StartseitePublikationenBernd HainmüllerVom Lernstress zur Lernkultur - möglich oder nicht?

Vom Lernstress zur Lernkultur

Ist das möglich – ist das sinnvoll?

Bernd Hainmüller

Einige didaktische Überlegungen für die Arbeit mit lernschwachen und leistungsdifferenzierten BVJ-Klassen

In Goethes Faust findet sich eine kleine Bemerkung, die da lautet:

„Was ist das Schwerste von Allem?
Was dich am leichtesten dünkt:
Mit den Augen zu sehen,
Was vor den Augen dir liegt...“

Was liegt aber vor unseren Augen im BVJ? Wenn wir hier im Raum eine Klagemauer aufbauen würden, was Ihnen täglich „so am A... „ vorbeigeht, wäre sie sicher schnell vollgeschrieben: Manchmal hangeln wir uns nur von Ferien zu Ferien, und am letzten Ferientag sind wir unausstehlich zu allen. Mein Thema beinhaltet den Versuch, von dem, was wir alle kennen, und das ich unter Lernstreß zusammenfasse, zu etwas zu kommen, was ich Lernkultur nennen möchte. So wie man inzwischen erkannt hat, daß eine Betriebskultur, wenn sie schlecht ist, viel Geld kostet, und wenn sie da ist, die Mitarbeiter motiviert, ist die Herstellung einer pädagogischen Atmosphäre - ein uralter Begriff von Bollnow - ein gewaltiger Hebel zur Nutzung brachliegender Ressourcen- für Lehrer und Schüler. Dazu gehört ein Neusehen der Dinge, wie es Goethe formuliert. Nach Jahrzehnten im Dienst wird jeder irgendwo betriebsblind, aber was ist unser blinder Fleck? Ich versuche im folgenden, sie zu diesem Neu-Sehen ein wenig zu ermuntern. Mehr nicht. Nach dieser Augensalbe möchte ich Ihnen im zweiten Teil einige Methoden vorstellen, die den Weg vom Lernstreß zur Lernkultur unterstützen helfen können. Auch dies ist nur eine Einladung, ganz im Sinne jenes Sprichwortes von Mark Twain:

Eine Gewohnheit kann man nicht zum Fenster hinauswerfen: Man muß sie Stufe um Stufe die Treppe hinunter locken.

Ich locke sie deshalb ein bißchen. Indem ich ihnen nun sieben Zukunftstrends über Schule, Lernen und Bildung vorstelle, wie sie in der heutigen soziologischen, psychologischen und pädagogischen Literatur vertreten werden. Dann können Sie selbst entscheiden, ob sie die Treppe herunterkommen oder nicht. Ich hoffe, niemand stößt sie.

These 1: Wir befinden uns im Übergang von der Arbeitsgesellschaft zur Erlebnisgesellschaft.

Kurzgefaßt: Arbeit geht vielen am A... vorbei. Während die Eingeschlossenen immer mehr arbeiten, wissen die Ausgeschlossenen gar nicht, was sie mit der überflüssigen Zeit anfangen sollen. Das Wort des Kanzlers vom „kollektiven Freizeitpark Deutschland“ paßt durchaus in die soziologische Landschaft. Die Verteilung der Lebenszeit in der Relation zwischen Arbeitszeit und Freizeit hat sich eindeutig zugunsten der letzteren verschoben. Mit dieser Veränderung ist das Verschwinden des Arbeitsethos eng verknüpft. Eine protestantische Ethik im Sinne des „Wer nicht arbeitet - soll auch nicht essen“ stellen v. a. Jugendliche heute stärker gegenüber das Lustprinzip im Sinne von Wer arbeitet, ist selbst schuld dran - no risk, no fun. Die Zunahme der Begeisterung für Extremsportarten unter Jugendlichen belegt diesen Trend eindrucksvoll. Es geht dabei übrigens nicht um ein Lob der Faulheit. Nur: Die Disposition über das Wann, Wie, Wo, Wie lange ich arbeite wird nicht mehr als unumstößliche Tatsache der Erwachsenen akzeptiert. Wer die Lust am Arbeiten verloren hat - kann auch leicht die Lust am Lernen verlieren. Geld kann man sich auch anderweitig beschaffen - oder bekommt es von den Eltern nachgeworfen, damit man sie in Ruhe läßt. Eine Orientierung auf die Arbeitswelt wird auf Dauer nicht ausreichen, um Schüler zum Lernen zu motivieren.

