Weltbilder des Mittelalters
Am Beispiel des Freiburger Münsters in fünf Stationen
Bernd und Hiltrud Hainmüller
Vorbemerkung
Das Münster "Unserer Lieben Frau" ist ein weithin sichtbares Wahrzeichen der Stadt Freiburg. Für die Bewohner Freiburgs ist der gotische Bau jedoch mehr als nur Touristenattraktion, auf die man zu Recht stolz sein kann. Im Mittelalter errichteten Menschen solche überdimensionalen Bauwerke, um zu zeigen, dass Gott für sie die wichtigste Person in ihrem Leben war. Die Baumeister damals wollten vieles von dem, was sie glaubten und hofften, sich in Stein vor Augen stellen. Dazu wurde der Bau mit Zeichen und Symbolen versehen, mit denen mittelalterliche Menschen den Glauben lehren und lernen wollten. Ohne die großen Kirchen des Mittelalters würde unseren Städten das Schönste fehlen. Sie beeindrucken nicht nur als Meisterwerke der Kunst, sondern sie sind zugleich Zeugnisse einer Lebensanschauung, Denkweise und Glaubenswelt, die sich jedoch nicht von selbst erschließt. Heute ist es interessant, diese Zeichen verstehen zu lernen und sie für unsere Zeit neu zu deuten. Solange man die Zeichensprache und Symbolik des Mittelalters nicht versteht, sind Kathedralen für manche zwar imposant, aber schnell langweilig. Es öffnet sich aber eine ungeahnt reiche Welt, Vertrautes kann mit neuen Augen gesehen werden, wenn man sich die Bedeutung mittelalterlicher Kirchenbauten erschließen kann. Vor allem aber erschließt sich ihr verborgener Sinn. Es wäre schade, wenn solche phantastischen Bauten wie das Ulmer Münster, der Kölner Dom, der Dom zu Speyer und Worms,- die Beispiele ließen sich leicht vermehren, von Schülern, also auch Mitbewohnern der jeweiligen Städte oder ihres Umlandes, unverstanden in unseren Städten stehen würden. Im Rahmen des Ethikunterrichts führen wir zum Thema Weltbilder des Mittelalters gemeinsam regelmäßig Führungen rund um das Freiburger Münster zum Thema: „Weltbilder des Mittelalters“ durch.
Warum? Weil dieses Bauwerk sehr viele Elemente enthält, die auch im Ethikunterricht in allen Klassenstufen behandelt werden. Man muss die Bilder nur zu „lesen“ wissen. Das soll im Folgenden an einigen Beispielen illustriert werden. Dabei beziehen wir uns weitgehend auf das Werk von Konrad Kunze: Himmel in Stein (1995).
Station 1: Der Turm
Station 2: Die Wächter über der Stadt
Station 3: Gemeißeltes Stadtrecht vor dem Hauptportal
Station 4: Innenraum – Symbolik in visuellen Medien
Station 5: Die Portale des Münsters – Welche Botschaften nehmt ihr mit?
Weltbilder des Mittelalters – in Stein gegossen
Das Freiburger Münster ist 116 m lang, 30 m breit und 116 m hoch. Der Baubeginn im romanischen Stil datiert aus dem Jahr 1200, zeitgleich mit dem Straßburger Münster, wo nachweislich dieselben Baumeister wirkten. Um 1220 – 1260 entsteht das frühgotische Langhaus, um 1330 ist der Turm fertig gestellt. Nach einem Wort des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt wird er „wohl der schönste Turm auf Erden bleiben". Er ist 116 Meter hoch – eine Höhe, die für mittelalterliche Menschen fast unvorstellbar war. Zwischen 1354 und 1515 wird der spätgotische Chor fertig gestellt und im Jahre 1513 – kurz vor der Reformation – wird das Münster geweiht. Es ist damit eines der wenigen mittelalterlichen Bauwerke, die tatsächlich am Ende des Mittelalters bezugsfertig waren. Und: Es war geplant als eine Stadtkirche – nicht als eine Bischofskirche, denn die Erzdiözese Freiburg existiert erst ab 1827. Deshalb war bei der Stadtgründung der Münsterplatz von der Bebauung ausgenommen worden (Abbildung 1). Ermöglicht hat diese rasante Fertigstellung die Tatsache, dass die Freiburger mit dem Hausberg Schauinsland Silberminen besaßen, die dem Rang einer heutigen Sparkasse gleich kamen: Versehen mit allen Münz- und Stadtrechten konnte man den Freiburger Rappen prägen und war damit immer „flüssig“ für den Weiterbau. Nähern wir uns jetzt dem Bauwerk in Stationen.
Station 1: Der Turm
Mittelalterliche Schriftsteller geben Türmen folgenden Sinn: Türme stehen aufrecht. Daher seien sie ein Symbol für den Prediger und für den Lehrer, die sich aufrecht für die Wahrheit einsetzen sollen. Am Ende des Turms steht, sozusagen als Krönung des Turms, die Pyramide. Sie ist mit ihrem durchbrochenen Maßwerk offen zum Himmel. Auf der Turmspitze steht eine steinerne Kreuzblume. Aber ein Kirchturm ist mehr als ein Turm, wenn man die christliche Symbolik des Mittelalters versteht. Dies zeigt nicht nur der „Goldene Schnitt“, der dem Bau zugrunde liegt (Abbildung 2). Der Münsterturm, schreibt der Münsterforscher Konrad Kunze, wird als das „Wanderzelt und die schwebende Stadt“ gesehen, entliehen aus den jüdischen Traditionen von Bundeszelt und Tempel. Das christliche Gotteshaus soll verstanden werden als Vollendung und Ablösung des Salomonischen Tempels und der Stiftshütte, auch Bundeszelt genannt, eines Heiligtums, das die Israeliten bei ihrer Wanderung durch die Wüste mit sich trugen. Bis heute haben viele moderne Kirchenbauten „Zeltcharakter“, um anzudeuten, dass auch das christliche Gottesvolk nur „Gast auf Erden" ist und immer auf Wanderung. Ein zweiter Bezug zur Pyramide ergibt sich aus der Offenbarung des Johannes in der Bibel, die als Beschreibung der Endzeit-Apokalypse für mittelalterliche Menschen Leitbild war. Nach der Offenbarung des Johannes spielt sich die Endzeit des Reiches Gottes in einer herrlichen Stadt ab. Das „neue Jerusalem" wird sich vom Himmel herabsenken, von unzähligen Engeln und Heiligen bewohnt, wie Edelsteine glänzend, mit hohen Mauern und zwölf Toren, über den Toren zwölf Engel. Lieder, Predigten und Inschriften hielten das ganze Mittelalter hindurch das Bewusstsein gegenwärtig, dass das Kirchengebäude auf diese himmlische Stadt vorausweisen sollte. „Wahrscheinlich sind die romanischen Dome deswegen so reich an Türmen, weil man auf diese Weise versuchte, die Himmelsstadt entsprechend abzubilden. Die Entstehung der gotischen Kathedrale, deren Bauweise den Eindruck von Schwerelosigkeit erweckt, mit ihren schwebenden Bögen (das ist die wörtliche Bedeutung des alten Wortes „Schwibbogen"), mit Glaswänden, deren Farbglanz Edelsteine imitiert, mit Gewölben, die wie ein Netz aus Herrscherbaldachinen anmuten, mit der Fülle von Figuren usw. hat man auf die Absicht zurückgeführt, die Himmelsvision aus der Apokalypse möglichst unmittelbar zu vergegenwärtigen“. Der Turm beherbergt auch die 16 Glocken, die als hörbare Zeichen den Alltag der Stadt regelten: Die älteste ist die „Hosanna“-Glocke aus dem Jahr 1258, sie wiegt 3290 kg und ist eine der ältesten erhaltenen Glocken in dieser Größe. Den Glockenklang der Hosanna kann man donnerstagabends nach dem Angelus, freitags um 11:00 Uhr (deshalb „Spätzleglocke“), samstagabends und an jedem 27. November hören – dem Tag, an dem durch einen britischen Luftangriff die Freiburger Altstadt – mit Ausnahme des Münsters in Schutt und Asche sank.
