StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerUnterwegs im Labyrinth von Lüge und Wahrheit

Unterwegs im Labyrinth von Lüge und Wahrheit

Hiltrud Hainmüller

Editorial

Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. (Bertolt Brecht: aus "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, 1934)

 Dieses Heft kann erkenntnistheoretische Fragen nicht ignorieren, aber sein Hauptthema ist das Täuschen, anderer und sich selbst - im außermoralischen und im moralischen Sinn. Lügen und Täuschen ist immer dialektisch: Es gibt hinterlistige Täuschung und Betrug, es gibt aber auch die dem Zusammenleben dienenden (höflichen) Lügen oder Unwahrheiten über wohlschmeckendes Essen oder außergewöhnliches Aussehen, und es gibt die erwünschten Täuschungen in der Kunst, Werbung, und fiktionalen Literatur. Münchhausen beherrscht die Tugend der Lüge! Und wer ist schon an absoluter Wahrheit interessiert - außer Naturwissenschaftlern und Philosophen? Selbst in Aristoteles' Nikomachischer Ethik wird das Thema Wahrheit und Lüge lediglich unter dem Aspekt der Untugenden Understatement und Angeberei behandelt. Die Auseinandersetzung mit Kants Lügenverbot wird in diesem Heft pragmatisch geführt, vom Standpunkt des Lebensdienlichen, des Identität Fördernden, des Freiheit Sichernden und des Rechts her. Einige Autoren nehmen ausdrücklich Bezug auf Simone Dietz' »Kunst des Lügens«. Während sich Hanns Frericks unter Berufung auf Dietz kritisch mit Kants Lügenverbot auseinandersetzt, stellt Klaus Disselbeck aus Poppers Sicht erkenntnistheoretische Fragen zu Wahrheit und Gewissheit. Joachim jung rückt, ausgehend von Nietzsches Schrift »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, das Problem der Wahrheit und der Lüge in den Kontext des Lebensdienlichen und in den der Sprach- und damit Lebenskunst - Enthüllung der Wahrheit durch das metaphorische Ausspinnen des Unaussprechlichen. Michael Kühlers Glosse spricht von einer wesentlich praktischeren Lebenskunst: nämlich sich beim Lügen nicht erwischen zu lassen. Die Unterrichtsbeispiele bewegen sich in einem ähnlichen Umfeld. Zum einen geht es darum, den Blick für die vielfältigen Lügen, Täuschungen, Unwahrheiten und Unehrlichkeiten des Alltags zu öffnen, um einem weltfremden Wahrheitsfanatismus vorzubeugen. Zum anderen aber sollen Kriterien benannt und an praktischen Beispielen geprüft werden, die es jungen Menschen bei aller Unsicherheit doch erlauben, einen realistischen moralischen Standpunkt zu beziehen, der etwa zur speziellen biografischen Situation Pubertierender, zum gesellschaftlichen Kontext im Jahre 2004 hier in Deutschland und zur sich gerade erst ausbildenden Identität der jugendlichen Teilnehmer des Ethikunterrichts passt. Das ist »im Prinzip« immer noch Kant, aber vor allem sehr viel anderes! Konrad Heydenreich schlägt für die Oberstufe praktische Einstiege in den Themenkomplex Wahrheit und Lüge vor, unter anderem mit interessanten Materialien zum Einsatz des Lügendetektors. Mit diesem Beitrag verabschiedet sich der Begründer und langjährige Mitherausgeber von »Ethik & Unterricht«; eine Würdigung seiner Arbeit findet sich an anderer Stelle dieses Heftes. Leo Kauter hat für die Sekundarstufe I Zugänge zum Thema ausgearbeitet, die sogar Kant in lnterviewform einbeziehen. Hiltrud Hainmüllerverfolgt mit ihren biografischen Skizzen in Anlehnung an Judith Butler, wie Jugendliche ihren Standpunkt zur Wahrhaftigkeit mühsam, aber erfolgreich suchen und behaupten können gegen die herrschende Doppelmoral, nämlich im Dialog mit anderen, vor allem aber mit sich selbst. Abschließend entfalten lnge Künle und Marlen Wronka am Beispiel des Films »Truman Show« einen Selbstfindungsprozess in der modernen Medienwelt, der gegen den Einfluss von Erziehung, Medien und gegen die Versuchungen der Selbsttäuschungen geleistet werden muss.