These 2: Wir befinden uns im Übergang von statischen Lernmodellen zu dynamischen Lernmodellen.

Das bedeutet kurzgefaßt: Der Schüler denkt nicht mehr so, wie wir meinen, daß er denken müßte.

Piaget stellte in den sechziger Jahren die These auf, es gäbe „allgemeine“ Strukturen des Denkens. Die meisten Wissenschaftler danach sind von zwei grundsätzlichen Annahmen ausgegangen:

  1. daß die menschliche Kognition im Prinzip einheitlich ist
  2. daß man Personen mit Hilfe einer einzelnen Dimension namens „Intelligenz“ ausreichend beschreiben und einschätzen kann.

Howard Gardners Forschungsergebnisse zeigen, daß es eine weit umfangreichere Familie von Intelligenzen gibt.

Um sich in seinem Schema als eine Intelligenz zu qualifizieren, muß eine Fähigkeit eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Unter an­derem muß sie eine klar umrissene Entwicklungsbahn beschreiben, bei Minderheiten wie Wunderkindern und autistischen Kindern in isolierter Form beobachtbar sein, und es muß zumindest Hinweise darauf geben, daß sie im Gehirn lokalisierbar ist. Gardner stellte die Behauptung auf, daß statt einer sieben menschliche Intelligenzen existieren.

In Gardners Betrachtungsweise entwickeln alle normalen Menschen mehr oder weniger ausgeprägt mindestens diese sieben Intelli­genzformen. Ebenso wie alle Menschen diese sieben Intelligenzen besitzen und aufweisen, führen diese Intelligenzen auch dazu, daß wir uns voneinander unterscheiden. Jede Person verfügt über diese Intelli­genzen in mehr oder weniger ausgeprägter Form und kann sie auf seine persönlichen und eigenwilligen Arten miteinander verbinden und sie anwenden. Ebenso wie wir alle verschieden aussehen und andere Persönlichkeiten haben, denken wir auch verschieden. Aus dieser Tatsache ergeben sich entscheidende Schlußfolgerungen, insbesondere für unsere pädago­gischen Bemühungen. Bis auf den heutigen Tag legen die meisten Schulen besonderen Wert auf eine bestimmte Verbindung zwischen der sprachlichen und der logischen Intelligenz.

Diese Kombination ist fraglos wichtig, wenn es gilt, den Lehrstoff in der Schule zu beherrschen, aber wir haben ihretwegen die übrigen In­telligenzen weitgehend außer acht gelassen. Wir würdigen die Be­deutung der übrigen Intelligenzen in der Schule und außerhalb nicht ausreichend und lassen Schüler, die nicht über die „richtige" Mischung verfügen, glauben, daß sie dumm sind. Wir schieben sie ab, lassen ihre intellektuelle Schulkarriere scheitern und bemühen uns gleichzeitig darum, sie immer länger zu verschulen - ein fataler Kreislauf, der das Scheitern potenzieren kann. Wenn wir dagegen Methoden nutzen würden, die die vielfachen Intelligenzen herausfordern, würden wir nicht nur mehr Erfolg haben, sondern auch pädagogisch sinnvoller arbeiten. Eine Erziehung, die auf den vielfachen Intelligenzen aufbaut, kann wirksamer sein, als wenn sie nur zwei dieser Intelligenzen berücksichtigt. Sie kann eine größere Vielfalt an Begabungen entwickeln und den genormten Lehrplan für eine größere Schülerschaft zugänglich machen.

These 3: Wir befinden uns im Übergang von linear-systematischen Lernvorgängen zu „vernetzten“ Lernstrukturen.