Station 2: Die Wächter über der Stadt
Zu den charakteristischen Skulpturen an gotischen Kathedralen und Kirchen zählen die Wasserspeier, die in Gestalt von Tieren, Menschen und Monstren an den Außenbauwerken waagerecht hervorragen. Am Freiburger Münster gibt es davon 91. Diese eigenartigen, zum Teil furchterregenden Wesen haben immer wieder zu unterschiedlichen Deutungen geführt. Ihre eigentliche Funktion erklärt sich aus dem Begriff. Die Figuren „speien" das Regenwasser vom Bauwerk weg und schützen damit das Mauerwerk und die filigranen gotischen Dekorationen vor dem schädigenden Wasser. Verbreitet ist vor allem die Ansicht, dass man sich von ihnen eine „apotropäische" (griechisch: Apotropaion), d.h. eine die bösen Geister abwehrende Wirkung erhoffte: „Die an den äußeren Kanten des Bauwerks angebrachten Monstren, Drachen und Fabelwesen sollten ihre Artgenossen von dem christlichen Kirchengebäude fernhalten, indem man ihnen ihr eigenes schreckliches Spiegelbild vorsetzte. Eine solche magisch-abwehrende Kraft konnten auch die für unser Empfinden, hauptsächlich in Deutschland verbreiteten, „harmlosen" Wasserspeiertiere, wie Ziegen, Rinder, Hunde etc. haben, da nach mittelalterlicher Vorstellung Dämonen auch die Gestalt dieser Tiere annahmen. Außerdem sah man in ihnen bereits gebannte, zu Stein gewordene Dämonen, die in ihrer Verwendung als Wasserablauf zum Dienst an der Kirche gezwungen wurden und andere böse Geister abhielten“ (Abbildung 3).
Aber es gibt auch Wasserspeier, die gar keine sind, weil sie nur eine symbolische Bedeutung haben, da sie viel zu hoch am Turm angebracht sind, wie z.B. oben an den acht Ecken der Turmlaterne, kurz bevor der Helm ansetzt. Von unten schwer einzusehen sind sie Teil einer symbolischen Welterkenntnis, die für das mittelalterliche Weltbild typisch sind. Am höchsten Punkt der beginnenden Pyramide des Turms stehen die vier Engel, die die Posaune blasen zum Jüngsten Gericht. Es sind die endgültigen Wächter über die Stadt, genau so wie es unten in der Turmhalle im Hauptportal geschildert wird. Hier blasen vier Engel im Bogenfeld den Anbruch des Jüngsten Gerichts ein. Fast symbolisch zeigt die letzte Fotografie des Fotografen Röpke vom Vorabend des 27. November 1944 einen dieser Engel vor der unzerstörten Altstadt Freiburgs (Abbildung 4):
„Es ist im Nachhinein schwer zu sagen, ob die Wahl der Posaunenengel nur zur figürlichen Ausschmückung des Turms lediglich durch die Zahl von sieben verfügbaren Ecken veranlasst wurde oder in erster Linie etwa durch das Anliegen, an weithin sichtbarer Stelle auf das kommende Gericht über die sündhafte Welt und ihr Ende bei der Herabkunft der Himmelsstadt hinzuweisen.“
Die Vermutung liegt nahe, dass man mit Hilfe der „unechten Wasserspeier“ den Bürgern der Stadt mit symbolisch-drastischen Figuren klarlegen wollte, von was sie zu lassen hatten, wenn sie nicht zu den Verdammten für die Hölle gehören wollten: Zu denjenigen, die Opfer einer oder mehrerer der sieben Todsünden geworden sind. Sieben Sünden über der Stadt zeigen für alle sichtbar die sieben Todsünden, lateinisch abgekürzt als SALIGIA: Hochmut (superbia), Habgier (avaritia), Unkeuschheit (luxuria), Neid (invidia), Unmäßigkeit (gula), Zorn (ira), Trägheit (acedia).
Mittelalterliche Schüler prägten sich das ein, indem sie als Eselsbrücke aus den Anfangsbuchstaben der lateinischen Begriffe das Merkwort bildeten. Das Schema dient heute noch als Hilfe bei der Erforschung des Gewissens im Beichtspiegel. In drastischer Form werden diese Todsünden mit Figuren unterhalb der Posaunenengel – die dann das Jüngste Gericht einläuten – personifiziert: Welche bessere Verdeutlichung in Form von entsprechenden betroffenen Personen hätte man wählen können?
Die Figur an der Ecke nördlich davon stellt die Unmäßigkeit dar, versinnbildlicht in einem freßgierigen Schwein (Abbildung 5).
An der nächsten Ecke sieht man den Zorn in Gestalt eines Zwitterwesens, unten Löwe, oben Mensch (mit Judenhut), der den Mund weit aufreißt zum Schreien und sich voller Wut in die Haare greift (Abbildung 6).
Es folgt als Unkeuschheit eine nackte Frau, die „Venus von Freiburg" (Abbildung 7).
Der Neid an der nächsten Ecke ist verloren und wurde im 16. Jh. durch eine nicht in die Reihe passende Figur ersetzt.
Die Trägheit ist leider nicht erhalten.
Es folgt der Hochmut in Gestalt eines Ritters, tumb und eingebildet wie der junge Parzival, der noch nicht gelernt hat, dass auch ein Ritter sich im Dienst an anderen, nicht in hochmütiger Selbstsucht verwirklicht (Abbildung 8).
Zwei Ecken weiter kauert ein Mann mit fettem Gesicht und schwülstigen Lippen und umklammert ängstlich einen Beutel mit Geld: die Habgier (Abbildung 9).