Hiltrud Hainmüller und Hans-Peter Mahnke

  

1. Irrungen und Wirrungen im Labyrinth von Lüge und Wahrheit

Abb. 1:  Wassilij Masjutin (1911) Gewissen

 

Schon in der Kindheit werden wir mit dem Problem von »Lüge« und »Wahrheit« konfrontiert. Drei autobiografische Geschichten und eine literarische Erzählung sollen Schülern als Beispiel dienen, sich ein Stück in das Konflikthafte dieser Konfrontation hineinzudenken und in der Differenz zu eigenen Erfahrungen die Genealogie eigener und fremder Moralen zu reflektieren. Einen Teil der Normen, die uns von Geburt an umgeben, verinnerlichen wir im Laufe des Aufwachsens, zu anderen geraten wir in Widerspruch, zum Beispiel dann, wenn wir etwas begehren, was uns verweigert wird. In den autobiografischen Geschichten (M 2 und 3) wird deutlich, wie stark die Kinder das Lügenverbot verinnerlicht haben. Jedes Kind entwickelt eine je eigene Sensibilität dafür, was Bezugspersonen, das heißt Erwachsene von ihm erwarten, wie sie Handlungen beurteilen, was ihnen gefällt, was ihnen missfällt, was sie loben, was sie bestrafen. Das frühe Spiel von Suchen und Finden, das Hören zweideutiger Botschaften und diese von authentischen unterscheiden zu lernen sind Vorgänge, die die Entwicklung prägen. Aber hier tut sich für Kinder ein Labyrinth von Verhaltensweisen auf, deren »Modellcharakter« nicht auszumachen ist: Kein Erwachsener lügt immer, ebenso wenig sagt er immer und überall die Wahrheit.

Früh schon werden Kinder Zeugen von Doppelmoral, ihnen fällt auf, dass Erwachsene Normen, deren Einhaltung sie vom Kinde fordern, selbst nicht beachten (siehe M 4: Die Dreizehnjährige hat einen äußerst scharfen Blick für das Begehren und die damit verbundenen Lügen der Erwachsenen entwickelt). Die »ehernen« Gesetze der Erwachsenen wirken einerseits als eigener innerer Zensor, andererseits werden sie hinterfragt und kritisch relativiert (in M 2 zeigt sich, wie eng Lesewut mit Wahrheitssuche verbunden ist, wie Kinder sich selbst Wahrheiten nähern und die Erwachsenen knallhart mit deren Lügen konfrontieren). Kinder beginnen oft früher, als die Erwachsenen vermuten, nicht mehr alles zu glauben, was ihnen aufgetischt wird. Wobei sie eine hohe Sensibilität dafür entwickeln, mit welchen Wahrheiten sie Eltern konfrontieren können. Oft leben sie jahrelang mit Doppelwahrheiten, weil sie die Gunst der Eltern nicht verlieren wollen (siehe M 2: Fried stellt fest, dass er schon im Kindergartenalter aufgehört hat, durchaus geschätzten Erziehungspersonen wie der Großmutter oder der Mutter alles zu glauben). Alice Miller hat in ihrem Buch »Du sollst nicht merken« an eindrücklichen Falldarstellungen aufgezeigt, welche seelischen Verletzungen mit der für das Kind notwendigen Verleugnung von schmerzlichen Wahrheiten einhergehen: Sexueller Missbrauch, Verschweigen der Herkunft, Aufrechterhalten von Lebenslügen und Familiengeheimnissen bewirken Traumata, die meist seelische Erkrankungen zur Folge haben.

Spätestens mit Beginn der Pubertät wird an Tabus gerührt, über die Erwachsene nicht oder nur selten sprechen. Jugendliche haben ihre Geheimnisse, führen Selbstgespräche, holen sich Rat bei Freunden, suchen die Konfrontation mit Erwachsenen oder igeln sich vor ihnen ein (siehe M 4: Die Dreizehnjährige schwänzt zur inneren Bewältigung ihres »Liebeserwachens « die Schule, sie kann der verständnisvollen Tante ihre Phantasien anvertrauen und mittels ihrer »Lügen« die erste heftige Pubertätskrise bewältigt). Auch die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, das Erkennen des eigenen Potenzials und die Entwicklung eines eigenen Lebensentwurfs führen zu inneren und äußeren Konflikten (in M 3 wird deutlich, wie die Erprobung eigener Fähigkeiten einhergeht mit dem Wunsch nach Anerkennung). Jeder Lehrer muss sich mit Täuschungsmanövern oder Selbstüberschätzungen von Jugendlichen auseinandersetzen.

Nach außen oft nicht sichtbar, aber ungleich heftiger kann der innere Kampf sein, den das Kind oder der Jugendliche um seinen Selbstwert zwischen Kleinheit und Größenwahn führt. In einem komplizierten Prozess konstruieren sich junge Erwachsene zu »moralischen Subjekten«.

2. Der Ariadnefaden wird im Dialog gesponnen

In den Fragenkomplexen von Lüge und Wahrheit eine eigene, authentische Position zu finden ist ein lebenslanger Lernprozess. Die Frage nach der Wahrheit - sowohl gegenüber der eigenen, als auch gegenüber fremden »Wahrheiten« - ist eng verknüpft mit dem Identitätsfindungsprozess. Will man Jugendlichen Orientierungswissen in diesen Fragen vermitteln, reicht es nicht aus, Moralerziehung durch die Norm des Lügenverbots zu betreiben. Um zu einer angemessenen Ethik zu gelangen, ist es hilfreich zu versuchen, Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn zu betrachten. Sowohl Simone Dietz als auch Steffen Dietzsch verweisen auf das dialektische Verhältnis, welches zwischen »Lüge« und »Wahrheit« besteht. [1]

Wir belügen uns als Menschen ständig selbst und gegenseitig, wir sind uns darin ausgesetzt und müssen in einem ständigen Prozess der Selbstreflexion und des Dialogs mit dem Anderen an der Konstruktion von Wahrheit arbeiten. Ludwig Marcuse beschreibt in einem Aufsatz mit dem Titel »Du sollst nicht lügen«[2], wie das Lügenverbot stets von denjenigen, die es imperativisch im Munde geführt haben, gegenüber Fremden und Andersdenkenden außer Kraft gesetzt wurde.