Der Schüler lernt eigentlich nicht so, wie wir meinen, daß er lernen müßte. Das bedeutet, von der bisherigen Methode des „Mehr von demselben“ Abschied zu nehmen. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat diese mit dem „Mehr von demselben-Prinzip“ einhergehenden paradoxen Situation ein prägnantes Beispiel geschildert:

„Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe und der Mann antwortet: Meinen Schlüssel! Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren, und der Mann antwortet: » Nein, nicht hier, sondern dort hinten - aber dort ist es viel zu finster« Finden Sie das absurd?“ - fragt Paul Watzlawick den Leser. Wenn ja, suchen auch Sie am falschen Ort. Der Vorteil ist nämlich, daß eine solche Suche zu nichts führt, außer mehr desselben, nämlich nichts“ (Watzlawick 1983, Das Buch heißt übrigens: Anleitung zum Unglücklichsein, S. 27).

Mehr von demselben: Wie oft greifen wir auf diesen absurden Grundsatz zurück? Nach meiner Überzeugung haben wir mit diesem Prinzip diejenigen ursprünglichen Begrifflichkeiten, Klischees und Drehbücher überfahren, plattgewalzt, die Studenten in ihr schulisches Lernen am Anfang ihrer Schullaufbahn noch haben - es ist kein Wunder, daß dymanische Lernmodelle (Freinet; Montessori; Moreno) in den Grundschulen heute verbreitet sind, während wir sie in allen anderen Schularten kaum finden. Würden wir, wie Gardner meint, die Tatsache berücksichtigen, daß in fast jedem Studenten ein fünf Jahre alter ungeschulter Verstand sitzt, der darum kämpft, herauszukommen und sich auszudrücken“, wären wir in der Lage, Elementares zu übermitteln. Wir haben offenbar nicht erkannt, wie schwierig es ist, neue Lernstoffe so zu übermitteln, daß die Schlußfolgerungen aus Ihnen von Kindern begriffen werden, die Inhalte dieser Art lange Zeit auf eine grundsätzlich andere und tief eingefleischte Art aufgefaßt haben. Unsere Mehr von demselben - Methode ignoriert zweierlei: unterschiedliche Lerntypen und damit auch unterschiedliche Lernkanäle. Die Folgen dieses Irrtums bekommen gerade diejenigen Lehrer zu spüren, die mit Schülern arbeiten, an denen das Mehr von Demselben Prinzip jahrelang versucht wurde.

These 4: Wir befinden uns im Übergang von einer Defizit-Didaktik zu einer Kompetenz-Didaktik.

Kurzgefaßt: Je mehr Defizite wir bei Schülern feststellen, desto hilfloser werden wir beim Versuch, sie alle beheben zu wollen.

Wenn wir davon ausgehen, daß dem vernetzten Denken in Zukunft ein viel höherer Stellenwert eingeräumt werden wird als bisher, müssen wir uns die Frage stellen, welche Qualifikationen Schüler eigentlich benötigen, um sich in vernetzten Systemen zurechtzufinden. Das Wort von den Schlüsselqualifikationen geistert seit ca. 20 Jahren durch die Diskussion und wenn man alles das, was verschiedenste Autoren, Ministerien, Lehrplangestalter etc. unter diesen zusammenfassen, landet man bei einer heillosen Verwässerung der ursprünglichen Absichten, wie sie Dieter Mertens 1974 als Leiter des Instituts für Arbeitsmarktforschung beschrieben hat. Mertens ging nämlich von der paradoxen Erscheinung aus, daß es durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit im Qualifikationsbereich immer häufiger dazu kommt daß immer höhere Qualifizierungsprozesse in Schule und Beruf immer häufiger in einer „Dequalifizierung“ durch den Ausschluß aus der Arbeit enden. (M. Baethge) Er schloß daraus, daß die wachsende "fachliche" Bedeutung des außerfachlichen Lernens sowohl in der Allgemein- wie der Berufsbildung eine Gegenüberstellung von Bildung und Qualifikation als das "Produkt“ von Gelingen oder Scheitern nicht mehr zuläßt.