Die Darstellung der sieben Todsünden am Turm korrespondiert unmittelbar mit den Trompeten, mit denen die Engel darüber zum Jüngsten Gericht blasen und der Fortsetzung des Jüngsten Gerichts im Bilderschmuck über der Eingangshalle des Hauptportals, das zeigt, was danach passiert: Die Waage, mit der die guten und die schlechten Menschen ausgewogen werden, nachdem sie aus den Gräbern auferstanden sind. Was also mit dem Ratschlag, die Todsünden zu meiden, beginnt, vollendet sich im Kircheninneren durch das Aufzeigen der klaren Konsequenzen, wie es am Ende aller Tage für jeden aussieht, ob er in den Höllenschlund getrieben wird, oder in den Himmel kommt (siehe weiter unten bei Station 4).
Station 3: Gemeißeltes Stadtrecht vor dem Hauptportal
Auch das Wirtschafts- und Rechtsleben wurde weitgehend durch den Kirchenbau reguliert. „ Beim letzten Läuten mussten Rechtsgeschäfte abgeschlossen sein, durfte nichts mehr verkauft werden, begann die Wachpflicht usw. Bürgerversammlungen wurden eingeläutet, die Zinsglocke mahnte die fälligen Abgaben ein, das Marktläuten setzte den Beginn des Geleitrechts für Kaufleute bei den Jahrmärkten fest usw.
Obwohl es schon in karolingischer Zeit Erlasse gab wie: „Keiner soll sich unterstehen, in der Vorhalle einer Kirche Urteile weltlicher Art zu fällen" (Erlass von 813), fanden Rechtsund Verwaltungsgeschäfte im Münster statt. Das Grafengericht verhandelte im Chor, vor allem Eigentumssachen; das Blutgericht bei schweren Kriminalfällen tagte bis 1641 in der Südostecke des Münsterplatzes (Abbildung 10).
Bis ins 16. Jh. wurden im Münster Versteigerungen bei Schuldfällen (Vergantungen) verkündet. Ob in der Turmhalle, die mit ihren steinernen Bänken dafür bestens geeignet gewesen wäre, Gericht gehalten wurde, ist nicht nachgewiesen. Jedenfalls wurde hier die öffentliche Kirchenbuße abgeleistet. Noch 1728 und 1734 ist bezeugt, dass die dazu Verurteilten (z.B. Ehebrecherinnen) barfuß und ohne Kopfbedeckung mit einer brennenden schwarzen Kerze in der Hand „auf dem obersten stafflen" (= Stufe) der Turmhalle vor aller Augen stehen müssten. Auf der Innenfläche der Strebepfeiler am Hauptportal sind unmittelbar vor den Augen des göttlichen Richters und der zwölf Apostel als Schöffen die Maße und Daten eingemeißelt, welche die Obrigkeit festsetzte. In der nahegelegenen „Langen Gaß" (heutige Kaiser-Joseph-Straße) fand der Markt statt, und jeder konnte hier nachprüfen, ob er redlich bedient worden war. An der Nordwand sieht man Höhe und Bodenfläche eines Getreidemaßes (Sester) und einen Korb (Zuber = Malter = 8 Sester), womit Holzkohle usw. gemessen wurde. Ein Eisenstab mit drüber eingeritzter Zoll-Einteilung (6,75 cm) gibt das Ellenmaß (54 cm). Auf der Wand gegenüber ist mit eisernen Marken der Klafter für den Holzhandel angegeben, 2,3 m breit, die Höhe (2,3 m) stimmt nicht mehr, weil heute der Fußboden höher liegt. Daneben Umrisse von Hohlmaßen, Ziegeln, Backsteinen, schließlich eine Inschrift mit den Terminen für die Jahrmärkte, die König Ruprecht 1403 der Stadt genehmigte“.
Station 4: Innenraum – Symbolik in visuellen Medien
1. Die romanischen Skulpturen
Im ältesten Teil des Münsters – dem romanischen Bau um 1210, – wurde wie in romanischen Kirchen üblich – die wesentlichen symbolischen Botschaften auf Friesen festgehalten. Davon existieren in der Nikolauskapelle des Münsters zwei bemerkenswerte: Die sog. „Freiburger Wolfsschule“ und der Greifenflug Kaiser Alexanders. Sie sind Unikate, die auch auf die im frühen Mittelalter noch vorhandene Mischung von frühen Formen der Anweisung zu christlicher Lebensführung, entnommen aus „heidnischen“ und „christlichen“ Motiven, hinweisen. Es braucht keine großen Worte und Erklärungen, um diese visuellen Medien als „Fernseher des Mittelalters“ in ihrer Symbolik zu deuten.
Die „Wolfsschule“ (Abbildung 11)
besteht aus drei zusammenhängenden Skulpturen, der die Fabel vom Wolfsunterricht zugrunde liegt: „Um einen Ausgleich für ihr räuberisches und gefräßiges Leben zu schaffen, beschließen Wolf Isenbart und seine Frau Herrat, dass ihr Sohn Isengrimm Geistlicher werden soll, und bringen ihn zur Klosterschule“. Auf dem ersten Teil des Frieses sieht man links, wie Isengrimm in einer Mönchskutte, mit Griffel und Buch in den Pfoten, vor seinem Lehrer steht, der eine Rute über der Schulter trägt. „Isengrimm soll das ABC lernen, wie es in großen Buchstaben über der Darstellung eingemeißelt ist. Aber die Aufmerksamkeit des Wolfs ist durch ein Schaf hinter ihm abgelenkt, nach dem er sich fletschend umwendet: „Sprich mir nach: A, B, C!" - „Meister, mir ist nach Lämmern weh!" heißt es in der Fabel. Rechts daneben sieht man, wie die Geschichte weitergeht. Der Wolf packt das Schaf, weder der Appell an seine Vernunft (der Lehrer zeigt ihm „den Vogel"!) noch die Rutenschläge können ihn davon abhalten.
Als Lehre heißt es am Schluss einer englischen Fassung der Geschichte: „So sind viele Mönche, die, statt zu beten, immer an guten Wein und volle Teller denken." Oder in einem Sprichwort: „Wenn der Wolf im Psalter lernt, sehnt er sich nach Schafen." Eine Warnung vor Heuchlern also: in der Bibel heißen sie „falsche Propheten", „die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind" (Mt 7,15)“ . Die Wolfsschule ist im europäischen Maßstab ein seltenes Exemplar der Verbindung zwischen Pädagogik und Schule. Lediglich die Kirche von St. Ursanne im französischen Jura enthält ein ähnliches Fries.
Auch die zweite Skulptur baut auf einer im Mittelalter weithin verbreiteten Geschichte auf: Der „Himmelfahrt“ Kaiser Alexanders (Abbildung 12).
„In einem Korb sitzt, kenntlich an seiner Krone, ein König. Der Korb hängt an einem Seil, dessen Enden zwei Greifen um den Hals gebunden sind. Der König hält jedem von ihnen einen aufgespießten Hasen vor den Schnabel, die Vögel schnappen danach und heben auf diese Weise den Korb mit dem König in die Luft. Es ist Alexander der Große, von dem die Sage berichtet, dass er nach der Eroberung der ganzen Welt sich auf diese Weise auch noch in den Himmel erheben wollte. Er stieg so hoch auf, dass er die Erde unter sich „wie einen kleinen Helm" im Meer liegen sah (Rudolf von Ems, um 1250).
