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Über Armut sprechen

Vorschläge für den Unterricht in Sekundarstufe I und II

Hiltrud Hainmüller

1. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - Über den Zusammenhang von Lebenslagen, Lebensqualität und Armut

Viele Schülerinnen und Schüler befinden sich - was ihre schulische und berufliche Laufbahn betrifft - in einer Übergangsphase, die durch große Unsicherheit gekennzeichnet ist: Wozu eigne ich mich? Worin bestehen meine Interessen und Fähigkeiten? Wem bin ich etwas wert? Was kommt nach der Schule, wenn ich sie überhaupt schaffe? Bekomme ich eine Lehrstelle, die meinen Vorstellungen entspricht? Gelingt es mir, einen Beruf zu erlernen, in dem ich auch entsprechend verdiene? Werde ich überhaupt einen Arbeitsplatz finden? Das Schreckgespenst eigener zukünftiger Arbeitslosigkeit steht manchem vor Augen. Häufig sind auch die eigenen Eltern bereits das Opfer von Entlassungen geworden oder müssen um ihren Arbeitsplatz bangen. Die unterrichtliche Aufarbeitung von Berichten, Meinungen und Erkenntnissen über die tatsächlichen oder für möglich gehaltenen Irrfahrten im Labyrinth der sozialen Wirklichkeit in Deutschland enthalten ein reiches Potential an Betroffenheit und Erfahrungen mit unterschiedlichen Lebenslagen, das im Ethikunterricht unbedingt ausgeschöpft werden sollte! Schicksalsschläge, Demütigungen, Resignation, aber auch der Kampf um eigene Rechte, das Ringen um einen Neuanfang, die Bedeutung des sozialen Status, das Erkennen eigener Werte bis hin zur Frage, worüber sich Menschen letztlich definieren. Wenn Schüler merken, dass es anderen an einigen Stellen ähnlich ergangen ist wie ihnen selbst, löst sich unter Umständen der Knoten beständiger Stigmatisierungen im Sinne »individuellen Versagens«. Dann gibt es Raum für Diskussion von Lösungswegen, über die viele bisher überhaupt noch nicht nachgedacht hatten. Die Voraussetzung für einen solchen Unterricht besteht allerdings darin, dass ein Dialog zustande kommt, bei dem jeder dem anderen zuhört, keine Diskriminierung oder Wertung vorgenommen wird, Ängste geäußert werden dürfen, aber auch Überlegungen über Veränderungsmöglichkeiten und zwischenmenschliche Solidarität dürfen nicht fehlen.

Was ist Lebensqualität? Worüber verfügen – was brauchen wir?

Im Nachdenken über die eigenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung stellen sich unmittelbar weitergehende Fragen: Was braucht der Mensch, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Wo beginnt Lebensqualität, wer hat sie und wer nicht? Welche Bedürfnisse, Wünsche und Lebensziele habe ich selbst? Was »brauchen« wir (ich) unbedingt, worauf können wir (ich) verzichten? Welche Werte haben für uns (mich) Vorrang vor anderen? Der vielfach geäußerte Hedonismus-Vorwurf gegenüber Jugendlichen (»Die wollen alles - und zwar subito«) ist für solche Betrachtungen wenig hilfreich. Jugendliche leben nun einmal im »Hier und Jetzt«, sind Heranwachsende mit einer gehörigen Portion Hunger nach Leben, nach Freundschaften, nach Erlebnissen in der Freizeit. Die Loslösung vom Elternhaus, auf die ein Teil des Autonomiestrebens in der Adoleszenzphase abzielt, ermöglicht ja erst die Herausbildung eines eigenen Lebensstils, ist also ein kreativer Prozess der Selbstfindung. Die Ausgangsbedingungen für diesen Prozess sind freilich durchaus unterschiedlich. Das familiäre Erziehungs- und Beziehungsangebot reicht von »äußerst reichhaltig« bis »mehr als dürftig«. Die Lebenslage der Eltern spielt dabei keine unerhebliche Rolle: Viele Jugendliche in Haupt- und Berufsschulen stammen aus einkommensschwachen Familien. Chronischer Geldmangel bis hin zur »verdeckten Armut« in der Familie bedeutet hier nicht nur den monetären Verzicht auf die »Errungenschaften« der Konsumgüterkultur gleichaltriger Jugendlicher, sondern auch eine weitergefasste Einengung vieler anderer Lebensbereiche - vom Zugang zu Bildungschancen bis hin zur Freizeitgestaltung. »Armut bedeutet für Kinder niedrigere Schulabschlüsse und weniger Training im Umgang mit Sprache und Lesestoff. Armut bedeutet für Kinder die Verinnerlichung des mangelnden Selbstwertgefühls der Eltern, bedeutet die unfreiwillig und nicht intellektuell zu verarbeitende Erfahrung, weniger zu haben als andere Kinder. Armut bedeutet schlechtere Ernährung und die Beschränkung des sozialen Umfeldes. Armut bedeutet für Kinder häufig das Erleiden von Aggression und Gewalt. Kinder aus sozialen Spannungsgebieten müssen sich von weiter unten hochkämpfen, müssen die Verhaltensweisen, die die Höherstellung signalisieren, erst mühsam erlernen - während Kinder aus Mittelschichts- und Bildungsbürgerfamilien sie quasi mit der Flasche einsaugen.« [1] Das Thema Armut kann vor diesem Hintergrund nicht als Problem von Statistiken behandelt werden.