Um ein Beispiel zu geben: Nach herkömmlichen Auffassungen sind BVJ-Schüler schulisch gescheitert: Sie haben zuviele Defizite. Wir bemühen uns, sie auf ein gewisses Normalmaß zu bringen und scheitern damit möglicherweise auch. Warum gehen wir nicht umgekehrt davon aus, daß diese Schüler eine Menge Kompetenzen besitzen - bloß: diese werden in Schulen nicht gebraucht. Mertens plädierte deshalb dafür, den Vorrang des Wissens vor den Kompetenzen aufzugeben und von einem integratives Verständnis von Lernen im Sinne einer je eigenen „proportionierlichen“ Persönlichkeitsentwicklung plus einer Qualifizierung im Sinne je eigener Kompetenzentwicklungsmöglichkeiten auszugehen. Für Schulen würde das bedeuten: Je individueller die Lernarrangements sind, je mehr „selbstorganisiert“statt„fremdorganisiert“ gelernt wird, desto eher hat der Schüler etwas davon. Diese Idee, von den eigenen Erfahrungen der Schüler auszugehen, und das Lernen. en passant darum herum zu gruppieren, stammt v.a. aus der amerikanischen Pädagogik John Deweys Anfang des 20. Jahrhunderts.

These 5: Wir befinden uns im Übergang von einer lehrerzentrierten Methodik zu einer lernerzentrierten Methodik.


Kurzgefaßt: Statt Nürnberger Trichter sollten wir viele Lerngefäße aufstellen. Aber nach Brecht ist dies das einfache, das schwer zu machen ist. Denn es bedingt sehr viele Voraussetzungen: Mindestens sechs Aspekte spielen dabei eine Rolle: Der Lernende muß sich ein Lernsystem selbst anlegen lernen, das wiederum veränderbar sein muß. Um Identität darin zu ermöglichen, müssen neben das fachliche Lernen Möglichkeiten der Selbstreflexion und des sozialen Lernens treten, damit der einzelne eine ganzheitliche Bildung im Sinne der Trias von Fachkompetenz, Selbstkompetenz und Sozialkompetenz erwerben kann. Dies erfordert eine „multiple Codierung“ , die alle Lernkanäle anspricht. Dies erfordert aber auch eine Lehrerpersönlichkeit, die willens und in der Lage ist, sich diesen neuartigen Formen von Lernen zu stellen.

Der Lernprozeß im Rahmen einer so ausgewiesenen „ganzheitlichen“ Bildung kann im Kontext eines "didaktischen Sechsecks" beschrieben werden, das durch das Übereinanderlegen zweier Dreiecke entsteht, nämlich des Dreiecks der erweiterten Qualifizierung mit den Bezugspunkten Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Methodenkompetenz und des Dreiecks des vernetzten Lernens mit den Bezugspunkten Sache, Person und Gruppe (vgl. Arnold/ Müller 1993).

Selbstorganisiertes Lemen würde sowohl einseitige Spezialisierungen als auch einseitige Kräftebildung verhindern und im eigentlichen Humboldtschen Sinne eine „proportionierliche“ Menschenbildung als Entfaltung aller menschlichen Anlagen ermöglichen Dieses ist schulischerseits nur möglich, wenn eine Verschiebung schulischen Lernens von einer „Erzeugungs­didaktik“ zu einer „Ermöglichungs­didaktik“ vorgenommen wird. Piaget´s Satz: „Ich weiß nur, was ich wissen will“ wird durch die Folgerungen aus der biologischen Erkenntnistheorie (Matura­na /Varela 1987) , der Quantenphy­sik (Fischer u. a. 1992), der Chaosforschung (Meier / Strech 1991) sowie des Radi­kalen Konstruktivismus (Schmidt 1987; 1992) immer verständlicher: „Man lernt nur, was man lernen will“ oder:. Einen Sinn, warum ich das und das lernen soll, kann ich nur aus mir selbst schöpfen. Die Tatsache des vernetztem statt eindimensionalem Denken stellt die Didaktik vor große „Anknüpfungs“-aufgaben. Denn die Ermöglichung von vernetztem statt eindimensionalen Lernen ist ein komplexer Vorgang.

These 6: Wir befinden uns im Übergang von Kontinuitäten zu Diskontinuiäten

Kurzgefaßt: Die Signalkulturen müssen uns beschäftigen.

