die Menschen glücklich. Sie gehen spazieren im Wald, sie helfen anderen Menschen, sie tanzen in der Disco, sie singen, sie lieben sich.

In der schlechten Welt sind die Menschen traurig. Sie sind nicht frei und weinen. In der schlechten Welt sind die Menschen böse, sie schießen, sie legen Feuer, sie kämpfen, sie sind aggressiv.

Die Menschen müssen sich entscheiden, in welcher Welt sie leben wollen.

Mit diesem Text ist ein von den Schülern selbst entwickeltes Instrumentarium entstanden. Entlang des Refrains kann seither die Wertedebatte über kontroverse Fragen geführt werden. Selbst-verständlich ist nicht für alle alles gleich gut oder schlecht. Die Schüler sind da sehr unterschiedlicher Meinung – es gibt nicht "den Afghanen, den Syrer, den Kurden"…, aber eben auch nicht "die Deutschen". Die eigene Stimme zu finden – sich artikulieren und mit anderen kommunizieren zu können – dazu leistet die Arbeit mit Bildern und kreativem Gestalten einen wertvollen Beitrag. Dies gemeinsam mit Schülern zu praktizieren, trägt dazu bei, dass sie sich selbst besser verstehen lernen und wir uns untereinander besser verstehen lernen – auch in den Ansprüchen, die wir aneinander stellen.

Der Philosoph Waldenfels wirft die Frage auf: „Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen und seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren und zu verleugnen?“ – Und wie könnte ein interkultureller Austausch aussehen, „der nicht nur auf einseitige oder allgemeine Aneignung hinausliefe.“ (Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006, S. 131). Das Kreativprojekt , welches wir mit der Klasse durchgeführt haben, war der Versuch einer Antwort.

„Um zu wissen, was man will, muss man zu zeichnen anfangen.“ (Picasso) – und „ Jeder Mensch ist ein Künstler.“ (Beuys)

Die Idee, dass Sprache sich entwickelt aus dem vorsprachlichen Bereich, verbunden mit Blicken, Gesten und Bildern, liegt der Idee des Kunstprojekts zugrunde. Die einzelnen Themenstellungen bauten aufeinander auf und erfolgten in einem Wechsel von Gruppen, Einzel- und Partnerarbeit.

Beim Händefries ging es zunächst darum, mit einander in Kontakt zu treten, möglichst alle sollten beteiligt werden, es sollte Spaß machen – das Ziel haben wir erreicht und doch waren wir schon gleich mitten in der Wertedebatte: Es fiel beim Betrachten des Frieses sofort auf, dass eine Hand mit den Farben der kurdischen Flagge mit einem Kreuz durchgestrichen war. Wir entschieden uns, diese „Anfeindung“ zu thematisieren, wobei wir nicht wussten, wer der Urheber war. Vorausgegangen war nämlich am Vortag des Projekts ein Konflikt innerhalb der Klasse. Ein Schüler aus Bagdad erklärte, er wolle nicht weiter mit einem kurdischen Schüler aus dem Nordirak in einer Klasse bleiben, weil dieser ständig gegen „Nicht-Kurden“ zu Felde ziehen würde („Ich hasse alle Araber.“). Zwischen beiden Schülern hatte es bereits ein Streitschlichtungsgespräch mit einem Dolmetscher gegeben, nach welchem sich beide die Hand gereicht hatten. Angesichts dieser Bemühungen bedeutete die durchgestrichene „kurdische Hand“ eine Störung, die wir nicht unbeachtet lassen wollten. Ich zeigte auf diese Hand und eine Reihe von Schülern äußerten sich mit Worten wie „nicht gut“ und „schlecht“, „falsch“. Ich fragte daraufhin, was wir nun tun sollen. Ein Schüler verwies darauf, dass man ein Herz anstelle des Kreuzes malen könne. Daraufhin applaudierten alle. Auf dem Wand-fries (das im Klassenzimmer hängt) ist jetzt das Kreuz mit einem Herz übermalt.