Das Ende wird unterschiedlich erzählt. In einigen Fassungen zwingt eine Stimme vom Himmel den König, umzukehren. Er hält die Hasen nach unten, und die Greifen fliegen zur Erde zurück. Nach anderen Fassungen ist er freiwillig gelandet - und zutiefst enttäuscht: denn jetzt hatte er gesehen, wie winzig die Welt in Wirklichkeit ist, und es kam ihm sinnlos und lächerlich vor, sich auf ihre Eroberung eingelassen zu haben. Was diese kuriose Geschichte in der Kirche zu suchen hat, liegt auf der Hand. Alexander erscheint hier, wie auch in verschiedenen mittelalterlichen Dichtungen und Predigten, als abschreckendes Beispiel für menschlichen Übermut. Man kann, meint der Kirchenvater Ambrosius, schon am Klang des Wortes homo (= Mensch) ablesen, dass der Mensch aus humus (= Erde) ist, daher seine Grenzen habe und sich entsprechend humilis (= demütig) verhalten solle. Auch Alexander, dem die Welt zu klein war, blieben am Ende nur „sieben Fuß Erde, wie dem allerärmsten Mann, der je auf die Welt kam". In diesem Sinne predigt um 1260 Berthold von Regensburg: Alexander glaubte, „er könnte die allerhöchsten Sterne vom Himmel herunternehmen mit der Hand". Wie er, „so möchtest auch du gerne in die Luft fahren, wenn du nur könntest". Aber die Geschichte zeigt, wohin solche Hochfahrt (= Hoffart!) führt, und sie beweist, dass der große Alexander „einer der größten Dummköpfe war, den die Welt je gesehen hat".
2. Die Münsterfenster
Die Fenster wurden zwischen dem 13. – 16. Jahrhundert von den Handwerkszünften und Freiburger Patrizierfamilien gestiftet. Sie zählen neben den Glasfenstern des Regensburger Domes zu den kostbarsten mittelalterlichen Hinterlassenschaften, die im 2. Weltkrieg nur deshalb der Zerstörung entgingen, weil sie in die Minen des Schauinslandes ausgelagert worden waren. Die Fenster und ihre aufgebrachten Bilder hatten nicht nur die Funktion, dem Kirchenraum genügend Licht zu verschaffen, sondern sie künden auch von der Herrschaft der Zünfte und Patrizier in der mittelalterlichen Stadt: Jede Zunft stellte sich selbst und ihren Schutzpatron/in dar. Die von Patriziern gestifteten Fenster wie das Tulenhauptfenster stellen die weit verbreiteten Heiligenlegenden dar, die der Mönch Jacobus de Voragine um 1263 zusammengestellt hatte. Hierzu einige Beispiele:
a) Die Katharinenlegende
Das Fenster im nördlichen Seitenschiff, in dem man unten Brezeln und Spitzwecken sieht, wurde um 1320 von der Bäckerzunft gestiftet. Es erzählt die Legende der hl. Katharina, der vielseitigen Schutzpatronin der Bäcker, Gerber, Schuster, Barbiere, Wagner, Töpfer, Spinner, Seiler, Müller. Die gelehrte Königstochter aus Zypern war Christin geworden. Als Kaiser Maxentius ihre Glaubensgenossen in Alexandria zwang, ein Götterbild anzubeten, trat die Achtzehnjährige vor ihn und suchte ihn von dieser Forderung und dem Irrtum des Götzendienstes abzubringen. Der Kaiser war ihrer Klugheit nicht gewachsen und ließ fünfzig Gelehrte aus der berühmten Philosophenschule von Alexandria kommen, die Katharina widerlegen sollten. Nach lebhafter Diskussion gaben sie zu:
„Dieses Mädchen aber, aus welchem der Geist Gottes spricht - hat uns in so großes Erstaunen versetzt, das wir gegen Christus überhaupt nichts zu sagen wissen…Deswegen bekennen wir dir, Kaiser, mit Standhaftigkeit,: Wenn du nicht eine beweiskräftigere Ansicht über die Götter, die wir bis jetzt verehrt haben, vortragen kannst, siehe, dann bekehren wir uns alle zu Christus“. setzt uns in Erstaunen. Aus ihr spricht der Geist Gottes. Wir bekehren uns alle zu Christus".
Voller Wut warf der Kaiser seine Gelehrten in den Kerker (vor die Tür ist ein dicker Balken geschoben) und ließ ihr Gefängnis anzünden. Katharina bot er höchste Würden an, u.a. wollte er sie als Göttin in seinem Reich verehren lassen. Da sie sich weigerte, wurde sie aufgehängt und ausgepeitscht und danach in einen Kerkerturm geworfen. Durch einen Traum veranlasst, begaben sich nachts die Kaiserin und der Befehlshaber der Soldaten Porphyrius heimlich zu Katharina. Sie sahen den Kerker von wunderbarem Licht erfüllt und wie Engel die Wunden der Jungfrau pflegten. Katharina bekehrte beide zum Christentum und noch 200 Soldaten dazu. Sie setzte ihnen Kronen, welche ihr Engel gebracht hatten, als Andeutung ihres Martyriums auf: „denn in drei Tagen werdet ihr mit großen Ehren in den Himmel fahren" (Abbildung 13). In der Tat ließ der Kaiser, als er von der Bekehrung der beiden erfuhr, sie sofort enthaupten. Katharina sollte nun auf einem mit Eisensägen und spitzen Nägeln besetzten Rad gerädert werden. Auf ihr Gebet hin zerschmetterte jedoch ein Blitz das Rad, und ein furchtbarer Hagel erschlug die Henker. Außer sich vor Wut, befahl der Kaiser, Katharina zu enthaupten. Engel trugen ihre Leiche auf den Berg Sinai und bestatten sie dort, wo heute das Katharinenkloster steht, in einem Marmorgrab. Aus dem Grab begann Öl zu fließen, und viele Kranke, die es auf ihre Gliedmaßen rinnen ließen, wurden davon geheilt. Die Legende der - historisch nicht nachweisbaren - Heiligen war in Deutschland erst etwa im 11. Jh. bekannt geworden; aber schon wenig später zählte Katharina zu den meistverehrten heiligen Frauen des Mittelalters, den so genannten „Hauptjungfrauen", deren Attribute man sich mit folgendem Merkvers einprägen konnte: Barbara mit dem Turm, Margareta mit dem Wurm, Katharina mit dem Radl – sind unsre drei heiligen Madl.