»So kann man sich stundenlang amüsieren - und >völkerspychologisch< beweisen, was immer man Lust hat; wovon namentlich im Krieg Gebrauch gemacht wird. Überhaupt ist die ganze Völkerpsychologie am besten zu verwenden als Atlas, an dem man sich orientieren kann über die Wut, die eine Menschen-Gruppe auf die andere hat. Es gibt ein hervorragendes Beispiel: die Namen, mit denen die Syphilis im Mittelalter bedacht wurde. Für die Deutschen, die Italiener und die Engländer waren die >dicken, großen Pocken<: >die welsche Krankheit<; für die Franzosen >die neapolitanische<. Holländer, die Navarresen und die Afrikaner nannten sie >spanisch<; die Asiaten, die von Portugal anhängig waren: >portugiesisch<. Den Persern sah das Unheil >türkisch< aus und den Türken >christlich<. Bei den Russen hatten die ekligen Geschwüre die Eigenschaft >polnisch< zu sein, bei den Polen >deutsch< .«[3]

Das Beispiel zeigt, wie schnell Menschen, die sich miteinander aussetzen und damit einander ausgesetzt sind, mit Schuldzuweisungen und Verleumdungen bei der Hand sind, um die eigene Wahrheit zu verbergen. Die Linie verläuft von der Unwissenheit zur Lüge, weiter zum Gerücht, über das Vorurteil zum Urteil und schließlich zur Verurteilung. Judith Butler untersucht in ihren »Adorno-Vorlesungen« Bedingungen und Möglichkeiten moralischer Selbstreflexion und moralischen Handelns, wobei sie zu dem Schluss kommt, dass das Subjekt sich selbst bis zu einem gewissen Grad undurchschaubar und unerkannt bleibt, dass es weder die Bedingungen seiner Entstehung genau kennt, noch sich für seine »Selbstidentität « im Verlauf der Zeit verbürgen kann: »So ist das Subjekt, das sich nicht durch und durch kennt und das nicht voll für sich einstehen kann, ein fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik, charakterisiert eher durch seine Grenzen als durch seine Souveränität.«[4]

Daraus resultieren auch die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn wir Rechenschaft von uns selbst ablegen wollen. Das Problem lässt sich an den ständigen Variationen unserer Selbstnarrationen ablesen, die nicht nur nach ein paar Gläschen Wein, sondern von Jahr zu Jahr höchst kuriose Modulationen erfahren. Wenn ich nicht genau sagen kann, wer ich bin und warum ich so bin, wie ich mich entwickelt habe, wenn ich das auch niemals genau von anderen wissen kann, dann muss ich mich von absoluten Wahrheitsansprüchen verabschieden. Ich muss mir meiner Grenzen im Erkennen von Wahrheiten bewusst werden. Das heißt nicht, die Bemühungen um Wahrheit in den Bereich der Beliebigkeit zu verbannen und persönliche Verantwortung und Urheberschaft zu leugnen. Es bedeu- tet nur, sich von der Gewissheit zu verabschieden, sich stets auf der sicheren Seite der Wahrheit zu wähnen. Es bedeutet auch, im moralischen Urteil die Verletzlichkeit und Begrenztheit - die eigene und die des Anderen - stets mit zu reflektieren. Besonders anrührend ist dies in dem Text von Erich Fried der Fall (M 2), in dem er rückblickend als Erwachsener bemerkt, die Großmutter habe vielleicht »die Wirklichkeit im Sinne ihrer Wahrheit nur ein wenig zurechtgerückt «, und darüber trauert, dass er sie nicht mehr fragen kann, ob sie sich möglicherweise selbst im Stand der Unwissenheit befunden hat.

Wahrheit entsteht prozesshaft und im Dialog. Schmerzlich bewusst wird uns das dann, wenn wir den Dialog nicht mehr führen können, weil das Gegenüber gestorben ist oder sich dem Dialog verweigert. Als Menschen haben wir dann immer noch die Möglichkeit, andere Quellen heranzuziehen, andere Menschen und deren Perspektiven einzubinden. Wir haben auch die Möglichkeit des fiktiven Dialogs - eine Verarbeitungschance, die im Prozess der Annäherung an Wahrheiten nicht unterschätzt werden sollte.

Abb. 2:  Wahrheiten, die uns stören..