„Du bist gefragt“ war das darauffolgende Thema einer Einzelarbeit: Hier ging es um die Adressierung der ganz persönlichen Identität, Werte, Vorstellungen, Vorlieben. Wir haben bei dieser Arbeit das erlebt, was Waldenfels über die Begegnung mit dem Fremden schreibt: Es erstaunt uns, es verwundert uns: äußerst wichtige Symbole sind Fahnen und religiöse Symbole, die auf vielen Collagen zu finden sind; ebenso wird Verbundenheit mit Land-schaft und Tieren gezeigt, begehrte Konsumartikel sind Uhren und Autos. Obwohl die Schüler nicht gewohnt sind, nach ihrer individuellen Vorstellung gefragt zu werden, haben sie doch mit viel Eifer ihr je individuelles Blatt gestaltet und im Anschluss stolz präsentiert. Ich kann heute jeden Einzelnen in dieser frühen Arbeit wiedererkennen – auch das, was sich jetzt verändert hat, wie z. B. Hoffnungen, die zerplatzt sind. Für den Sprachunterricht waren diese Collagen immer wieder wichtig, um den Wortschatz zu erweitern und durch eigene Bilder auch Bedürfnisse sprachlich zu artikulieren. Ähnliches ereignete sich bei der Herstellung eines Einbandes für das Glückbuch. Worte wie Glück, Heimat, Herz, Blumen, Freude wurden „erarbeitet“.

„Ein Ort, an dem ich mich geborgen fühle“ war ein weiterführendes Thema. Es ging hier-bei um Sicherheit und Geborgenheit – eine Möglichkeit, einen inneren Ort zu finden, an dem es „gut“ ist in unsicheren Zeiten. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Objekte erin-nern zumeist an die alte Heimat: ein Schäferidyll mit Ziegen, Häuser mit einem eingezäunten Gehege, eine Henne, die ein Ei ausbrütet, usw. gleichzeitig ist aber auch ein Bild entstanden, das alles andere als Geborgenheit ausstrahlt. Zwei Mädchen haben es gemalt. Der Text heißt: „An alle Jesiden und Familien! Helft uns!“ Dass die beiden Mädchen in der geschützten Situation in der Klasse auf die-se Weise ein Stück ihrer Erfahrungen zeigen konnten, war ein wichtiger Schritt, der zeigt, dass sie sich wahrgenommen und angenommen fühlen.  Es ging jetzt um wichtige Worte wir: Freiheit, Gefangenschaft, Gefängnis, Geborgenheit, Hilfe.

„Eine Welt, in der ich leben möchte“ war ein Thema, welches wiederum eine Ausweitung bedeutete – vom Ort zur Welt. In diesem Zusammenhang sind Objekte entstanden, in denen sich bereits ein „Ankommen“, verbunden mit Zukunftsplänen zeigt: so gestaltet B. sein eigenes Cafe, A. und B. gestalten zwei farbige Gebäudekomplexe – einer mit Fahne, der andere mit der Aufschrift „Aldi Süd“ – davor ein rauchender Mann, denn innen drin darf man nicht rauchen. Auch „gute Welt, schlechte Welt “ ist zu diesem Thema entstanden. Die Landschaftsanteile enthalten immer Spuren der alten Heimat, aber auch Neues wird sichtbar und Spannungen werden thematisiert. Ein Schüler zog sich in eine Ecke zurück und malte seine ganz persönlich Erinnerung an den Jahrestag des Genozids (3. August 2014) , der an den Jesiden vom IS verübt wurde. Er hat das Bild eine Zeitlang in der Klasse aufgehängt und auch gelegentlich darüber etwas erzählt – nach einer Weile hat er es abgehängt und mit zu sich nach Hause genommen.