b) Die Nikolauslegende
In den zwei äußeren Bahnen des Tulenhauptfensters (um 1320/30) werden die bekanntesten Wundertaten des heiligen Bischofs Nikolaus von Myra erzählt – u. a. der Schutzpatron der Kaufleute. Sie erinnern daran, wie Mitleid echte Wunder wirken kann. Oben links sieht man die Geschichte vom armen Mann, der in der Not seine drei Töchter als Dirnen zum Geldverdienen auf die Straße schicken wollte. Verzweifelt sitzt er in der Ecke. Nikolaus hört von seiner Absicht und wirft unerkannt in drei verschiedenen Nächten jedem der Mädchen durchs Fenster einen Klumpen Gold. Mit dieser Aussteuer finden sie schnell den Weg zu einer ehrbaren Ehe. (Abbildung 14) Darunter: Nikolaus erweckt drei ermordete und in einem Bottich eingepökelte Knaben wieder zum Leben. Die Vorgeschichte des Wunders wird verschieden erzählt. Nach einer Fassung hatte ein Vater während einer Hungersnot seine eigenen Söhne geschlachtet; nach einer anderen Fassung war es ein Wirt, der drei bei ihm eingekehrte Studenten ermordet hatte, um sie zu berauben, und sie zusätzlich noch zerstückelte und einsalzte. Rechts unten: Matrosen gerieten in Seenot. Sie beteten unter Tränen: „Nikolaus, Diener Gottes, wenn das, was wir von dir vernehmen, wirklich wahr ist, so mögen wir jetzt deine Macht erfahren“. Da erschien der Heilige und vertrieb mit seinem Bischofsstab den Sturmteufel aus dem Segel. Ein Jude (erkenntlich am „Judenhut“) hatte von der Macht des Heiligen gehört und sich eine Nikolausstatue anfertigen lassen, die seine Geldtruhe bewachen sollte. Doch Räuber stahlen in seiner Abwesenheit doch sein Geld. Zornig fiel der Jude über die Figur her und prügelte sie. Als aber die Räuber ihr Geld teilen wollten, erschien der Heilige und sprach: „Warum bin ich euretwegen so grausam gegeißelt und so schrecklich geschlagen worden? (...) Geht rasch hin und bringt die Diebesbeute zurück“. (…)So kamen die Räuber wieder auf den rechten Weg, der Jude aber nahm den Glauben an den Erlöser an.
c) Das Märtyrer-Fenster
Führt man Besucher zu diesem Fenster mit der Frage, welche Zunft es wohl gestiftet hat, kommen die meisten auf die „Zunft der Folterer“ (Abbildung15). Da es eine solche im Mittelalter nicht gab, muss eine andere Symbolik dahinter stehen. Tatsächlich zeigt es, wie die jeweiligen Namen darüber ausweisen, das Martyrium von 16 Heiligen, die für den Glauben gestorben sind:
- Anastasia wird das Haupt aufgemeißelt
- Papst Urban wird enthauptet
- Bischof Lambertus von Maastricht (Stadtpatron Freiburgs) wird beim Gebet ermordet
- Dorothea wird ausgepeitscht
- Sebastian wird mit Pfeilen beschossen
- Der Diakon Cyriacus wird gegeißelt
- Der Diakon Vinzenz von Zaragoza wird an einem Balken aufgehängt, man reißt ihm mit einer Zange das Fleisch von den Rippen
- Katharina wird enthauptet
- Ritter Georg wird auf ein Rad geflochten
- Bischof Ignatius von Antiochien wird den Löwen zum Fraß vorgeworfen.
- Dem Bischof Leodegarius von Autun werden die Augen ausgebohrt
- Margareta wird mit Fackeln verbrannt; man schneidet ihre Brüste ab
- Stephanus wird gesteinigt
- Papst Alexander wird auf seinem Thron erdolcht
- Papst Clemens (Nachfolger Petri) wird mit einem Mühlstein im Meer versenkt
- Laurentius wird auf einem Rost gebraten
d) Das Christophorusfenster
Der Schutzpatron der Schuster war der hl. Christophorus, der gleichzeitig der Schutzpatron der Reisenden ist. Sei Fenster zeigt ihn überlebensgroß mit dem Jesuskind auf den Schultern. Ursprünglich hieß der Heilige Reprobus (der Verworfene) hatte ein schreckliches Aussehen und war 12 Ellen – d.h. ca. 5-6 Meter groß! Den späteren Namen Christopherus (Christusträger) bekam er, weil er auf vier Arten Christus getragen hatte – am bekanntesten ist sein Transport des Christuskindes durch den Fluß mit einem Stab, aus dem später Laub und Datteln wuchsen.
Christophorus' Werke halfen die elementarste Angst der Menschen zu lindern: vor dem Tod, den er mit dem immer schwerer werdenden Christuskind auf den Schultern bei der Flussdurchquerung selbst vor Augen gehabt hatte. Dies sicherte Christophorus seit dem 13. Jh. einen Platz unter den beliebtesten Heiligen des Mittelalters: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben“ war eine alltägliche Erfahrung des mittelalterlichen Menschen, der sich vor Krankheiten, der Pest, dem Krieg, der Cholera etc. nicht schützen konnte und im Schnitt nur ca. 35 - 40 Jahre alt wurde. Es war tröstlich, bei dieser kurzen Reise des Lebens einen „Christofferus“ dabei zu haben.
Station 5: Die Portale des Münsters – Welche Botschaften nehmt ihr mit?