3. Orientierung gewinnen im Labyrinth

Impulse, Ethik neu zu denken, gehen derzeit vor allem von der feministischen Ethik und einigen postmodernen Ansätzen zur Moralbegründung aus. So übt Judith Butler Kritik an der normative Ethik, die den Menschen die Pflicht zur uneingeschränkten Selbsterkenntnis auferlegt, dabei die Fehlbarkeit des Menschen ignoriert und so zu einer »ethischen Gewalt« wird. Das Bemühen um Selbsterkenntnis und die Übernahme von Verantwortung sind für Butler ebenso wichtig wie die Erkenntnis, dass all unser Bemühen, mit uns selbst in Einklang zu kommen, stets durchkreuzt wird. Bescheidenheit und Großzügigkeit sind Werte, die nach Butlers Auffassung zur Gewaltfreiheit beitragen können. Dazu ist aber die Einsicht in die Begrenztheit, Fehlbarkeit und Bedürftigkeit des Menschen unverzichtbar: »Leugnen wir unsere Beschränkungen, so verleugnen wir, was an uns menschlich ist.«[5] Daraus ergibt sich Butlers Forderung - und in diesem Sinn ist sie durchaus deontologisch - nach der »Pflicht zur Vergebung«. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Elisabeth Conradi mit ihren Thesen zur »Ethik der Achtsamkeit«. Sie verweist darauf, dass gerade in asymmetrischen Beziehungen (etwa zwischen Kindern und Erwachsenen, Patienten und Ärzten) im Prozess von Rücksichtnahme und Fürsorge Moral entstehen kann. Levinas geht noch weiter, indem er auf die Bedeutung des vorreflexiven Bereichs im zwischenmenschlichen Miteinander hinweist: Es ist das »Antlitz« des Anderen, das uns herausfordert.
So erfahren wir häufig schon durch den Blick des Anderen, was wir dann sprachlich mit ihm aus- und verhandeln müssen. Als orientierendes Material kann für den Unterricht ein Text von Simone Dietz herangezogen werden. [6] Sie versucht, eine Synthese zwischen einem prinzipienorientierten normativen und einem prozessorientierten Ansatz zu finden, in der die Schnittstellen zwischen Lüge und Wahrheit deutlich werden. Dazu nähert sie sich dem Problem der Lüge zunächst analytisch- im außermoralischen Sinne - , um dann ein Instrumentarium für angemessenes moralisches Urteilen anzubieten. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Lügen einen Doppelcharakter haben, weil sie sowohl als Angriff auf die als auch als Verteidigung der Freiheit eingesetzt werden können.[7] Die moralische Verwerflichkeit der Lüge sieht Dietz immer dann gegeben, wenn eine Instrumentalisierung des Belogenen unter Missachtung seiner Fähigkeit zur vernünftigen Zwecksetzung vorgenommen wird. Die moralische Zulässigkeit der Lüge sieht sie vor allem in der Verteidigung gegen unberechtigte Angriffe auf die Freiheit und die Privatsphäre. Darüber hinaus öffnet Dietz den Blick auf die Verletzlichkeit des Menschen, das heißt auf die Tatsache, dass unsere Fähigkeit zur vernünftigen Zwecksetzung immer auch eingeschränkt ist.

Darin stimmt sie mit Judith Butler überein: »Wenn wir neben dem Wert der Freiheit auch die Bedürftigkeit jedes Menschen berücksichtigen, wenn wir auch die Rücksicht auf Schwäche als moralischen Wert gelten lassen, dann können außerdem wohlwollende Lügen gerechtfertigt werden. Der Respekt vor der Freiheit und die Rücksicht auf die Bedürftigkeit anderer Personen müssen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern korrigieren sich wechselseitig. Nur so können die Zerrbilder des unbarmherzigen Wahrheitsfanatismus und des überheblichen Zynismus vermieden werden«. [8]

Dietz entwickelt eine Typologie der Lügen, die hilfreich sein kann, verschiedene Arten von Lügen zu unterscheiden: So werden etwa »zulässigen« korrespondierende »unzulässige« Lügen gegenübergestellt. In der Erarbeitung dieser Typologie können Schülerinnen und Schüler sowohl einen ordnenden Überblick als auch eine Einsicht in die Schwierigkeiten der Grenzziehungen gewinnen. Sie erhalten eine Art »Stimmgabel« für die eigene Wahrheitsfindung.

4. Sich auskennen im Labyrinth von Lüge und Wahrheit - Vorschlag für einen möglichen Unterrichtsgang

a) Methodischer Einstieg

Unter der Überschrift »Alles Lüge« und »Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit« erstellen die Schüler in Gruppen ein Assoziationsfeld (Puzzle, Wandzeitung, Labyrinth, Dschungel oder Ähnliches). Impulsfragen zu dieser Aufgabe können sei:

1. Finden Sie Redensarten und Sprichwörter zum Thema Lüge und Wahrheit.

2. Suchen Sie sich ergänzende Substantive und Wortpaare, die das Bedeutungsspektrum der beiden Begriffe verdeutlichen, etwa Schwindel - Lüge oder Schläue - Wahrheit.