Der amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler hat für eine Lebensspanne, die etwa Mitte der fünfziger Jahre einsetzt und runde 75 Jahre später, also etwa im Jahre 2025 endet, drei bemerkenswerte Bücher geschrieben. Das erste Buch: Der Zukunftsschock, 1970 veröffentlicht, löste eine wahre Kommentar-Lawine aus. Toffler vertrat hier u. a. die Meinung, daß, wenn im Prozeß des Wandels in modernen Gesellschaften zu viele Veränderungen in zu kurzer Zeit verkraftet werden müssen, dies dazu führen kann, daß Menschen, Institutionen und Organisationen beginnen, an einem Zukunftsschock zu leiden: Sie werden desorientiert und unfähig zu vernünftiger Anpassung. Toffler zieht aus dieser Vorschau den Schluß, daß aus dem Dilemma zwischen einer wachsenden Diskontinuität einerseits und aus der Notwendigkeit von Jugendlichen, sich beim Aufwachsen an feste Strukturen anzulehnen, andererseits, eine Kultur entsteht, die er als Signalkultur bezeichnet.

Eingeklemmt zwischen strukturloser werdender persönlicher Freiheit einerseits und streng strukturierter Reglementierung andererseits entstehen „Kulte“ in Form von Jugendgruppen, in denen Jugendlichen, denen diese Lebensweise gefällt, vorgeblichen Halt und Sinn finden - sie ersetzen auf manchmal fatale Weise das, was ihnen die Gesellschaft, die Familie, die Schule, die Kirche, der Verein etc. nicht mehr geben kann. Die Folgen dieser Signalkulturen können sie täglich in ihrem Klassenverband bestaunen. In jedem noch so kleinen Klassenverband existieren Cliquen, Kleingruppen, die sich durch Kleidung, Haartracht und jede Art von Symbolen voneinander abgrenzen: Die äußerliche Abgrenzung allein wäre für sich genommen kein Problem, mit dem man sich pädagogisch beschäftigen müßte.

Die Signalkultur - oder wie Toffler sie in seinem dritten Band: Machtbeben von 1990 bezeichnet, die Symbolkultur schafft innere Werte und Haltungen, die nur für den verbindlich sind, der sich zur spezifischen Kleingruppe dazugehörig fühlt. Am banalen Beispiel von Musikrichtungen kann man das schon demonstrieren: Heute gibt es nach einer Untersuchung von GESOMED rund 360 verschiedene Musikstile und Richtungen. In dieselbe Disco gehen Jugendliche höchstens dann, wenn an diesem Abend ihre je eigene Musik aufgelegt wird. Die Wertevielfalt der Signal oder Symbolkultur von Jugendlichen soll hier nicht verdammt werden - aber sie schafft uns erhebliche Probleme des Unterrichtens: Signalkultur bedeutet auf der einen Seite ein beständiges Trommelfeuer von Signalen v.a. der Medien und der Werbung, zu denen der Schüler sich verhalten muß, aus denen er aussuchen muß, welche in seine Kultform hineinpassen. Und das nicht nur lokal, sondern global. Der Soziologe Ulrich Beck schreibt dazu:

„Globalisierung meint Handlungen über Distanzen hinweg - eine neuartige Ortslosigkeit, die durch Transformation von Raum und Zeit in der Folge globaler Kommunikationsmedien und Massentransportmögklichkeiten entsteht.“

Wenn sie heute im Internet dem weltweit größten Informationsnetzwerk surfen, können sie in wenigen Sekunden ihre Botschaften im Weißen Haus hinterlegen, bei der französischen Botschaft auf Neuguinea gegen Atomversuche protestieren oder sich über eine Stellenausschreibung als Leuchtturmwärter auf den Äußeren Hebriden informieren. Die Bildung solcher globaler Netzwerke bricht auf der anderen Seite aber auch lokale und personale Erfahrungshorizonte auf, auf denen herkömmliches Lernen bisher weitgehend beruhte. Kollektive und gruppenspezifische Erfahrungs- und damit auch Sinnquellen , die für unsere Nachkriegs-Generation noch galten, werden aufgezehrt, aufgelöst, entzaubert. Eigenes Leben heißt heute: Viele Signale, viele Informationen, viele Wahlmöglichkeiten, viele Entscheidungsmöglichkeiten, viel Freiraum - aber die Rückseite heißt auch: Nichts Verläßliches mehr, ständige Unsicherheit, Angst vor dem Scheitern des eigenen Lebensentwurfs.