„Dein Baum – unsere Landschaft“ ist eine Verbindung von Einzel- und Gruppenarbeit. Jeder malt individuell einen Baum – gemeinsam wird eine Landschaft gestaltet. An dem hier entstandenen großen Wandgemälde zeigt sich deutlich die Verbindung zwischen verschiedenen Welten. In dieser Landschaft gibt es einen magischen Zauberwald mit jesidischer Fahne, Blumen und Vögeln – am anderen Ende einen Park mit Kreisverkehr – beide Teile verbunden mit Straßenbahnschienen, Wegen, einem Fluss. Es gibt ein Bild von der Walther-Rathenau-Schule und einer Fabrik, dazwischen spazieren Kamele, Wölfe und anderes Getier – natürlich immer dabei: der jesidische Pfau Melek Taus.

Abb. 1:  Die Bäume wurden analog zu dem Händefries zu einer Landschaft zusammengefügt, die jetzt im Klassenzimmer hängt.

Im Sprachunterricht hatten wir viel Spaß bei der Bildbeschreibung und es entstanden kleine Geschichten zum Thema „Reisen und Ankommen“. Aber auch verstörende Spannungen bleiben nicht aus. Ein Schüler, der sehr gut zeichnen kann, malte die Krone seines Baumes als das Gesicht einer schönen Frau mit wunderschönen Locken und einem sinnlich geschwungenen Mund. Ein anderer Schüler (andere Nationalität) machte sich darüber lustig – es entbrannte ein Streit, der Beleidigte zog sich schmollend in die Ecke zurück. Alle Versuche, ihn zu bewegen, das Bild doch in der ge-meinschaftlichen Landschaft zu integrieren, blieben zwecklos. Er zerriss es schließlich – es wanderte in den Papierkorb und existiert deshalb nur als inneres Bild fort. Das war heftig – musste aber erst mal ausgehalten werden.


Abb. 2:  Rap zum Thema "Gute Welt-Schlechte Welt" 

„Gute Welt, schlechte Welt und ich bin mitten drin“: Eine Fortführung fand das Kunstprojekt in der Freiburger Jazz- und Rockschule. Die Schüler sollten sich ein Thema wählen, zu dem sie ein Lied gestalten sollten. Sie entschieden sich für „gute, Welt, schlechte Welt“. Dieser Vormittag wird mir und ihnen in unvergesslicher Erinnerung bleiben. Wir verfassten gemeinsam den folgenden Rap, studierten ihn ein und die Schüler hatten darüber hinaus die Gelegenheit an Mikrofon und Lautsprecher eigene Lieder aus ihrer Heimat zu singen. Das war anrührend und wir würden uns wünschen, häufiger Gelegenheit zu solchen Stunden zu haben. 

Identitäten adressieren – Spannungen thematisieren und aushalten

Professor Joachim Bauer (vielen Lehrern inzwischen bekannt) äußerte kürzlich in einer Diskussion über den Umgang mit jugendlichen Flüchtlingen Gedanken, die ich hier paraphrasiert wiedergebe: Es gibt neue neurowissenschaftliche Daten, die zeigen, dass die Selbst-Netzwerke und die Netzwerke früher oder sehr naher Bezugspersonen nicht komplett, aber in hohem Maße identisch sind. Dies bedeutet, dass die frühen Skripte viel tiefer in die persönliche Identität eingraviert sind, als wir das im Allgemeinen denken. Der Anspruch „kulturelle Integration“ ist nach Bauer ein unangemessener Anspruch. Unsere Aufgabe besteht darin, die Identität jedes Schülers zu adressieren und ausdrücklich zu sagen, dass wir diese nicht ändern wollen. Und er entwickelt die These, dass es zwei Identitäten gibt: Eine, die hier Schutz sucht und finden will und Dankbarkeit empfindet. Und eine zweite, die uns hasst und verachtet und die den Wunsch hat, uns für das Leid zu strafen, was in den Herkunftsländern vor sich geht (und oftmals uns projektiv zugeschrieben wird). Die dadurch entstehenden Spannungen sollten angesprochen und reflektiert werden. Wir müssen sie auch aushalten können, weil es keine vorschnellen Lösungen gibt.Dass die Gemälde und Objekte sowohl in ihrer Entstehungsphase durch begleitende Gespräche als auch in der nachträglichen Betrachtung durch Beschreibungen, Wortfelderweiterungen, Verfassen kleiner Erzählungen etc. den Spracherwerb voranbringen, liegt auf der Hand. Der Vorteil liegt darin, dass dabei die jeweilige Identität tatsächlich adressiert werden kann und Spannungen auf verträgliche Art und Weise thematisiert werden können. Wir stoßen dabei auf bedeutsame Worte, Werte, Blicke und Gesten und die komplexen Zusammenhänge von Kommunikation überhaupt.
Bedeutsame Worte, Werte, Blicke, Gesten