Beispiele für Redensarten finden sich viele, etwa »Lügen haben kurze Beine«, »Ehrlich währt am längsten «, jemandem »Unverblümt die Wahrheit sagen«, »Der Ehrliche ist immer der Dumme«; Wortpaare zu dem gesuchten sind etwa Schwindel - Lüge, List - Lüge; Verrat - Verleumdung, Lüge - Hinterhältigkeit, Verschlagenheit; Wahrheit - Schlauheit; Lügen - Tricksen - Flunkern, Wahrheit - Ehrlichkeit - Aufrichtigkeit. Bei der Gestaltung des Assoziationsfeldes sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Eine Zusatzaufgabe kann darin bestehen, moralisch negativ konnotierte Teile farblich von den vermeintlich positiven abzuheben. Herangezogen werden können auch bekannte Lügen und Lügner und Wahrheitssuchende aus Geschichte, Mythologie und Gegenwart wie Odysseus der Listenreiche, Pinoccio, Martin Luther, Jakob der Lügner, US-Präsident Bush.

b) Erarbeitung der Textbeispiele (M 2 - M 4)

Es bietet sich an, die Texte in vier Gruppen nach eigener Wahl erarbeiten zu lassen.[9] Mögliche Aufgabenstellungen:

1. Erklären Sie mit eigenen Worten, worin der Konflikt der jeweiligen Geschichte besteht.

2. Untersuchen Sie, welche normativen Vorstellungen die Kinder und Erwachsenen haben. Berücksichtigen Sie dabei auch die historische Situation, in der die Geschichten spielen.

3. Entwickeln Sie mögliche Handlungsalternativen der Kinder und der Erwachsenen.

4. Versuchen Sie, die Textbeispiele in die Typologie von Dietz einzuordnen. Auf welche Schwierigkeiten kann man bei der Einordnung stoßen?

5. Beurteilen Sie die Beispiele aus eigener moralischer Sicht.

6. Schreiben Sie eine Geschichte über ein eigenes Beispiel zu Lüge und Wahrheit aus der Kindheit (falls das zu persönlich ist, kann es auch ein bekanntes fremdes oder ein fiktives Beispiel sein).

c) Erarbeitung der Typologie von Simone Dietz

Hier geht es darum, zuerst die Dietz'schen Unterscheidungen zu erarbeiten und mithilfe von Beispielen zu veranschaulichen. Daran kann sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Erläuterungen von Dietz anschließen: Gibt es einen Konsens darüber, dass bei Typ 2 der Mörder mit dem Ladendieb und dem Schwarzfahrer auf eine Stufe gestellt wird?

d) zu Material 4

Das Buch »Die Lügen der Frauen« handelt von Shenja, einer warmherzigen, weltoffenen Frau, zu der jeder schnell Zutrauen fasst. Zu Shenja kommen sie alle, die Mühseligen und Beladenen, mit ihren Träumen und märchenhaften Phantasien, in denen das bescheidene Leben zu dramatischer Größe und Schönheit erblüht. Die »Lügen der Frauen« entpuppen sich als schützende, bergende Phantasien in der Auseinandersetzung mit einer oft brutalen Wirklichkeit. Sie sind freundliche Begleiter, Brücken in heftigen Identitätskrisen, Mittel, die raue Wirklichkeit ertragen zu können. Einzelne Geschichten dieses Romans können auch für sich gelesen werden, so zum Beispiel die zehnseitige Erzählung mit dem Titel »Das Ende der Geschichte«.

e) Schlussbetrachtung Diese Arbeit kann auch am Beispiel der beigegebenen Texte (M 2-M 4 ) erfolgen. Jede Schülerin und jeder Schüler formuliert eine Erkenntnis, die sie bzw. er in der Beschäftigung mit dem Thema Lüge und Wahrheit gewonnen hat.

Abb. 2:  Christian Macketanz: Die Lügnerin (1998) 

Materialteil

M 1

Simone Dietz: Eine Typologie der Lüge

1. (a) die wohlwollende und (b) die bevormundende Lüge

2. (a) die Lüge aus Notwehr und (b) die eigennützige Lüge

3. (a) die Lüge zum Schutz der Privatsphäre und (b) die Lüge aus Untreue

1.Die wohlwollende Lüge unterscheidet sich von der bevormundenden Lüge dadurch, dass sie sich neben der Rücksicht auf eine ernst zu nehmende Schwäche des Belogenen auch auf die Vermutung seines Einverständnisses stützt. Wer den anderen in wohlwollender Absicht belügt, maßt sich nicht an, besser zu wissen, worin sein Glück liegt. Er will den anderen nicht durch Täuschung gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingen, sondern lügt aus der Annahme, der andere wolle in einer solchen Situation der Schwäche lieber belogen werden, als die Wahrheit zu hören. Wer fürchtet, von anderen durch Lügen in ein »Paradies der Dummen« verbannt zu werden, kann sich eine solche Art des Wohlwollens im Einzelfall durch ausdrückliche Erklärungen verbitten und unerwünschten Rücksichten damit die Grundlage entziehen.