Vielleicht wird ihnen jetzt verständlich, warum es auf der Ebene des Angebots von Unterrichtsinhalten so schwierig ist, den „richtigen“ Lernstoff auszuwählen. Wo einheitliche Wertmuster, der Wertekonsens erodiert sind und an ihre Stelle ein immer unübersichtlicher werdender Pluralismus aller Lebensstile getreten ist, scheint -um mit Ulrich Beck zu reden- die riskante Freiheit, alles selbst wählen zu müssen, immer noch anziehender zu sein als gute alte Hausmannskost, wobei es sein kann, daß man diesen Verzicht später durchaus bereut. Die Auswahl unseres Futters für das Lernen gleicht dadurch einem Russischen Roulett. Die einen sind vieleicht begeistert, die anderen sind gelangweilt, die dritten protestieren, die vierten verlegen sich aufs Verhandeln (Wenn wir das jetzt machen, kriegen wir dann einen Film?).

Es ist nach wie vor ein Phänomen, wie treu und brav die Lehrpläne immer noch von jenem Wertekonsens ausgehen, von dem, was uns alle interessiert, uns wichtig und teuer ist und unverzichtbar ist für die heranwachsende Generation. Man muß fast annehmen, daß hier die Formel gilt: Je häufiger wir von Toten reden, desto eher stehen sie wieder auf. Aber es gibt hier kein jüngstes Gericht, keine Waage auf der das Verzichtbare und Unverzichtbare an Lernen und Wissen mit gleicher Elle gemessen werden kann. Es ist statt dessen immer von Mehrfach - Bindungen: (Double Binds) „doppelte Bindungen“ auszugehen, eine Mehrfach-Besetzung derselben Begriffe, die für den einen etwas bedeuten, für den anderen aber gar nichts. Gleichzeitig im Unterricht auftretende Phänomene wie

  • Indifferenz in Haltungen zu Vorgängen (Des isch jedem sei eigene Sach);
  • Egozentrik im Verhalten (Du mußt ein Schwein sein, du mußt gemein sein)
  • extrem-strukturierte Wertorientierung (Extremismus)
  • Narzismus (Nach mir kommt erst mal lange gar nichts)

sind deutliche Anzeichen dafür, daß der von uns angestrebte und in Lehrplänen vorgegebene feste und beständige Strang des Wissens- und Erfahrungstransfers ein dünner Faden ist, der immer wieder reißt und dann neu geknüpft werden muß. Wir erleben diesen Prozeß im Klassenzimmer als „Sprunghaftigkeit“ als gedankliches Hin und Her-Zappen auf 22 Kanälen. Letztlich handelt es sich um ein Suchverfahren, das auf Eindeutigkeiten abzielt, die es freilich nicht mehr gibt. Trifft unsere Auswahl an Lernstoff zufällig an gleichen Ort, zur gleichen Stunde auf entsprechend motivierte Suchende, können durchaus Sternstunden von Unterricht entstehen. Es sind die seltenen Momente, vielleicht im Gespräch im Schullandheim, am Lagerfeuer bei erlebnispädagogischen Camps etc., wo wir uns gegenseitig zugeben können, daß alle auf der Suche sind, nicht nur die Schüler. Die eigene Wirklichkeit muß heute konstruiert werden und was noch schwieriger ist, sie muß vielen anderen Wirklichkeiten standhalten können. Das ganze ist ein sehr, sehr anstrengender Prozeß für beide Seiten: Schüler und Lehrer.

These 7: Wir befinden uns im Übergang vom Lernstreß zur Lernkultur, wenn wir es wollen.