Wie frustrierend ist es für einen Schüler, wenn er sich oder seine Familie bei einer Einkommensstatistik der Bundesrepublik auf dem untersten Rang der Skala wiederfindet? Soziologendeutsch wirkt oftmals diskriminierend. Um sich im Unterricht der Frage der Armut anzunähern, erscheint es deshalb eher angebracht, von konkreten Grundbedürfnissen, Grundversorgung, Lebensstandards und Lebenslagen auszugehen als von abstrakten Armutsbegriffen. Dieser »subjektive Zugang« hat das Ziel, dass erst einmal alles auf dem Tisch liegen muss, was an Bedürfnissen und Wünschen in den Köpfen der Schüler herumspukt. Völlig überzogene, maßlose Vorstellungen sollten dabei ebenso artikuliert werden können wie der Neid und eventuelle Hass auf die, die es besser oder angeblich besser im Leben haben. Erst wenn dieser »Stand der Dinge« offenliegt, können Fragen wie die Legitimierung von Bedürfnisstrukturen, Realisierungschancen von Wunschbildern, Gleichheitsgrundsätze etc. behandelt werden. Wird im Unterricht zunächst zwischen »materiellen« und »immateriellen « Werten unterschieden, so kann in einem weiteren Schritt untersucht werden, inwieweit die Erfüllung ideeller Werte auch an ein bestimmtes Existenzminimum gekoppelt ist. Erst auf diesem Weg kann die Bedeutung und Funktion der sozialen Sicherungssysteme gegen Armut und die Beurteilung von Mangelzuständen in unserer Gesellschaft verdeutlicht werden.

Dazu die folgenden Unterrichtsvorschläge:

A. Der Wunschzettel des Herzens – Wandzeitungen im Vergleich

Die Weihnachtszeit ist die Zeit, in der das Wünschen ganz offiziell angesagt ist. Das gilt zunächst für die materiellen Wünsche: Kiloweise flattern in die bundesdeutschen Haushalte Kataloge, Anzeigen, Angebote, durch die uns spätestens jetzt klar wird, was wir eigentlich noch alles brauchen könnten. Schüler können darauf hoffen, durch gnädige Verwandte so manchen heißersehnten Wunsch endlich erfüllt zu bekommen. Auch über immaterielle Wünsche wird in der kalten Jahreszeit verstärkt nachgedacht. Die Gesellschaft entdeckt ihr soziales Gewissen. So veröffentlichen viele Zeitungen zu diesem Zeitpunkt in ihren Lokalteilen zumeist Einzelschicksale von Menschen, die in Not geraten sind, und fordern ihre Leser zu Spenden auf. In Freiburg geschieht dies unter dem Stichwort »Aktion Weihnachtswunsch«. Hier findet der Lehrer jede Menge Fallbeispiele zur Armut! Ich erstellte mit Schülern zwei riesengroße Wandzeitungen. Die eine mit der Überschrift: »Mein Wunschzettel«. Jeder Schüler konnte auf einem oder zwei Din-A4-Blättern seinen eigenen Wunschzettel gestalten. Dabei konnte er ein Arrangement aus Katalogen ausschneiden oder selber zeichnen. Erwartungsgemäß fanden sich folgende Gegenstände: Motorräder, Autos, HiFi-Anlagen, CDs, auch Kleidungsstücke, Duftwässerchen, Sportgeräte und -Ausrüstungen. Überraschend war, wie einzelne Schüler ihren Wunschzettel äußerst individuell gestaltet haben. So haben sich einige liebevoll ein eigenes Zimmer eingerichtet, ein anderer hat sich einen Musikübungsraum mit Zubehör für die eigene Band erträumt...