Eingangs wurde erwähnt, dass wir durch den Kunstunterricht ein Instrumentarium für kontroverse Diskussionen erworben haben. Das wird besonders relevant in Situationen, in welchen wir gerade nicht die Dankbarkeit, sondern die Verachtung zu spüren bekommen. Diese äußert sich meist unterschwellig, kann aber auch massiv geäußert werden. In ihrer Wirkung ist das zuweilen ganz so, wie es Waldenfels beschreibt: verstörend, man fühlt sich wie vom Blitz getroffen oder zumindest schwer verunsichert.

Blick –
Verstörend ist für mich, wenn mir jemand die Hand gibt und den Blick dabei senkt oder sogar abwendet. Inzwischen weiß ich, dass viele meiner (vor allem männlichen) Schüler so erzogen sind, dass es als Zeichen des Respekts gilt, den Blick nicht direkt auf den Erwachsenen zu richten, wenn man mit ihm spricht. Wenn sie sich mir gegenüber so verhalten, zeigen sie, dass sie für ihr Verständnis „gut erzogen“ sind. Nun gilt es in unserer Gesellschaft geradezu als unhöflich, den Andern nicht anzuschauen, keinen Blickkontakt aufzunehmen. Wir haben das in den ersten Wochen des Unterrichts häufig thematisiert und geübt, weil es an dem Punkt ja offensichtlich ist, dass der Schüler sich ins gesellschaftliche Abseits begibt, wenn er nicht lernt, umzuschalten. Da ich mit meinem Mann gemeinsam in der Klasse unterrichte, konnten wir auch deutlich zeigen, dass an diesem Punkt Gleichheit zwischen Mann und Frau besteht – Übungen zu verschiedenen Begrüßungsritualen haben viel Freude ge-macht. Andere Länder, andere Sitten – das relativiert das Problem, lässt Abstand gewinnen und macht Mut, sich auf das Neue einzulassen. Dennoch haben einige Schüler immer noch die Tendenz, zunächst zur Seite zu blicken, wenn sie mich morgens begrüßen – mein Mann fordert dann stets den „offenen“ Blick ein – ich lächle manchmal in mich hinein und freue mich, weil ich weiß, dass es ein Zeichen des Respekts für mich ist, wenn sie – wenn auch nur für einen kurzen, flüchtigen Moment – zur Seite blicken. Es ist Respekt, nicht Unterwürfigkeit. Mir fällt der Satz aus Nathan dem Weisen ein, der die Frage aufwirft: warum sollten die Kinder ihren Eltern nicht Glauben schenken? Ihre Eltern haben ihnen den Weg ins Leben gezeigt – soll das auf einmal schlecht sein? … Die Augen sind ein Spiegel der Seele und es gibt viele Facetten von Gefühlszuständen, die sich im Blick zeigen – diese Art des Wegsehens ist kein Ignorieren oder Verachten. Andererseits freuen wir uns auch nur über einen offenen Blick, nicht über einen zudringlichen oder herausfordernden. Eine Aufmerksamkeit für die Sprache des Körpers als Ausdruck seelischer Zustände zu entwickeln ist im Umgang mit dem Fremden nötiger denn je – denn es fehlen ja oft die Worte. Waldenfels verweist darauf, dass die unmittelbare Begegnung mit dem Fremden sich im vorsprachlichen Bereich ereignet und dass sich auch unser Antworten auf das, was uns als verunsichernd begegnet, aus Unbewuss-tem, Unreflektiertem speist und vor jeder Rede gerade im Blick und in den Gesten sichtbar wird.