Die der „lerner-zentrierten Didaktik“ innewohnende Handlungsorientierung darf sich nicht darauf beschränken, das überlieferte "Mehr-desselben-Konzepts" (Watzlawick 1983, S. 27 ff.) lediglich in Richtung auf „mehr Handlung“ i.S. eines „naiven Realismus“ zu erweitern. Alle Bemühungen, pädagogische Situationen und Ereignisse theoretisch-begrifflich zu objektivie­ren, verhindern gerade, das wahrzunehmen und zu beschreiben, was sich in den individuell-konkre­ten Prozessen zwischen Lehrenden und Lernenden und ihren unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen ereignet. Ein offen definiertes didaktisches Bezugssystem ermöglicht erst eine Lernkultur, die plural ist: geschlossen - im Sinne von Einhalten von vereinbarten Regeln, Werten usw. - offen im Sinne der Zulassung je eigener didaktischer Modellierungsinstrumente, sowohl beim Lehrenden wie Lernenden.

Grundlegend ist dafür u.a. die Einsicht in die Bedeutung der letztlichen Unverfügbarkeit von Lernprozessen für Beobachter. (Luhmann u. a. 1990). Eine Didaktik, die die Selbstorganisation der Lernenden zum "didaktischen Prinzip" erhebt und als Situations- und Subjekttheorie ver­steht, muß die Frage beantworten, wie „geführt werden kann, wo nicht zu führen ist“ (Pestalozzi). Die Begriffe „Produktive Gelassenheit“, „situative Kompetenz“ und „Orientierungswissen“ markieren die Eckpunkte einer so verstandenen „reflexiven“ Didaktik, die sich in der Balance von Sache, Ich und Wir bewegt. Ihr wesentlichstes Merkmal ist Sinn, d.h. wenn derartiges Lernen stattfindet, dann ist in der gesamten Erfahrung enthalten, daß der Lernende Sinn darin sieht. (Rogers).

Entscheidende didaktische (Realisierungs-)Voraussetzung für entsprechende Lernprozesse ist eine fragen, handlungs- und problemorientierte Didaktisierung und Vernetzung der Lerninhalte. Der Lernprozeß wird nicht durch ein »Denken von der Sach­struktur« her geplant und gesteuert, vielmehr wird selbstgesteuertes Lernen durch ein »Denken in Problemlösungen durch Schülerhandlungen« vorbereitet. Solche methodenorientierte Lernplanung muß im Sinne eines Zulassen-Könnens Raum geben für Eigenaktivität und Suchbewegungen. Der Lehrer ist eher "Facilitator" als „Magister“, eher Spurenleger als Wissensvermittler.

Suchbewegungen benötigen Zeit. Zeitverlust ist dann ein Zeitgewinn wenn der Weg als ein Ziel anerkannt wird (v. Hentig). Unterrichtsplanung durch „Lernarrangement“ zu ersetzen, setzt den Einsatz von Methoden voraus, bei denen die Initiative im Lernprozeß und die Steuerung des Lernpro­zesses erst allmählich und dann immer mehr auf den Lernenden übergehen. Es kommt deshalb darauf an, solche Methoden "ins Spiel zu bringen", die ein in die­sem Sinne selbsterschließendes Lernen ermöglichen und nicht darauf, beliebige Methoden aus dem ganzen Spektrum der denkbaren Unterrichtsmethoden zu „variieren“. Methodisch gesehen müssen wir uns jeden Unterrichtsstoff, jedes Thema als einen Raum mit mindestens 5 Eingängen oder Zugängen vorstellen.

Für jeden Schüler ist ein anderer Eingang und eine andere Route am geeignetsten, wenn er erst Zugang in den Raum erlangt hat. Die Kenntnis dieser Zugänge kann dem Lehrer helfen, neue Materialien so einzuführen, daß eine Vielzahl der Schüler sie leicht begreift. Wenn Schüler darüber hinaus andere Zugänge erforschen, haben sie die Chance, sich jene Vielfalt an Seh- und Denkweisen anzueignen, die letztlich das beste Gegenmittel gegen das Überhandnehmen der Signalkultur als weitgehend immobiles Lernsystem darstellt.