2. Die Lüge aus Notwehr orientiert sich nicht am individuellen Gefühl der Bedrohung, sondern am gleichen Prinzip der Freiheit. Nicht jede Beeinträchtigung meiner Freiheit durch andere rechtfertigt Abwehrmaßnahmen, entscheidend ist die Vereinbarkeit meiner Freiheit mit der Freiheit der anderen. Der Mörder auf der Suche nach seinem Opfer, die Ladendiebin oder der Schwarzfahrer können sich nicht auf Notwehr berufen, wenn sie lügen, um Sanktionen zu vermeiden, die im Sinne aller gerecht- fertigt sind. Hier geht es nur um die Vermeidung individueller Nachteile, also um eine Lüge aus Eigennutz. Aus Notwehr handeln diejenigen, die einen ungerechtfertigten Angriff auf ihre Freiheit abwehren wollen.

3. Die Lüge zum Schutz der Privatsphäre setzt voraus, dass andere kein Recht darauf haben, den fraglichen Sachverhalt zu erfahren . Das ist immer dann der Fall, wenn die anderen von diesem Sachverhalt selbst nicht betroffen sind. Allerdings ist eine derart klare Grenzziehung in den wenigsten Fällen möglich. Dann liefert das Feld der gemeinsamen Angelegenheiten das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung von der Privatsphäre. Nur was nicht in den Bereich von Treueversprechen und alltäglicher, eingelebter Kooperation fällt, kann als Privatsphäre der Kommunikation entzogen und durch Lügen geschützt werden. Eine Lüge, die den anderen im Feld der gemeinsamen Angelegenheiten täuscht, ist eine Lüge aus Untreue.

Arbeitsaufträge: - Finden Sie sich in drei Gruppen zusammen. Jede Gruppe versucht, Beispiele für einen Typ zu sammeln und eine Unterscheidung in »zulässige Lügen« und »unzulässige Lügen« vorzunehmen. Dabei könnte sich zeigen, dass trotz der recht einleuchtenden Typologie klare Grenzziehungen in den wenigsten Fällen möglich sind. Versuchen Sie, den jeweils kritischen Umschlagpunkt, an dem eine »zulässige« zu einer »unzulässigen« Lüge wird, beispielhaft herauszuarbeiten. [Aus: Simone Dietz, Die Kunst des Lügens, Reinbek: Rowohlt 2003 5. 142 f.)

M 2

Erich Fried: Der Rollstuhl

F. ist vier Jahre alt, als er bei einem Spaziergang mit der Großmutter (für die er tiefe Zuneigung empfindet) im Park einem jungen Mann begegnet, der im Rollstuhl gefahren wird. Die Großmutter versucht den Vierjährigen umständlich, vorsichtig und hinter vorgehaltener Hand über die Ursache der Lähmung des jungen Mannes aufzuklären : »Es lief darauf hinaus, dass dieser junge Mann als Kind seinen Körper unten berührt habe, was nicht nur verboten, sondern eben auch höchst gesundheitsschädlich sei, vielleicht werde man vom lieben Gott für die Sünde bestraft, das wisse sie nicht genau, sicher sei nur, dass einem davon das Rückgrat schmelze, sodass man davon gelähmt sei .«

F. war von früher Kindheit an daran gewöhnt, Erwachsenen nicht alles zu glauben, weil er sie schon häufiger bei einer Lüge ertappt hatte, dennoch war er geneigt, der Großmutter in diesem Fall zu glauben, da sie diesen Mann tatsächlich kannte und die Aufklärung nicht in drohendem Ton erfolgt war: »Zwei Jahre lang hatte die Erklärung der Großmutter Auswirkungen auf mein Verhalten und meine immer neu gelobten Vorsätze.« Mit sechs Jahren konnte F. bereits gut und schnell lesen. Er las alles, was er in die Finger bekam, und so las er auch im Buch »Der Sohn einer Magd« von August Strindberg, in dem Strindberg berichtet, wie man ihm als Jungen vom schmelzenden Rückgrat erzählt hatte und der deswegen die größten Seelenqualen ausgestanden habe, bis er auf einen Arzt getroffen sei, der ihm bedeutet habe, er solle doch ihn, den Arzt, ansehen . Er habe es als kleiner Junge nicht nur einmal, sondern mehrere Male am Tag gemacht, und er sei noch immer in ausgezeichneter Verfassung, das gelte auch für seine Leistungen in der Ehe.