Mac (gesprochen: matsch) –
bedeutet auf Kurmanci Kuss. Ich habe „mac“ wahrscheinlich als eines der ersten Wörter gelernt, weil es phonetisch einfach viel mehr einem herzhaften Kuss ähnelt als das deutsche Wort. Eine Schülerin musste während des Unterrichts aufgrund von Atemnot notärztlich behandelt werden (PTBS). Ich begleitete sie ins Krankenhaus und be-treute sie nach der Entlassung so weit, wie es notwendig war, um sie wieder halbwegs zu stabilisieren. Als sie nach diesem Ereignis wieder in die Schule kam, begrüßte sie mich mit 4 herzhaften „Wangen-mac“. Auch die anderen Mädchen wollten daraufhin so begrüßt wer-den und es ist jetzt üblich, dass ich jeden Morgen „mac“ verteile und erhalte – natürlich nur von den Mädchen. Diese Begrüßung ist immer ein besonderer Glücksmoment – er strahlt auf den Schulalltag über – wenn es gutgeht, hält er eine Zeit lang vor – und die Gewissheit, dass er sich am nächsten Tag wiederholt, gibt Gefühle von Sicherheit und Nähe. Zwischenzeitlich habe ich mich gefragt, ob da eine Grenze überschritten wurde – ich bin schließlich die Lehrerin – es entspricht nicht dem, wie ich mich anderen Schülerinnen gegenüber ver-halten habe – da gab es diese Art der Begrüßung, wenn überhaupt, dann erst nach dem Abi-tur zu besonders vertrauten – allerdings auch männlichen – Schülern. Ich bin für mich selbst zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich stimmig anfühlt, in der jetzigen Situation diese Begrüßung beizubehalten – sie hat sich so entwickelt, sie tut gut – die Schülerinnen sehen und lernen schnell, wo welches Verhalten angebracht ist. Zunehmend können sie auch so viel Deutsch, dass wir uns über spezifische Probleme von Nähe und Distanz unterhalten können. Seit ich in der VABO-Klasse unterrichte, denke ich noch mehr über Körperlichkeit, das Ge-dächtnis des Körpers nach – wie stark wird diese Seite in unserer Gesellschaft ausgeblendet! Ich denke dann, dass durch diese Jugendlichen in den Schulalltag „Werte“ eingebracht und eingefordert werden, denen in unserer Schullandschaft bisher zu wenig Platz eingeräumt wurde. So gesehen besteht eine große Chance, über Defizite im eigenen Land nachzudenken.

Herz –
Mehr als Symbol, denn als Wort – begegnet mir in unzähligen SMS, Zeichnungen, auf der Tafel – es ist zum Synonym für Gefühle überhaupt geworden – Gefühle des Glücks und der Trauer – lange bevor die damit verbunden Worte selbst beherrscht wurden. Das Herz ist eine so universelle Metapher, dass ich mich wundere, dass sie nicht häufiger – und auch schon zu Beginn – Eingang in die Sprachbücher findet. Die Wortfelder rund um den Begriff des Herzens sind genauso so lebensbedeutsam und wichtig wie Essen und Trinken, Namensgebung, Sprache und Nationalität, so dass sie meines Erachtens an den Anfang des Sprachunterrichts gehören. Das ist natürlich auch eine Wertsetzung, die davon ausgeht, dass die Gestaltung guter menschlicher Beziehung überlebens-notwendig ist – erst recht für Menschen, die oft völlig allein ohne engste Angehörige sind. Ihnen gegenüber ist die Aufmerksamkeit für Stimmungen und Gefühle von größter Bedeutung – auch, dass ihnen das Instrument der Sprache zur Verfügung steht, diese auszudrücken. Als ich den Schülern vor den Sommerferien die Aufgabe stellte, mir einige Worte aufzuschreiben in ihrer Sprache, die ihnen wichtig sind, da gab es viele Bilder mit Herzen, Worte der Zuneigung oder Trauer.