Der zweiten Wandzeitung gaben die Schüler die Überschrift »Wunschzettel des Herzens«: Dazu gehörte der Wunsch nach Liebe, Freundschaft, Freiheit, Gesundheit, Harmonie, Zufriedenheit usw. Jeder Schüler hatte die Aufgabe, sich einen Begriff zu wählen und dazu nach eigener Phantasie ein Bild oder Symbol zu malen. Diese Wandzeitung wurde – nach anfänglichem Zögern - mit viel Hingabe und Phantasie erstellt: Die Schüler brachten stimmungsvolle Landschaftsphotos, malten Symbole wie Herz, Friedenstaube, Äskulapstab, sowie Bilder von jener Insel, die die ersehnte Rückzugsmöglichkeit bietet, usw. Die Schüler hatten so die Gelegenheit, ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Sie konnten feststellen, welche Wünsche von anderen geteilt wurden und in welchen Wunschbildern ihre Individualität zum Ausdruck kommt. In der Fähigkeit, sich etwas wünschen zu können, zeigt sich nicht nur der Mangel (das, was ich nicht habe), sondern auch der Reichtum (der Reichtum der Ideen, die ich entwickle). Ich lerne andere mit ihren Bedürfnissen wahrzunehmen, und werde mir selbst über eigene Vorstellungen bewusster. Anschließend werteten wir die Wunschzettel unter folgenden Fragestellungen aus.

Welche Möglichkeiten habe ich, mir den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen? Was kann ich selbst dazu beitragen? (Z.B. materiell: Ich kann mir etwas dazuverdienen, aber Vorsicht! Schule und Freizeit dürfen nicht zu kurz kommen. Ideell: Wenn ich gute Freunde haben möchte, muss ich selbst freundschaftsfähig sein usw.)

Welche Erwartungen stelle ich an Familie, Verwandte, Freunde? (Was kann ich von meinen Eltern erwarten, sowohl materiell als auch ideell?) Welches Maß an Geborgenheit und Zuwendung wünsche ich mir? Was nehme ich - vielleicht ganz selbstverständlich? - Dankbarkeit? Wo empfinde ich Mangel? Was bin ich selbst bereit, ihnen gegenüber aufzubringen?

Welche Erwartungen stelle ich an die Gesellschaft? (Materiell: Arbeitsplatz, ein intaktes Gesundheitswesen, Gerechtigkeit versus Ungleichheit.)

In einer dritten Wandzeitung stellten wir einzelne Biographien aus der »Aktion Weihnachtswunsch« zusammen. Wir untersuchten sie nach folgenden Fragestellungen:

  • Was wünschen sich Menschen, die in Not geraten sind? (Hier tauchen viele Dinge auf, die für viele von uns ganz selbstverständlich sind, z.B. Waschmaschine, Haushaltsgeräte, Decken, neue Möbel etc.) Deutlich wurde an diesen Wünschen: Es geht dabei für die Betroffenen um das Überleben. Jetzt war die Möglichkeit gegeben, im Unterrichtsgespräch durch einen Vergleich unserer Wunschzettel und der Biographien die Frage zu stellen: Was ist Lebensqualität? Über welche Güter sollte jeder Mensch verfügen können, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können?
  • Was können diese Menschen selbst tun, um ihre Not zu lindern? Gesprächsgesichtspunkte: Oft herzlich wenig. Sie müssen an die Öffentlichkeit treten und um Dinge bitten, die eigentlich selbstverständlich sind. Die Rolle des Bittstellers ist beschämend und demütigend. Es erfordert viel Mut, die Schwelle zu überschreiten, die eigene Armut einzugestehen und von anderen die eigentlich selbstverständlichsten Dinge zu erbitten.[2]
  • Was können sie von Freunden und Verwandten erwarten? Oft gar nichts. Armut führt in die Vereinsamung.
  • Was können sie von der Gesellschaft erwarten? Welche Rechte werden ihnen zugestanden? Hierzu wird eine Statistik über die Regelbezüge der Sozialhilfe (Abb. 1) vorgelegt sowie die Grundzüge des »Netzes der sozialen Sicherheit« erklärt. Ist die Sicherung ausreichend, welchen Charakter haben Almosen? Alle drei Collagen wurden dann öffentlich im Schulhaus ausgehängt. Wir konnten beobachten, wie Schüler aus anderen Klassen immer wieder davorstanden, selber kleine Bemerkungen oder Bilder hinzufügten und so ihr Interesse zeigten.

B. Ein Tucholsky-Gedicht umschreiben

Die Wandzeitungen wurden zusätzlich als Kulisse für eine kleine Theaterszene verwendet, die wir bei der Weihnachtsfeier der Schule aufführten. Grundlage der Theaterszene war ein Gedicht von Kurt Tucholsky, das wir umgedichtet und anschließend szenisch dargestellt haben. Hier das Ergebnis: (Die kursiv gesetzten Strophen bilden den Originaltext)

Das Ideal - (von Kurt Tucholsky, 1928)[3] oder: Was uns zum Glück fehlt

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße

mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn -
und abends zum Kino hast du 's nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit.

Ja, das möcht ich:
Ein Penthouse am Stadtrand mit großer Terrasse,
vorne das Meer, hinten die Einkaufsstraße,
mit Partykeller, das ist doch klar,
und einer gutbestückten Bar.
Mit Super-Aussicht, brauchst dich nur zu drehn,
vom Badezimmer aus ist die Nachbarin zu sehn.
Und abends zur Kneipe hast du's nicht weit,
immer cool, mit Gelassenheit.