Das Wort Eingang (lat. Ostium) kommt von obstare (widerstehen) und ostendere (zeigen). Die verschiedenen Portale des Münsters, insbesondere der Haupteingang und der nördliche Chor-Seiteneingang, die sog. Hochzeitspforte, beinhalten beide Funktionen des Widerstehens und des Zeigens. Der Eingang „widersteht“ den Feinden der Kirche, v. a. dem Teufel und „zeigt“ gleichzeitig den Rechtgläubigen den Weg. Dem mittelalterlichen Menschen bedeutete das Kirchenportal auch ein Sinnbild der Tür zum Himmel, eine Art Übergang oder Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits, zugleich Eingang und Ausgang. Als Durchgang und Pilgerschaft verstand man das ganze Leben. Hierzu einige ausgewählte Beispiele am Hauptportal und den Türen des Münsters:
Hauptportal: Die Sieben Freien Künste
Der Haupteingang ins Münster führt durch das unterste Turmgeschoß. So bot sich die Möglichkeit, ihn nicht nur als Portal, sondern als Eingangshalle auszugestalten. Während die Darstellungen an der Stirnwand dem Eintretenden die Summe der göttlichen Heilstaten vergegenwärtigen, stimmen ihn die Gestalten an den Seitenwänden auf die rechte Haltung ein. Die ersten sechs Figuren (von rechts) an der Südseite verkörpern mit der anschließend um die Ecke stehenden Gestalt die sogenannten „Sieben Freien Künste", besser „Fächer" oder „Wissenschaften", denn es sind die klassischen Schulfächer, der Inbegriff damaliger Bildung. Die „Grammatik" (= Literaturunterricht) erkennt man an ihrer Rute. Ein braver Schüler sitzt vor ihr und liest eifrig, einen faulen zieht die Lehrerin an den Ohren. (siehe den Artikel "Die Entdeckung der Kindheit" auf dieser homepage) Neben ihr steht die „Dialektik". An ihrer Handgebärde sieht man, dass hier gelernt wird, logisch Beweise zu führen und zu diskutieren. Die „Rhetorik" daneben schüttet mit beiden Händen Goldmünzen aus, Symbol der kostbaren Fähigkeiten, die die Redekunst vermittelt (manch einer der heutigen Politiker und Fernseh-Entertainer weiß davon ein Lied zu singen. Die „Geometrie" erkennt man an Winkelmaß und Zirkel, die „Musik" an ihrem Glockenspiel, die „Arithmetik" (Mathematik) neben ihr trug früher wahrscheinlich ein Rechenbrett (jetzt irrtümlich durch ein astronomisches Instrument ergänzt), die „Astronomie" (um die Ecke) liest an einer Wasseruhr die Dauer der Sternbewegungen ab. Die Gruppe ist in Deutschland einmalig; an den Portalen französischer Kathedralen, in deren Schulen die 7 Fächer besonders intensiv studiert wurden, findet sie sich häufig. Obwohl man sich hier weitgehend mit Literatur und Wissensstoff aus der heidnischen Antike beschäftigte, galt das Studium dieser Fächer - vor allem im Hochmittelalter - als unerlässliche Voraussetzung zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift und der Inhalte des christlichen Glaubens. „Hat man die sieben Fächer wie fremde Länder durchwandert, gelangt man zur Heiligen Schrift, ins eigentliche Heimatland" (Honorius von Autun). Albert der Große war daher der Meinung, dass auch die Gottesmutter Maria die sieben Fächer beherrscht haben müsse. Von daher gewinnt die Hereinnahme der profanen Bildung („profan" heißt wörtlich: „vor dem Heiligtum") in die Vorhalle des Heiligtums ihren Sinn. Man findet aber, vor allem vor dem 13. Jh., auch andere Meinungen zum Verhältnis von Glauben und Wissen. Die ersten Christen seien keine Gelehrten, sondern einfache Fischer und Bauern gewesen. Ihnen habe die Lehre Jesu unmittelbar eingeleuchtet. In der Legenda Aurea heißt es, beim Jüngsten Gericht „wird es den Schweigsamen besser ergehen als den klugen Schwätzern, den Hirten und Bauern besser als den Gelehrten". Das „Glühen" mit dem Herzen ist mehr wert als das „Glänzen" mit dem Verstand, schreibt Bernhard von Clairvaux. Der hochgelehrte Bibelübersetzer Hieronymus träumte, dass Christus ihn tadelte, weil er leidenschaftlich gern die Schriften des heidnischen Redners und Philosophen Cicero studierte: „Du bist kein Christ, sondern ein Ciceronist!" Die Beschäftigung mit weltlicher Literatur und Wissenschaft lenke von den eigentlichen Aufgaben des Christen ab: „Flieh vor den Büchern, die weltliches Wissen vermitteln, dass du statt dessen die Heilige Schrift zu erfassen vermagst." (Othloh von St. Emmeram, um 1050).
Die „törichten“ und „klugen Jungfrauen“
In diesem Zusammenhang hat man gefragt, ob die Freiburger Reihe der sieben Fächer nicht mangels anderer Möglichkeit, sondern mit voller Absicht durch die Reihe der törichten Jungfrauen fortgesetzt werde (Abbildung 16).
Auf der anderen Wand stehen diesen beiden Reihen die klugen Jungfrauen gegenüber und fünf biblische Gestalten, die vielleicht insofern zusammengehören, als sie sich durch besondere Bereitschaft zum Glauben auszeichneten (oder, wie die klugen Jungfrauen, durch besonders intensives Warten auf das Heil): von rechts: die „Apostolin" Maria Magdalena und Abraham mit dem kleinen Isaak. „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen..., und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde...; aufgrund des Glaubens brachte Abraham den Isaak dar" (Hebr 11,8,17). Dann Johannes der Täufer mit dem Hinweis: „Seht das Lamm Gottes...; er ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist" (Joh 1,29f). Daneben eine Frau und ein Hohepriester, wahrscheinlich die Eltern des Johannes, Elisabeth und Zacharias. Werden dem, der das Münster betritt, hier Glauben und Wissen als zwei Wege gewiesen, die zusammen zum Eingang ins Heiligtum führen? Oder kommt es mehr auf ihre Gegenüberstellung an: Mahnung zur Glaubensbereitschaft, und Warnung, sich zu sehr auf die Dinge der Welt einzulassen und sich dabei in nutzloser Neugier töricht zu versäumen? Solche Gedanken waren im 13. Jh. selten, aber nicht vergessen.
c) Die Hochzeits- oder Schöpfungspforte (um 1360)
Das Relief im Bogenfeld des Portals und die Figuren in den Hohlkehlen der Portallaibung erzählen die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt und des Menschen – ein Schöpfungsbericht in Stein des Buches Genesis (Abbildung 18).
Das gesamte Schöpfungswerk ist in den Hohlkehlen des Portals dargestellt: Rechts oben sieht man Gott Vater mit zwei Kugeln: Himmel und Erde; gegenüber trägt Gott die Halbkugel des Firmaments (der 2. Tag); rechts folgt als zweites Bild die Erschaffung der Pflanzen und Bäume; links dann eine mit Sternen besetzte Halbkugel: die Gestirne; darunter folgen die Erschaffung des Adam, den Gott aufrichtet, an seinen Schultern hält und dann Eva aus seiner Seite zieht. Die letzten drei Szenen rechts unten sind besonders aussagekräftig: Gott schuf am 5. Tag die Fische im Wasser und die Vögel am Himmel; am 7. und letzten Tag ruhte sich Gott vom Schöpfungswerk aus. Aber noch ist das Werk nicht ganz vollendet: Gott segnet die erste Ehe ein, indem er Adam und Eva die Hände ineinanderlegt, damit sie sein Werk fortsetzen mögen. Das ist der mittelalterliche Eheschließungsritus, der damals nicht in der Kirche, sondern vor diesem Portal stattfand (daher bis heute der volkstümliche Name Hochzeitspforte). Wäre es dabei geblieben, befände sich die Menschheit immer noch im Paradies – aber die Schöpfungsgeschichte geht weiter – hier im Bogenfeld. Der Bildstreifen zeigt von links nach rechts zu lesen den Sündenfall (Eva reicht Adam den verhängnisvollen Apfel), die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies und ihr weiteres Schicksal – sie müssen von Stund an für ihr Überleben arbeiten. Konsequent sieht man Adam mit der Hacke, Eva beim Spinnen am Spinnrad und den kleinen Kain in der Ecke, der Wasser für sie schöpft. Aber auch im Himmel über ihnen geht es hoch her: Man sieht Gott-Vater auf einem Thron, von dem er den eigenmächtigen Luzifer in die Hölle hinabstößt, während der gute Engel Gottvater anbetet. Den Künstlern gelingt es mit dieser kompletten Schöpfungsgeschichte dem mittelalterlichen, des Lesens weithin unkundigen Kirchenbesuchern bei jedem Besuch zu verdeutlichen, warum das Leben ein Jammertal ist: Harte Arbeit als Strafe für die Vertreibung aus dem Paradies, das aber kommen wird, wenn man sein Leben lang glaubt, betet und die Kirche besucht.