Abb. 3:  3. 8. 2014 Sindjal - Stop Yezidi Genocid - ein Volk weint um seine Angehörigen

Am 3. August wechselten alle Jesiden aus der Klasse ihre Profilbilder bei WhatsApp. Es waren nun zerrissene Herzen, Kerzenlichter, Augen mit blutigen Tränen zu sehen zum Gedenken an den Genozid, den der IS 2015 am jesidischen Volk verübt hatte. Wir schrieben allen Betroffenen aus den Ferien Nachrichten, dass wir an diesem Tag an sie denken und erhielten von allen Danksagungen. Ich hatte das Gefühl, das ein großer Wert darin zu sehen ist, sich mit der jeweiligen Geschichte der Jugendlichen und der Länder, aus denen sie kommen, zu beschäftigen und auch an den aktuellen Ereignissen Anteil zu nehmen, selbst wenn uns Vieles undurchschaubar ist – dem Verstehen sind Grenzen gesetzt, aber das Bemühen darum bringt einander näher. Trotz aller Bemühungen, Deutsch zu erlernen, sollte die jeweilige Muttersprache nicht marginalisiert werden. Es ist wichtig, dass sich die Jugendlichen auch in ihrer eigenen Sprache äußern dürfen und darin wahrgenommen werden – sie ist Teil ihrer Identität, und muss als solche geschätzt und lebendig gehalten werden.

Zumutungen – Die bevorstehenden Sommerferien sollten die Schüler nutzen, um durch Praktika Erfahrungen mit der Arbeitswelt zu machen und ins deutsche Sprachbad einzutauchen. Wir setzten alle Hebel in Bewegung, um Praktikumsplätze zu finden, wobei wir uns bemühten, den Wünschen der Schüler entgegenzukommen. Ein junger Mann wollte unbedingt in einer Autowerkstatt arbeiten. Wir wussten, dass ein Teil seiner Familie in einer anderen Stadt wohnt, wo er häufig die Ferien zubringt und fragten ihn ausdrücklich, ob er trotzdem das Praktikum absolvieren wolle. Es wurde eine Autowerkstatt gefunden, Bewerbungsunterlagen wurden erarbeitet, es fand ein von uns begleitetes Bewerbungsgespräch statt – alles schien in trockenen Tüchern. In der ersten Ferienwoche erhielten wir am Tag des geplanten Arbeitsantritts eine SMS vom Bruder des Schülers: M. könne nicht arbeiten, er habe ihn abgeholt, der Bruder solle die Ferien bei ihm verbringen. Wir waren daraufhin ziemlich verärgert – eine gute Chance war vertan, darüber hinaus hatten wir doch viel Zeit und Mühe investiert. Ich machte meinem Ärger in einer sehr ungehaltenen SMS an M. Luft. Daraufhin schrieb mir M.: „Bitte, bitte, sorry – ich nicht weiß, dass mein Bruder mich abholen.“ – Offensichtlich war hier der Einfluss der Familie stärker – er musste gegen seinen Willen auf das Praktikum verzichten. Ein solches Verhalten erzeugt Spannungen, die nicht einfach auszuhalten sind. Nachdem der erste Ärger verflogen war, konnten wir nach Rücksprache mit dem Betrieb erreichen, dass der Schüler das Praktikum jetzt während der Schulzeit absolvieren darf. Dennoch haben wir deutliche Worte zu Schuljahresbeginn gewechselt – es braucht jetzt ein wenig Zeit und auch Einsatz von seiner Seite, bis eine Balance wieder hergestellt ist. Moral speist sich nicht aus rigorosen Prinzipien, sondern entsteht im Prozess – das setzt Bewegungen von beiden Seiten voraus, wobei die ungeheure Asymmetrie, die hier besteht, mit bedacht werden muss. Vieles über die jeweiligen Hintergründe wissen wir nicht – Verlässlichkeit und Vertrauen sind auch hier ein zerbrechliches Gut. Ich sage ihm, dass ich mich mit ihm zum Lernen auf die Parkbank setze – eine Metapher, sich für „die gute Welt“ zu entscheiden, und dass er lernt, Autos zu reparieren, dass das bedeutet, etwas, das kaputt gegangen ist, wieder in Stand zu setzen.