Schlußbemerkung

Ich komme zum letzten Schritt: Wie sollen wir all das im BVJ leisten? Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn der Wind des Wandels weht, bauen einige Mauern, andere Windmühlen. Darin liegt mehr als ein Körnchen Wahrheit. In den BVJ-Klassen werden alle hier beschriebenen Phänomene direkt greifbar, aufgreifbar und erlebbar. Ich betone: Für beide Seiten, Schüler wie Lehrer. Vieles hier geschieht aus purer Hilflosigkeit - auf beiden Seiten. Wir setzen Schülern Grenzen und sie setzen uns Grenzen. Wir setzen Schülern Strukturen vor und sie setzen uns Strukturen vor. Wir wollen ihnen etwas gutes zu essen geben, aber sie haben Hunger auf anderes. Wir haben auch Hunger auf anderes, aber niemand gibt uns Kraftfutter. Mein Vorschlag wäre: Kleine Schritte statt große Ansprüche.

Toffler schreibt:

„In der Schule werden wir zunehmend auf Dinge achten müssen, die bislang routinemäßig ignoriert wurden: Wir verwenden enorm viel Zeit für die Erklärung der Struktur der Regierung, einer Amöbe oder der Funktion des Autos etc. Kümmern wir uns auch um die Struktur des Alltagslebens? Lehren wir, wie man sich Zeit einteilt, wie man mit Geld umgeht, was für Anlaufstellen es gibt, wenn man in dieser so ungeheuer komplexen Gesellschaft Hilfe braucht? Wir gehen davon aus, daß die Jugendlichen sich ohnehin in unserer gesellschaftlichen Struktur auskennen. In Wirklichkeit haben die meisten höchstens eine ganz vage Vorstellung z.B. von der Organisation der Arbeits- und Geschäftswelt... Sie wissen nicht, wie die Stadtverwaltung funktioniert und die meisten haben noch nicht einmal eine Ahnung davon, wie ihre eigene Schule aufgebaut ist...“

Lernen mit allen Sinnen ist der Versuch, ein wenig Phantasie in den Schulalltag hineinzulassen. Je mehr alle Sinne entwickelt und ausgebildet sind, desto hellwacher kann man den kommenden Herausforderungen begegnen. Die Möglichkeit, ein didaktisches Überlebensprogramm aufzustellen, hat jeder Lehrer. Alle dafür notwendigen Methoden kann man lernen, wenn man will.

Was ist Methode?

Ein arabischer Mullah hatte drei Söhne. Als er auf dem Sterbebett lag, rief er sie zu sich, um sein teuerstes Gut unter sie zu verteilen. „Ich habe 17 Kamele“, sagte er, „die sollt ihr wie folgt unter euch aufteilen. Du, Ali als Ältester erhältst die Hälfte der Kamele; Mustafa als Zweitältester, du erhältst ein Drittel der Kamele und du Said als Jüngster erhältst ein Neuntel der Kamele. So will ich es!“. Dann schloß er die Augen und starb.

Nach der vorgeschriebenen Trauerzeit setzen sich die drei Söhne zusammen, um den Willen ihres Vaters zu erfüllen. Aber so sehr sie auch rechneten, sie kamen zu keinem Ergebnis. Wie kann man 17 Kamele halbieren, dritteln und neunteln? Während ihnen die Köpfe rauchten, kam ein Fremder auf einem Kamel an ihr Lagerfeuer. Traurig erzählten Sie ihm ihre ausweglose Lage. Der Fremde schmunzelte. Dann nahm er wortlos sein Kamel und stellte es zu den 17 anderen. Jetzt habt ihr 18 Kamele. Du, Ali, erhältst die Hälfte, also 9 Kamele. Du, Mustafa, bekommst ein Drittel. Von 18 Kamelen sind das 6. Und du Said, bekommst ein Neuntel, das sind zwei Kamele. Jetzt habt ihr eure Kamele nach dem Willen des Vaters aufgeteilt.

Also nahm der Fremde sein Kamel und ritt lachend davon. Das ist Methode.

Satteln Sie bitte auch ihr Kamel.