Neun Zimmer - nein, doch lieber zehn!

Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehen,
Radio, Zentralheizung und Vakuum,
eine Dienerschaft, gut erzogen und stumm.

Neun Zimmer - nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten - da hab ich meinen Privat-Jet stehn,
Hi-Fi, Disco, Solarium,
einen Roboter, der läuft wie geschmiert und ist stumm.

Eine süße Frau voller Rasse und Verve -
(und eine fürs Wochenend zur Reserv') -

Ne »geile Tussi« voll Rasse und Lust,
vertreibt dir am Wochenende den Frust.

eine Bibliothek und drumherum,
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Mal Bodybuilding im Studio,
mal Relaxen mit Sauna und Video.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,

acht Autos, Motorrad - alles lenkste
natürlich selber - das wär ja gelacht.
und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

In der Garage ein Lamborghini und ein BMW
Für die Frau den Manta -
aber - oh jeh!
den fahr ich selber -
das wär ja gelacht,
nicht, dass es gleich beim ersten Mal kracht.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche - erstes Essen -
alte Weine aus schönem Pokal -
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Mega-Küche - bestes Essen,
Schlemmermenues im Nobellokal
und trotzdem bleibste schlank wie ein Aal.

Und Geld und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.

Steile Karriere, beste Position,
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Und Reisen von Moskau bis nach Hawaii -
meine Rolex und Canon sind immer dabei -
mal ausgeflippt, mal durchgestylt,
forever young - genieß die Zeit!
Bloß keine Kinder und Ehefrau -
nur Freiheit zählt - Gott, bin ich schlau!
Ja, das möchste:
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheint's so, als sei es beschieden,
nur pö-a-pö, das irdische Glück,
immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käthen;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten -

Ja, das möchste:
Aber wie's so ist »in diesem unserem Lande« -
mancher Wahn versickert im Sande,
manches kriegt man nur Stück für Stück,
und immer fehlt uns ein Teil vom Glück.
Hast du Moos, dann fehlt dir die Grete -
hast du 'ne Frau, dann fehlt dir die Knete.
Kohl wollt' die Einheit, jetzt fehlt ihm das Geld -
»Wir sind das Volk!« - Was kostet die Welt?

Hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer;
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher:

Du wärst gern James Dean,
doch auch der biss ins Gras,
bald fehlt uns der Drink, bald fehlt uns das Glas.

Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten soviel: Haben. Sein. Und gelten.
Dass einer alles hat: das ist selten. 

Das Gedicht wurde von zwei Schülern abwechselnd vorgetragen (Erst die Originalstrophe, dann die jeweils dazugehörige Umdichtung). Hinter den Vortragenden wurden gleichzeitig passende Szenen zu den Strophen von Schülern stumm aufgeführt. Am Schluss warfen die Schüler (falsche) 500 D-Mark-Scheine in die Menge.

Warum eignet sich das Gedicht für den Unterricht?

  1. Es beinhaltet eine historische Dimension: einige Wünsche, die zu Zeiten der Weimarer Republik artikuliert wurden, kommen Schülern heute fremd oder lächerlich vor. Andere Wünsche überdauern. 
  2. Es enthält eine Mischung von materiellen und ideellen »Idealen«, zeigt die Verkoppelung dieser beiden Bereiche. 
  3. Liebevoll beleuchtet wird die menschliche Eigenschaft, immer zwei sich ausschließende Dinge gleichzeitig haben zu wollen, sowie das menschliche Streben nach Haben und Sein. 
  4. Es macht einfach Spaß zu dichten. Neben sprachlicher Ausdrucksfähigkeit wird auch so etwas wie die Fähigkeit zur Selbstdistanz eingeübt.