Verstörende Worte –
Oftmals sprechen Schüler in ihrer Muttersprache miteinander, die weder ich noch teilweise andere Schüler in der Klasse verstehen. Manchmal sind das Witze oder hilfreiche Übersetzungen von Schülern, die schon besser Deutsch können, manchmal steht aber auch zu vermuten, dass abfällig über andere gesprochen wird. Auch das erzeugt Spannungen, die oft schwer auszuhalten sind und zu denen ich mich als Lehrer irgendwie verhalten muss. Ich weiß, unter welch enormem Stress man steht, wenn man eine Sprache nicht versteht, wie entlastend es sein kann, in einer solchen Situation mit Muttersprachlern zu kommunizieren, wie wohl es tut, dann Insiderwitze zu teilen. Andererseits führen abfällige Bemerkungen zu Verstimmungen und wenn man nicht genau einschätzen kann, was gerade läuft, ist die Atmosphäre getrübt. Eine oft gehörte Standardantwort ist: „Bitte auf Deutsch. Wir lernen hier Deutsch. Ich will kein Arabisch hören.“ Das ist eine der reproduktiven, repe-titiven Antworten, die sich als wenig ergiebig erweisen. Waldenfels rät zu einer responsiven Ethik, die gemeinsam mit dem Andern kreative Antworten findet. Ich versuche deshalb oft, an unseren Kunstunterricht anzuknüpfen, z. B. durch Fragen: „Was ist hier gerade los? – guter Spaß? schlechter Spaß – schlechte Welt? gute Welt?“ oder „Gibt es ein Wort, das ich jetzt mal auf Arabisch lernen sollte?“ Das ist eine Rückfrage in Anbindung an gemeinsame, positive Erinnerungen – ich frage auch manchmal: “Wer bist du gerade?“ oder „Wie fühlst Du dich? Sitzt du auf der Bank im Park oder im Gefängnis?“ – „Lernst du oder schläfst du?“ oder „Bist du jetzt gerade ein Kamel?“ (anders als bei uns konnotiert: nicht Dummheit, sondern geduldiger Lastenträger)