d) Fürst und Fürstin der Welt (Turmvorhalle – Haupteingang)
Interessanterweise haben die Planer des Münsters nicht nur daran gedacht, dem Betreter des Kirchenschiffs klare Botschaften mitzugeben, sondern auch beim Verlassen des heiligen Raumes. An der rechten hinteren Seitenwand der Turmhalle stehen zwei Figuren, die häufig übersehen werden: Fürst und Fürstin der Welt – das Motiv findet sich auch am 200 Jahre älteren Basler Münster. Es ist eine fünffache Warnung, die beim Verlassen der Kirche ausgesprochen wird. Rechts außen warnt bereits ein Engel mit Spruchband: „Fallt nicht in Versuchung" (ne intretis [in tentationem], Lk 22,40). Die Versuchung tritt neben ihm in Gestalt einer schönen nackten Frau leibhaftig in Erscheinung (Abbildung 19).
Ihre Bosheit und Gefährlichkeit lässt sich aus dem Bocksfell ersehen, das sie über die rechte Schulter geworfen hat. Der Bock ist Sinnbild der Unkeuschheit, auf Böcken reiten die Hexen zum Blocksberg, Bockshörner, Bocksbart und Bocksschwanz kennzeichnen den Teufel als Verführer. Ihr zugewandt ist ein elegant gekleideter junger Mann, vornehm mit Handschuhen in der Linken; er betrachtet lockend und freundlich eine Blume in seiner Rechten, auch ins Haar trägt er Blumen geflochten. Sein Rücken jedoch gibt Einblick in sein wahres Wesen: er ist besetzt von Kröten, Gewürm und Molchen. Es ist Satan, der „Fürst der Welt" (Joh 14,30), eindringlich entlarvt als der „Betrüger von Anfang an". An der Figur zeigt sich, dass in der Welt der Wurm drin ist“. Ähnlich hatte der alternde Walther von der Vogelweide etwa 60 Jahre vorher, enttäuscht von Politik und Minne, die Welt beschrieben:„Solang ich dein Gesicht sah, warst du schön, /doch schauderhaft, als du den Rücken zeigtest" (nach Walther von der Vogelweide). Zur Lehre, die mit den beiden Figuren drastisch dargeboten wird, kommen zusätzlich zwei Spruchbänder rechts und links ins Spiel, die dem Kirchgänger auf den Weg nach Hause (oder ins Wirtshaus) mitgegeben werden: „Wacht und betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt“ und: „Geht nicht hinaus (nolite exire)“ zu ihnen, den falschen Propheten, den falschen Menschen, den Ungläubigen. Dasselbe Ensemble des falschen Fürsten findet man auch am Basler Münster, ein Beleg dafür, dass die Steinmetze jener Zeit immer wieder auf bekannte Motive zurückgreifen.
e) Judas und der betende Teufel
„Eine Summe der Taten Gottes“ bezeichnet der Kirchenhistoriker Kunze zu Recht den Leitgedanken des Hauptportals. Den mittelalterlichen Künstlern ist es hier gelungen, das gesamte Alte und Neue Testament, die komplette Heilsgeschichte in der Vorhalle, den Hohlkehlen und dem Bogenfeld zu visualisieren: 209 Figuren schildern die Geschichte von Gott und der Welt. 36 fast lebensgroße Skulpturen, 64 kleinere Steinplastiken und 109 einzelne Figürchen über dem Portal (Abbildung 19). Im Zusammenhang mit der Frage der dahinter stehenden Weltbilder ragt eine Person im Bogenfeld besonders hervor: Die des Judas, dem Verräter Jesu. Er wird dargestellt, aufgeknüpft an einem Baum mit der linken Hand, in der rechten Hand fallen ihm die Goldstücke aus der Hand, sein Bauch ist aufgerissen und die Gedärme hängen heraus. Er stirbt also nicht nur einen Tod durch Aufhängen, sondern einen zweiten durch die herausbrechenden Gedärme. Es gibt in der Tat zwei Versionen von Judas' Tod: Als Judas sah, dass Jesus zum Tod verurteilt wurde, bereute er seinen Verrat, brachte die 30 Silberlinge den Hohepriestern zurück, die sie aber nicht wieder annahmen. Da warf er das Geld in den Tempel, ging weg und erhängte sich. In der zweiten Version kaufte Judas sich vom Lohn für seine Untat ein Grundstück; dann aber stürzte er kopfüber, platzte auf, und alle Eingeweide traten heraus. „Damit wollte der Künstler nicht nur die beiden biblischen Berichte vereinen und den Verräter besonders abschreckend enden lassen. Die Legenda Aurea erzählt, dass Judas seine Seele - man sieht sie in der Abbildung oben im Baum als nackte, von Teufeln aufgespießte Gestalt - nicht durch den Mund aushauchte. Vielmehr fuhr sie nach der elsässischen Fassung der Legende „zu dem Afftern us", nach der lateinischen Fassung aus dem Leib, der deswegen aufplatzte. „Denn eine so scheußliche Seele durfte nicht durch einen Mund heraus, der Jesus mit einem (wenn auch verräterischen) Kuss berührt hatte (Abbildung 20).
Und es war recht, dass seine Eingeweide, aus denen der Plan zum Verrat aufgestiegen war, herausplatzen mussten und die Kehle, die den Verrat gesprochen hat, zugeschnürt wurde." Mit diesem doppelten Tod ist sein Schicksal beim Jüngsten Gericht schon vorgezeichnet – seine Seele ist bereits bei den Teufeln und das von Selbstmördern generell, denn nach christlicher Überzeugung hat niemand das Recht, Hand an sich zu legen. Direkt über der Figur des Judas erheben sich die Toten aus ihren Gräbern und werden jetzt der Waage des Jüngsten Gerichts zugeführt. Hier kommt es zu einem Ringen zwischen dem Erzengel Michael und den Teufeln, die versuchen, die Waagschale zu ihren Gunsten zu senken – ein Teufel hat sich an die Waagschale der schlechten Taten gehängt, ein anderer diskutiert mit Michael um seine Seele und weil dieser standhaft bleibt, ringt der Teufel enttäuscht die Hände (Abbildung 21).
Diese fälschlicherweise als „betender Teufel“ bekannte Figur hat aber eigentlich genügend Kandidaten für den Höllenschlund beisammen. Man sieht sie – mit einer Kette um den Hals verbunden – wie sie von einem weiteren Teufel in den Abgrund gezerrt werden. Das Jüngste Gericht macht keine Unterschiede zwischen den Ständen, denn an der Kette hängt ein König, zwei Bischöfe, ein Raubmörder – ein bunter Querschnitt durch die mittelalterliche Gesellschaft. Und alle werden „gerichtet“. Dass sich auf der anderen Seite der Waagschale die Guten versammeln und freudestrahlend und schön gewandet der ewigen Seligkeit zugehen – dieses Ziel hatte jeder Besucher der Kirche täglich vor Augen.
f) Die Arbeit als Chance und Strafe
Das Münster hält mehrere bildliche Ebenen des Doppelgesichts von Arbeit als Chance, aber auch als quälende Last bereit. Der mittelalterliche Mensch musste sich entscheiden, ob er zu der einen oder anderen Deutung eher hinneigte. Zwei eklatante Beispiele des Dualismus von „Arbeit“ sind das schon erwähnte Hochzeitsportal (am Ende muss hart gearbeitet weerden) und das Schauinsland (Bergleute) - Fenster im Innenraum.