»F ging mit diesem Buch zur Großmutter und klatschte es ihr mit der besagten aufgeschlagenen Stelle auf den Tisch . >Da, deine Lügen!< Sie sah den Namen Strindberg und fragte: >Wie kommst du überhaupt zu diesem Buch?< >Ganz gleich<, sagte ich, >lenk nicht vom Thema ab.< Meine Großmutter, die wirklich nicht mehr gut sah, stand auf, holte ihr Vergrößerungsglas und las und las. Als sie fertig war, sah sie mich an und sagte: >Mmmh< - sonst nichts. Ich war überzeugt, dass ich ihr eine Lüge nachgewiesen hatte. Aber heute bin ich dessen nicht mehr so sicher [ ... ] vielleicht hat sie aufgrund ihrer Erziehung das vom geschmolzenen Rückgrat und dem Gelähmtwerden bis dahin wirklich geglaubt und hat, als der Mann im Rollstuhl an uns vorüber geschoben wurde, nur versucht, die Wirklichkeit im Interesse der Wahrheit ein wenig zurechtzurücken - im Interesse dessen, was sie für Wahrheit hielt. Ich werde es nie mehr wissen. Als ich groß genug war, solche Fragen ernsthaft zu stellen, marschierten Hitlers Truppen in Österreich ein, ich floh nach England, aber meine Großmutter blieb zurück, und ich sah sie nie wieder.«

[Nach: Erich Fried , Mitunter sogar Lachen, Wagenbach: Berlin 1986.]

M 3 Hiltrud Hainmüller: Das »selbstgemalte« Bild

Im Alter von acht Jahren, das war 1959, hatte ich aufgrund eines Stellenwechsels meiner Mutter bereits den zweiten Schulwechsel hinter mir und schon einige Erfahrungen gesammelt, mich als »Neue« in einer Schulklasse behaupten zu müssen. Es ging unter anderem darum, die Anerkennung des Lehrers zu gewinnen, denn die war maßgebend für die Integration in den gesamten Klassenverband. [ .. ] An einem langweiligen Wochenende kam ich auf die Idee, mir die Zeit damit zu vertreiben, ein Bild zu malen, das ich dem Lehrer als freiwillig geleistete Hausaufgabe am Montag präsentieren wollte. Dadurch bestand auch Gelegenheit, dem anwesenden Freund der Mutter zu entfliehen, gegen den ich eine tiefe Abneigung hegte. Er hatte jedoch eine Fähigkeit, mit der er mich in der Tat beeindrucken konnte: Er konnte zeichnen, und ich war beeindruckt von der Präzision, mit der er »nach der Natur« malen konnte. Ob ihm mein Bild von einem Dampfer, der auf offener See durch die Wellen gleitet, gefallen würde? Ich zeigte ihm voller Stolz mein Gemälde, wurde dafür auch gebührend gelobt. Ich freute mich, Beachtung gefunden zu haben, und war dann äußerst überrascht, dass »der Meister selbst« - wie er sich nannte - zum Pinsel griff und mein Bild mit einigen wenigen Strichen veredelte: Deckweiß auf die Wellen als Schaumkronen und leichte farbige Schwünge, um zu zeigen, dass da Fähnchen im Wind flattern. Ich musste zugeben, dass das Bild jetzt mehr Schliff hatte und auch die heitere Stimmung, die mir beim Motiv vorschwebte, noch besser zur Geltung kam. So überwog denn auch bei der Ambivalenz. der Gefühle gegenüber dem Maler - einerseits Abneigung wegen der ungefragten Einmischung in mein Werk, andererseits Anerkennung der künstlerischen Vollendung desselben - die Dankbarkeit. Am folgenden Tag präsentierte ich das Werk in der Pause dem Lehrer: Er war begeistert. Ich erklärte, ich würde ihm das Bild schenken. Mich durchströmte ein warmes Glücksgefühl, bis er begann, das Bild zu kommentieren: »Toll - besonders die Bewegung der Wellen durch die Schaumkronen!« Ich schluckte und bekannte nach kurzem, heftigem inneren Kampf: »Die hat der Freund meiner Mutter gemalt.« Daraufhin sah er mich prüfend an und sagte: »Na, und erst diese lustig bewegten Fähnchen! « - »Die hat auch der Freund gemalt.« Der Lehrer wurde rot vor Zorn, verpasste mir eine kräftige Ohrfeige, zerriss das Bild und sagte: »Ich will kein Bild, das jemand anderes gemalt hat.« Meiner Mutter und ihrem Freund gegenüber verschwieg ich über lange Zeit den Vorfall. Ich betrachtete ihn als schmerzliche Niederlage, für die ich mich zutiefst schämte.

[Aus: H. Hainmüller, Autobiografische Aufzeichnungen (unveröffentlichtes Manuskript)]

M 4 Ljudmila Ulitzkaja: Das Ende der Geschichte

Die dreizehnjährige Ljalja schwänzt in regelmäßigen Abständen die Schule, besucht in dieser Zeit ihre Tante Shenja, der sie ihre Liebe zu einem weitläufig verwandten Künstler gesteht. Sie berichtet von leidenschaftlichen Liebesszenen, die sich ebenfalls in regelmäßigen Abständen in den Morgenstunden - also während der Schulzeit - im Atelier des Künstlers abspielen , während seine Frau in ihrer Praxis als Frauenärztin tätig ist. Ljalja bittet Shenja darum, ihr die Pille von eben dieser Frauenärztin unter einem Vorwand zu besorgen. Shenja ist einerseits entsetzt, andererseits voller Verständnis und Mitgefühl für die erste große Liebe in Ljaljas Leben. Sie besorgt ihr zu ihrem Schutz die Pille, drängt aber darauf, dass das Verhältnis beendet wird. Ljalja schade dem Künstler, so argumentiert sie, denn er würde im Gefängnis landen, wenn die Sache publik würde. Außerdem solle Ljalja auf ihre Eltern Rücksicht nehmen, die sicher bei Bekanntwerden der Affäre bloßgestellt wären.