C. Das »Lifestyle-Museum«

Die »Museums-Methode« basiert auf einer Idee von Prof. Xaver Fiederle (PH Freiburg). Die Methode ist assoziativ. Das Vorwissen von Schülern kann aktiviert werden, sie lernen, sich zu artikulieren (Sprechanlass), finden Zugang zu eigenen Gefühlen und Wertungen, lernen, Vorstellungen anderer wahrzunehmen, und können ihren Horizont um Dinge oder Abläufe, über die sie bisher noch nicht nachgedacht haben, erweitern. Die Museumsmethode kann zu verschiedensten Themen angewandt und jeweils variiert werden. Beim Lifestyle-Museum bringt der Lehrer unter dem Motto »Jugend in den 90ern« verschiedenste Gegenstände mit, die im Klassenzimmer ausgestellt werden: HiFi-Anlage, CDs, Flying Horse, Red Bull, Sportgeräte (z. B. Fußball, Boxhandschuhe, Hockeyschläger, Skateboard), Hamburger, Diesel- oder Levis-Jeans, Baseballmütze, eine Packung Müsli, ein kleines Modellauto, Rollerskates, ein dickes Sparbuch, einen Gameboy, Haar Gel, Parfum usw. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt! Die Schüler dürfen sich in Ruhe in diesem Museum umsehen (sie stellen sofort fest, was da alles noch fehlt, oder stürzen sich begeistert auf den einen oder anderen Gegenstand). Doch zunächst gelten die Regeln des Museums: Bitte die Gegenstände nicht berühren! Danach nimmt sich jeder Schüler einen Gegenstand. Im offenen Gesprächskreis nimmt jetzt jeder zu seinem Gegenstand Stellung. Warum hat er ausgerechnet diesen Gegenstand genommen, was verbindet er damit? Braucht er diesen Gegenstand unbedingt zum Leben, oder könnte er auch auf ihn verzichten? (unter welchen Umständen?). Jeder darf Stellung nehmen, die Stellungnahme wird nicht gewertet. Zusatzfragen dürfen gestellt werden. Anschließend versuchen wir, nach den Kriterien: »Unbedingt nötig« oder »unnötig« die Gegenstände zu ordnen, und fertigen eine Liste über das an, was im Museum fehlt. Über einige Gegenstände wird man sich schnell einig, an anderen entzündet sich eine muntere Debatte. Anschließend erfolgt die Überleitung zur Frage nach der Lebensqualität und den Grundbedürfnissen. Jeder Schüler erstellt für sich selbst einen Warenkorb (wer Lust hat, kann diesen malen) und versucht, in etwa einen eigenen geldlichen Monatsbedarf für seinen Warenkorb zu errechnen. Diesen Ansatz vergleichen wir mit dem Sozialhilfesatz, den der Lehrer als Material bereitstellt.

2. »Oh - Think twice« - Über den Zusammenhang von Ursachen, Ächtung und Verdrängung von Armut

Arm zu sein bedeutet in unserer Gesellschaft, von den meisten Menschen als der »letzte Dreck« angesehen zu werden. Stigmatisierungsmuster und Schuldzuweisungen (»Wer arm ist, ist selbst schuld, ein Versager, ein Nichts«) sind bei Schülern nicht weniger verbreitet als bei Erwachsenen. Erstaunlicherweise bezeichnen gerade solche Jugendlichen, die selbst oder deren Familien armutsgefährdet sind, andere als »assig «, was so viel wie »asozial« bedeutet. Die Angst vor einem möglichen eigenen Absturz dient als Projektionsfläche für Ausgrenzungen und Abweisungen. Konsequenterweise wird deshalb auch die Notwendigkeit der Hilfeleistung für Arme geleugnet. Armut wird aber nicht nur geächtet, sie wird - was noch weitaus schlimmer ist - ignoriert, v.a. die offensichtlichste Form der Armut, die Obdachlosigkeit: »Die Gesellschaft nimmt die Obdachlosen im allgemeinen überhaupt nicht wahr. (...) Ein wesentlicher Grund für die Verdrängung scheint mir darin zu liegen, dass die Obdachlosen Opfer vielfältiger Formen von Gewalt sind und für uns damit zu einer Existenzform menschlichen Leids werden, mit der wir uns nicht konfrontieren wollen. Sie, die buchstäblich am Rande der Gesellschaft dahinvegetieren, stellen unser Ideal eines Wohlfahrtsstaats radikal in Frage. Fragwürdig wird angesichts ihres Elends auch unser Bemühen darum, Menschen, die in Not sind, wirkungsvoll zu helfen.«[4]

Ächtung, Ignoranz und Gleichgültigkeit charakterisieren das Verhältnis unserer Gesellschaft zur Armut schon lange. In erschreckendem Maß nimmt jedoch die Auffassung zu, Arme seien Freiwild. Viele Gewalttaten von Jugendlichen richten sich gegen Menschen, denen es augenscheinlich schlechter geht als ihnen selbst. So teilte mir beispielsweise ein Schüler mit, der aus sehr armen Verhältnissen stammt und große Probleme mit seinen Eltern und dem Alkohol hat, dass er selbst nicht mehr begreifen kann, wieso er gemeinsam mit einem Kumpel einen Obdachlosen zusammengeschlagen und ihn um ganze 3,60 DM beraubt hat. Gleichzeitig gestand er ein, Angst vor eigenen weiteren Gewalttaten zu haben, obwohl er sie selbst eigentlich nicht mehr begehen möchte. Für diesen Schüler reduzierte sich der Kampf um seinen Rang auf der sozialen Stufenleiter nur noch auf die Ebene der Hackordnung: Schwache gegen noch Schwächere, Arme gegen Ärmere, allein gegen alle - er dürfte nicht unbedingt die Ausnahme unter Berufsschülern darstellen. Die »Mauern im Kopf« werden im Prinzip in zwei Richtungen aufgerichtet: gegenüber denen, die sich an den Rändern der Gesellschaft bewegen, und gegenüber jenen, die es im Leben besser haben oder besser haben werden (z. B. Gymnasiasten!). Das unterrichtliche Aufbrechen und Aufarbeiten dieser Stereotype ist besonders schwer. Dazu die folgenden Unterrichtsvorschläge:

A. Phil Collins im Unterricht

Phil Collins ist einer der bekanntesten Rocksänger der Gegenwart und gleichzeitig einer der wenigen, der von den meisten Jugendlichen - unabhängig von sonstigen Musikrichtungen - akzeptiert wird. Phil Collins besticht durch seine Bescheidenheit und die Authentizität seiner Texte. Wie so oft erkennen Jugendliche diese Lieder an der Melodie, sie können den Refrain mitsingen, mit den Texten setzen sie sich in den seltensten Fällen auseinander. Bei den Texten von Phil Collins lohnt es sich jedoch, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Hier der Text eines seiner bekanntesten Lieder, wochenlang die Nr. 1 in den Musikcharts.

Another day in paradise

She calls out to the man on the street:
»Sir, can you help me?
It's cold and l've got nowhere to sleep.
ls there something you can tell me?«
He walks on, doesn't look back;
He pretends, he can hear her
starts to whistle as he crosses the street
seems embarrassed to be there
Oh, think twice,
it 's just another day for you and me in paradise
just think about it
She calls out to the man on the street
he can see she's been crying
she' s got blisters on her soles and her feet
she can't walk but she's trying
Oh, think twice,
it's just another day for you and me in paradise
just think about it
Oh, Lord, is there anything
for anybody who can do?
Oh Lord, must be something
you can say...
You can tell by the lines on her face
You can see that she's been there
probably been moved on from every place
'cause she wouldn't fit in there
Oh, think twice,
it's just another day for you and me in paradise
just think about it

Ich habe zum Text folgende Arbeitsfragen gestellt:

  1. Wie reagiert der Mann auf die Frau, die ihn um Hilfe bittet?
  2. Wie geht es dir selbst, wenn du an Obdachlosen vorbeiläufst? Welche Gefühle hast Du beim Anblick dieser Menschen? Würdest du ihnen etwas geben? Läufst du schnell vorbei?
  3. Was sagt Collins über den Zustand der Frau aus? Worauf führt er den Zustand zurück?
  4. Was weißt du über Obdachlosigkeit?
Während ich das Lied abspielen lasse, lege ich über den Overhead Bilder zur Obdachlosigkeit auf. Ausgezeichnete Bilder gibt es in dem Buch »Homeless«[5]. Als ergänzendes Material sind nützlich: Zahlen über Obdachlosigkeit, Tagessätze für Obdachlose etc. Als Vertiefung der Thematik bietet sich auch an, authentische Dokumente über die jeweilige Situation von Obdachlosen im lokalen Umfeld im Unterricht zu behandeln. Ich habe für meine Schüler einen Bericht aus Freiburg gewählt, weil die Schüler die genannten Plätze kennen. Sie können sich den Ort besser vorstellen als eine Szene aus einer x-beliebigen Großstadt. Jeder Lehrer kann solche Dokumente in seinen jeweiligen Lokalnachrichten finden.[6]


Sozialhilfe Regelsätze 1992

B. Aus dem Innenleben der Armut – Kontraste zwischen arm und reich

Die Schüler erhalten die Aufgabe, je 30 Begriffe zu Armut und Reichtum aufzuschreiben. Sie können dabei etwa folgende Ergebnisse erwarten:

Armut: keine Wohnung haben, wenig zu essen, betteln, Penner, Kiffer, Drogen, Diebstahl, Dreck, Alkohol, Verwahrlosung, keine Hilfe, Faulheit, Hunde, schlampig, versifft, asozial, Sozialhilfe, keine Arbeit, kein Geld, Krankheit, Behinderung, Straßenkinder, Schwarzarbeit, Gewalt, Schulden haben, herumtreiben, ...

Reichtum: viel Geld haben, Häuser besitzen, teure Klamotten, Swimmingpool, Claudia Schiffer, Michael Jackson, Banker, Manager, Steuerhinterziehung, Vetterleswirtschaft, Politiker, Amigo, Mafia, sich alles leisten können, Bonzen, arrogant sein, Autos mit Computer und Funktelephon, Reisen, Luxushotel, Schmarotzer ...

Diese Methode ist wiederum assoziativ. Die Schüler machen Aussagen darüber, wer arm/ reich ist, wie er sich verhält, was er sich leisten kann. Sie gehen auch indirekt bereits auf Ursachen ein und geben Wertungen ab. 