Erstaunliche Stille –
Gemeinsames Kochen war eines unserer ersten Projekte. Eine Mutter hatte sich bereit erklärt, als Küchenchefin das Kochstudio zu leiten. Gemeinsam wurde das Rezept erstellt, eingekauft und gekocht. Es gab ein leckeres kurdisches Mahl mit verschiedenen Gängen. Während der Zubereitung ging es hoch her, es wurde gelacht, gesungen, getanzt – die Stimmung war bestens. Sobald wir uns zum Essen niedergelassen hatten, trat Stille ein. Die meisten aßen voll konzentriert – einige betätigten nebenbei ihr Phone – aber untereinander wurde kaum kommuniziert. Ich war verwundert und fing mit einigen eine Unterhaltung an und auch mein Mann lobte das Essen und machte Späße. Ich bemerkte, wie die Mädchen anfingen mit Blick auf meinen Mann zu tuscheln. Ich fragte sie dann direkt – sie drucksten verlegen glucksend herum und unser arabisch sprechender Lehrer übersetzte mir dann den Inhalt: „Beim Essen spricht man nicht.“ Ganz offensichtlich waren die Mäd-chen verwundert, dass Hainmüllers beim Essen reden und dass Herr Hainmüller – den sie wirklich achten und schätzen – sich in ihren Augen so danebenbenimmt. Nun kennt man bei uns diesen Satz ja eher aus der schwarzen Pädagogik, die den Kindern beim Essen den Mund verbietet. Der Lehrerkollege (in Ägypten aufgewachsen) erklärte uns jedoch, dass viele Schüler gewohnt sind, beim Essen nicht zu sprechen, weil das Essen als etwas begriffen wird, was man bewusst zu sich nimmt – auch gerade als eine Art Pause von der sonstigen Kommunikation. Bei manchen Schülern habe das sogar einen religiösen Hintergrund. Auf jeden Fall erlebten wir mit unserer klischeehaften Vorstellung von „orientalischer Geselligkeit“ beim Essen eine ziemliche Bauchlandung. Wir waren regelrecht erleichtert, dass es gegen Ende beim Verzehr des Nachtisches wieder munterer wurde. Mir ist aufgefallen, dass es manch-mal auch etwas für sich hat, in Ruhe zu essen und dabei nicht behelligt zu werden – dennoch möchte ich Geselligkeit und anregende Tischgespräche keinesfalls missen.

Pause –
ist ein Lieblingswort, welches die Schülerinnen und Schüler ausnahmslos schnell gelernt und in seiner Bedeutung als etwas Notwendiges, Angenehmes, Beruhigendes, Schöp-ferisches verinnerlicht haben. Besondere Verhältnisse erfordern besondere Regelungen – und so folgen wir in der Gestaltung des Schulvormittags nicht dem üblichen 45 Minuten-Takt, sondern einem Rhythmus, welcher der Aufnahmekapazität (der der Schüler und der Lehrer, wohlgemerkt) Rechnung trägt. Wir können den unglaublichen Stress, dem unsere Schüler ausgesetzt waren und sind, nicht ermessen, aber wir können ihn erahnen und spü-ren, dass ein Zur-Ruhe-kommen, ein Abstandnehmen, ein Atemholen wichtige Werte im pä-dagogischen Alltag darstellen, ohne die die Aufgabe, Deutsch zu lernen, Orientierung zu schaffen, nicht bewältigt werden kann. Auch der Kunstunterricht ist eine Art der Pause. Er ist freiwillig, er geschieht nicht unter Stress, jeder kann alleine für sich oder mit anderen ge-meinsam arbeiten, es ist Zeit für Randgespräche. Es ist eine Zeit des Abstandnehmens und des Neuerfindens. Es gibt dabei kein „richtig“ oder „falsch“ – jeder Mensch ist ein Künstler.

Waldenfels bezeichnet die Pause als unabdingbar notwendig für den Umgang mit dem Fremden (womit nicht der „Ausländer“, sondern das allgemein Fremde gemeint ist, das wir auch alle in uns tragen), als „ein Aussetzen selbstverständlicher Annahmen, ein Abweichen vom Vertrauten, ein Zurücktreten vor dem Fremden. [...] Antworten auf das Fremde besagt mehr als ein sinnhaftes Verstehen, mehr als eine normengeleitete Verständigung, so wichtig dies alles sein mag. Interkulturelle Erfahrung verdünnt sich zu einem wässrigen Interkulturalismus, wenn sie nicht […] immer wieder `durch eine Pause geht.`“ (Waldenfels. S. 131) – so gesehen: ein verständliches Lieblingswort.

Referat, gehalten auf der Lehrerfortbildung für VABO -Lehrer an beruflichen Schulen, Oktober 2016