Diese Argumente prallen an Ljalja ab, denn sie kennt sich bestens in der Doppelmoral der Erwachsenen aus. Mila hält sie für viel zu geldgierig, als dass diese ihren Ehemann hinter Gitter bringen würde, und ihrer Mutter billigt sie erst recht kein Urteil in moralischen Fragen zu, da sie weiß, dass diese ein Verhältnis mit dem Onkel, dem Bruder des Vaters hat, wobei sie der Mutter dieses Verhältnis sogar zugesteht, da sie den eigenen Vater für unerotisch hält und ihm sexuelles Desinteresse unterstellt. Shenja ist verblüfft über die Ein sichten ihrer Nichte und merkt, dass dieser mit Argumenten nicht beizukommen ist. Dennoch will sie aus Verantwortung für die Minderjährige das Verhältnis beendet sehen, weshalb sie sich schweren Herzens aufmacht, den Künstler selbst zur Rede zu stellen. Dieser weist zunächst die Einmischung in seine Privatsphäre brüsk zurück, gibt aber verlegen zu, eine Geliebte zu haben. Als Shenja ihn daraufhin des sexuellen Missbrauchs bezichtigt, stellt sich heraus, dass der Künstler Ljalja nur flüchtig kennt. Befreit lachen beide, weil die Situation einer gewissen Komik nicht entbehrt. Shenja war den Fantasien einer Dreizehnjährigen aufgesessen und hat den Künstler durch die Konfrontation mit der vermeintlichen Wahrheit in die Verlegenheit gebracht, seine tatsächliche Affäre gegenüber einer Verwandten preiszugeben. Und nun das Ende der Geschichte: »Shenja wartete auf Ljaljas nächsten Besuch. Sie hörte sich ihre üblichen Ergüsse an. Ließ sie ausreden. Dann sagte sie: Ljalja, ich bin sehr froh, dass du die ganze Zeit zu mir gekommen bist und mir deine Erlebnisse mitgeteilt hast. Es war dir bestimmt sehr wichtig, mir diese Geschichte vorzuschwindeln, die es nicht gegeben hat. Du hast das alles noch vor dir: Liebe, Sex, einen Künstler [ ... ] Shenja konnte ihre vorbereitete Rede nicht zu Ende bringen. Ljalja war schon im Flur. Sie sagte kein Wort, griff nach ihrer Schultasche und verschwand für viele Jahre[ ... ] Erst viele Jahre später trafen sie sich bei einer Familienfeier, Ljalja war inzwischen eine erwachsene, sehr schöne junge Frau, verheiratet mit einem Pianisten. Sie hatte ihre kleine Tochter mit. Die Vierjährige trat auf Shenja zu und erklärte, sie sei eine Prinzessin. Das ist alles. Ende der Geschichte.«

[Aus: Ljudmila Ulitzkaja, Das Ende der Geschichte, in: Die Lügen der Frauen, München/Wien: Hanser Verlag 2003, S. 55-65, hier S. 65]

Hiltrud Hainmüller, erschienen in Ethik und Unterricht Heft 4/2004



[1] Simone Dietz, Die Kunst des Lügens, Reinbek 2002; Steffen Dietzsch, Kleine Kulturgeschichte der Lüge, Leipzig 1998.

[2] Ludwig Marcuse, Du sollst nicht lügen, in ders., Das Märchen von der Sicherheit, Zürich 1981.

[3] Ebenda, S. 127

[4] Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. 2003, S. 10.

[5] Butler, ebenda, S. 11

[6] Dietz (wie Anm. 1), zum Beispiel - der Schluss der Einleitung (S. 14 f.);Auszüge aus dem Kapitel »Grauzonen der Lüge: Höflichkeit, Werbung und andere kulturelle Eigenheiten« (S. 51 ff.);die Zusammenfassungen der Kapitel zu Gebrauch und Missbrauch der Sprache (S. 58 ff.) , zum praktischen Interesse an Vertrauen und Wahrheit (S. 100 ff.) oder zur Lüge als Angriff und Verteidigung der Freiheit (S. 141 ff.).

[7] Ebenda, S. 141 ff.

[8] Dietz, ebenda, S. 142 ff.

[9] Zu dem Buch von Erich Fried gibt es eine ausgezeichnete, von ihm selbst besprochene Hör CD, die sich auch im Unterricht einsetzen lässt.