Selbstverständlich sind Bilder von Arbeiten wie Schweine schlachten, Heu mähen, Korn säen usw. nicht immer und nicht nur in so weitreichenden symbolischen Be-zügen zu sehen. Sie konnten auch einfach als Ermahnung aufgefasst werden, die Arbeit nicht zu vernachlässigen. Auch in der Bibel wird öfter zur Arbeit gemahnt. Besonders die Sprüche „Salomos" stellen sie als gottgewollte Aufgabe hin. „Wer bei seiner Arbeit faul ist, ist schon ein Bruder des Verderbens", oder: „Du sagst: nur noch ein bisschen schlafen, ein wenig schlummern, ein bisschen Hände-Ineinanderlegen, um zu ruhen - und schon kommt über dich die Armut wie ein Strolch" (Spr 18,9; 6,10). Paulus schreibt den Christen in Saloniki, als einige von ihnen in Erwartung eines nahen Weltuntergangs ihre Arbeit liegen ließen: „Haltet es für Ehrensache,... mit eigenen Händen zu arbeiten, dass ihr euch vor den Aussenstehenden nicht blamiert und auf niemanden angewiesen seid" (1 Thess 4,11).
Wenn die Trägheit als eine der sieben Hauptsünden gilt, darf man das allerdings nicht missverstehen; denn Trägheit meint damals nicht, dass man zu wenig arbeitet, sondern dass man zu wenig betet; dass man aus der Sattheit oder Betriebsamkeit des Alltags keinen Aufschwung zu religiöser Besinnung sucht. Je nach der Umgebung, in welcher Darstellungen der Arbeit im Kirchengebäude auftreten, wird diese anders bewertet. Im Hochzeitsportal erscheint sie als Strafe für die Sünde in ihrer ganzen Härte und auch Erfolglosigkeit, wenn Adam, aus dem Paradies vertrieben, als gealterter Mann mit sorgenvoll gerunzelter Stirn den Boden bearbeitet, wenn Eva spinnt und Kain Wasser schöpfen muss: „Der Ackerboden soll verflucht sein wegen dir. Mühsam sollst du dich von ihm ernähren alle Tage deines Lebens" (Gen 3,17).
Recht ergiebig scheint dagegen die Arbeit im Bergwerk, eine der Haupteinnahmequellen im mittelalterlichen Freiburg. In den unteren Feldern des Schauinslandfensters sieht man Bergleute mit ihren Schutzhelmen, bei Fackelschein in der Silbergrube arbeiten. Darunter steht: „Dis gulten die froner ze dem schowinslant" (Dies stifteten die Bergleute bzw. Bergbauunternehmer am Schauinsland - übrigens die erste Erwähnung dieses Namens für den Freiburger Hausberg).
g) Physik im Freiburger Münster
Selbst für physikalische Erkenntnisse ist das Münster geeignet: die Messingeinlassungen unterhalb der Turmspitze. Unterhalb des Glockenturms sind im Boden zwei Messingpunkte eingelassen. Der größere befindet sich geometrisch gesehen unmittelbar senkrecht unterhalb der Turmspitze des Glockenturms. Der kleinere Punkt ist der, an dem ein Gegenstand auftreffen würde, wenn man ihn direkt von der Spitze des Turmes fallen lassen würde. Die Diskrepanz (etwa 3,2 cm) zwischen dem geometrischen Punkt und dem Aufschlagspunkt entsteht durch die Erdrotation.
Zusammenfassung
Das Münster kann – als Gesamtwerk gesehen – noch weit über die dargelegten Stationen hinaus als „Unterrichtsmittel“ verwendet werden. Station 6 könnte sich zum Beispiel um die Funktion des „Hungertuchs“ drehen, das in der vorösterlichen Fastenzeit den Altarraum verhüllt. Weltliche Bezüge (=Funktionen) als Station 7 des Münsters sind u.a. auch die Uhr, die Maße und Gewichte vor der Vorhalle, die Prangersäule). Station 8 wäre im Außenrundgang um den Chor die Frage nach „Pfusch am Bau“. Station 10 wäre der Münsterplatz (Friedhof, Markt). Sowohl durch einen Bezug zwischen den weltlichen Dingen der Stadt (Recht, Maße, Glocke, Uhren) und den geistlichen Dingen war das Münster immer Mittler zwischen Religion und Welt, was im Mittelalter nicht zu trennen war. Mithilfe vieler eingebauten Bezüge (Wasserspeier, Portale, Fenster, Vorhalle) wurde versucht, dem mittelalterlichen Menschen mit allen damals zur Verfügung stehenden Mitteln die Bibel zu erklären, ihn an die Einhaltung der religiösen Gebote zu erinnern und mit z.T. drastischen Mitteln vor Augen zu führen, dass niemand dem Tod, dem Jüngsten Gericht und der Wägung der guten und schlechten Taten entgehen kann. Der Kirchenbesucher bekommt das Böse „frei Haus“ geliefert und soll sich von den Versuchung und Verlockungen fern halten. Zum rechten Weg gehören arbeitsames Streben, das Einhalten des Rechtes, die Anerkennung der göttlichen Ordnung und der Autorität der Mutter Kirche. Nur so kann man dem Einlass in den Himmel näher kommen – eine Gewährleistung gibt es jedoch nicht. Diese Einsicht in auch zum Teil noch heute existierende ethische und moralische Lebensprinzipien kann – muss aber nicht – Schüler/innen durchaus beeindrucken. Einen Versuch ist es immer wert, zumal wenn neben dem Münster auch eine Stadtführung durch Freiburg weitere lohnende Einsichten ergeben kann. Wir führen solche Stadtführungen nur auf Anfrage durch.
Literatur
- Hug, Wolfgang (2000): Das Freiburger Münster, Buchheim
- Kunze, Konrad ( 1995): Himmel in Stein – das Freiburger Münster, Freiburg
- Köster, Heike (1997): Die Wasserspeier am Freiburger Münster, Lindenberg
- Schaufelberger, Benedikt (2000): Wie die Freiburger ihr Münster bauten, Freiburg
- Jacobus de Voragine (2000): Legenda Aurea – Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Jacques Laager, Zürich
- Fritz, Astrid/Thill, Bernhard ( 1998): Unbekanntes Freiburg, Freiburg
- Kleinberg, Aviad ( 2010): Die sieben Todsünden – eine vorläufige Liste, München 2010