Ein anschließender Vergleich der Listen zeigt, daß die Vorstellungen an einigen Stellen stark voneinander abweichen, da es darauf ankommt, aus welcher Sicht die Definition vorgenommen wird. Also beschäftigen wir uns zunächst mit Aussagen Betroffener, um zu sehen, wie sie selbst ihre Lage sehen, wen sie verantwortlich machen, was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Ihr Bett ist der Abfalleimer- und kaum einer nimmt Notiz davon.[7]

Aus einem Interview mit Birgit, 32 Jahre alt:

»Zuerst habe ich die Wohnung, dann die Arbeit verloren. Hinzu kamen familiäre Probleme. Und irgendwann war ich dann ganz unten«. Birgits Stationen auf der »Platte«: Unterkunft für Wohnsitzlose in der Bölckestraße, die geschlossen wird. Mitglieder der Heilsarmee fahren sie zu einer Grillhütte in St. Ottilien. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt findet sie die Grillhütte geräumt vor, der Förster hatte ihre persönlichen Sachen weggeschmissen. Anschließend verbringt sie die Herbstnächte im Stühlinger und unter Dreisambrücken. Dann schläft sie auf einem überdachten Parkplatz in Bahnhofsnähe, andere kriechen in Abfallcontainer, um sich vor der Kälte zu schützen. Im Haus nebenan wohnt eine »Mutti«, wie sie sie nennen. Sie schaut nach den nächtlichen Besuchern, bringt den Hunden Wasser und stellt einen Besen bereit, damit alles wieder sauber ist und keiner was merkt, wenn sie morgens um 6 Uhr zusammenpacken und ihre Habseligkeiten in einem Abfallcontainer verstauen. Von der Bahnhofspolizei wird sie aus der warmen Bahnhofshalle vertrieben. Aufwärmen kann sie sich in der »Wartburg«, einer Anlaufstelle für Wohnsitzlose vom Diakonischen Werk, dort kann sie sich einen Tee kochen und duschen. Leider ist die Stelle übers Wochenende geschlossen. Essen kann sie bei den Liobaschwestern in Günterstal. Birgit gibt zu, daß es schon Leute gibt, die sich um sie kümmern, aber das wichtigste, nämlich eine Wohnung, bekommt sie nicht, und erst recht nicht, weil sie einen Hund besitzt. »Ich sterbe lieber auf der Platte, ehe ich mir das letzte, was ich noch habe, nämlich meinen Hund, nehmen lasse. Jedes Jahr sterben hier Leute und kaum einer nimmt Notiz davon.«

Arbeitsfragen zu diesem Text könnten lauten:

  • Was wünscht sich Birgit am sehnlichsten?
  • Von welcher Seite droht ihr Gewalt?
  • Von wem erhalten Obdachlose Hilfen?
Schloafanzüg für die Buam

Ein Auszug aus einer Reportage über ein Kleiderlager des Sozialamts in München.[8]

„Es wird wenig geredet. Die Kleiderausgabe ist ein stummer Akt auf beiden Seiten. Jeder möchte diesen Vormittag so schnell wie möglich hinter sich bringen. Nur wenn es nicht zügig weitergeht, wenn jemand zu lange in einer der beiden Umkleidekabinen verweilt, drängen die Nachfolgenden ärgerlich: »Moachens oaber jetzt moal voran, und schloafens net ein«, sagt jemand. Doch dann passiert es: Ausgerechnet die freundlichste der Mitarbeiterlnnen, die früher mit einem Rundfunkjournalisten zusammenlebte, durch die Trennung in die Sozialhilfe stürzte und hier einen neuen Anfang fand, die auch mal sagt: »Das steht Ihnen gut«, ausgerechnet die, die fast so freundlich ist wie eine richtige Verkäuferin in einem Modegeschäft, verliert die Nerven. Einer Frau, die sich weder für den beigefarbenen Popelinemantel noch für den etwas zu großen schwarzen Wollmantel entscheiden kann und sich unschlüssig im Spiegel dreht, brüllt sie entgegen: »Jetzt hören Sie auf, für diesen Modefirlefanz haben wir keine Zeit«, nimmt demonstrativ einen Stempel in die Hand und drückt ihn auf den Bestellschein: »Annahme verweigert'« -»Was?!« protestiert die Angesprochene, schaut kurz auf und schlägt zu, haut ihr eine runter. Bevor Karl aufrauchen kann und sie einfach rausschmeißt, bleibt die Zeit für einen Moment stehen. Einen Moment lang verharrt jeder in seiner angefangenen Bewegung, ein Bild wie in einem Film, der plötzlich angehalten wird. Der Farbige, der eine Jeans vor dem in diesem Raum zynisch wirkenden Plakat »United Colours of Benetton« anprobiert, die geschiedene Frau im flauschigen Kunstpelz, die seit vier Jahren auf einen Kindergartenplatz für ihren Sohn wartet, um ihre Lehre als Fotoassistentin fortsetzen zu können, und gerade einen pinkfarbenen Anorak in der Hand hält, die vietnamesische Familie, die ihre Unterwäsche sortiert, der rotblonde, 36jährige ehemalige Fernsehtechniker, der wegen Depressionen seine Arbeit verlor und jetzt lange Unterhosen und eine Thermohose in eine Alditüte stopft, der junge Deutsch-Chilene, der bei einem Starkstromunfall beide Arme verlor und dem seine Oma, mit der er zusammenlebt, die Schuhe zubindet, sie alle sind starr vor Schreck. Für einen Moment lang wird die Routine der Armutsverwaltung von einer Frau durchbrochen, die einem simplen Impuls nachgeht: zurückzuschlagen. Alle im Raum haben diese hilflose Geste verstanden. Jeder spürt die Verrücktheit und Nutzlosigkeit, die in dieser radikalen Antwort liegt. Nach einer kurzen Aufregung geht alles seinen ganz normalen Gang, so als ob nichts geschehen wäre. Sogar die Mitarbeiterin des Sozialamts verzichtet auf eine Anzeige: »Noa, so a Watschn, des kommt vor, damit muaß man rechnen«. Die erstaunliche Gelassenheit nach diesem Zwischenfall erklärt eine andere Mitarbeiterin. Sie hat das typische großporige, rötlich glänzende Gesicht einer ehemaligen Trinkerin. Vor Jahren war sie einmal Gehilfin in einem Düsseldorfer Steuerberatungsbüro. »Daß wir jetzt hinter der Ladentheke stehen, ist doch der pure Zufall. Wir waren doch fast alle auch auf der Straße und wissen genau, was sich da in einem anstaut. Du bist der letzte Dreck, ob du dich aufhängst oder nicht, ob du krank bist, einsam, wen interessiert's. Es ist alles so roh, da wirst du selber roh«.

Ein weiterer Ansatzpunkt neben dem Vergleich von Arm und Reich ergibt sich, wenn man die Siehe eines jetzt betroffenen Armen hinzunimmt, der früher selbst ein aktiver Verfechter der bestehenden Wirtschaftsordnung war und aus dem System von heute auf morgen herausflog.

Der Terrier[9]

"Der Mann sieht nach Geld und nach Erfolg aus: nach einem Volvo in der Garage, nach Segeltörns, würzigen Herrenparfüms und edlen, englischen Tabakpfeifen. In diesem Stil lebte er früher auch mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. In Holland hatten sie sogar eine eigene Segelyacht vor Anker liegen. Doch Wilhelm Potthast hat alles verloren. Noch wirkt seine Garderobe wie gerade in einem Fachhandel für den feinen Herren gekauft. Er pflegte sie mit der Sorgfalt und der Kenntnis eines Fachreinigers, weil er weiß, daß sie eines der wenigen ihm noch gebliebenen Kapitalien ist und im Geschäftsleben der richtige An- und Aufzug die Bedeutung einer Eintrittskarte hat. Noch könnte Wilhelm Porrhast, der sich selbständiger Unternehmensberater nennt, ohne weiteres mit seinen leicht angegrauten, streichholzkurzen Haaren, dem weißen Rollkragenpullover und den lässigen Leinenhosen in jedem Herren-Modemagazin als der sportliche »Mann in den besten Jahren« posieren. Wilhelm Porrhast ist ein Sozialhilfeempfänger, der äußerlich im Luxus lebt und auch nicht bereit ist, sich von nur einem einzigen Stück seines verbliebenen Mobiliars zu trennen. Eher hungert er: »Mobiliar kann ich nicht fressen, ich würde nie etwas davon verkaufen. Ich kralle mich fest an dem, was ich noch habe« . Er hofft, irgendwann in seiner Neubau-Dachwohnung wieder Geschäftsfreunde empfangen zu können. »Die kann ich doch nicht bitten, auf Apfelsinenkisten Platz zu nehmen«. Vor wenigen Jahren noch versteuerte Wilhelm Potthast ein Jahreseinkommen von über 100.000 Mark. Jetzt muß er mit dem auskommen, was der Staat für das Existenzminimum hält und was doch nie reicht: 473,- DM im Monat. Wilhelm Porrhast war ein Pionier der elektronischen Datenverarbeitung .... In den fünfziger Jahren hatte er ein Lochkartensystem entwickelt, einen Vorläufer der elektronischen Datenve1waltung, und später die Software für die ersten Computer entworfen. Nixdorf wurde auf ihn aufmerksam, er wechselte nach Paderborn in das mittlere Management und dann zu Philips nach Düsseldorf in die Leitung der Softwareabteilung. Ein stetiger Aufstieg, den er - wie viele in seiner Branche - als selbständiger Unternehmensberater krönend abschließen wollte ... »Es konnte eigentlich nichts schiefgehen«, meint Wilhelm Porrhast noch heute. »Das waren allererste Adressen. Ich saß wie die Made im Speck«. Doch es ging so ziemlich alles schief, was schief gehen konnte. Die Bilderbuchkarriere endete abrupt. Bei dem traditionellen Treffen ehemaliger Nixdorf-Manager in einem vornehmen Paderborner Hotel, dem »Nixdorf Klüngel «, wie er es nennt, traf ihn wie »ein Schlag aus heiterem Himmel« die Erkenntnis, »mit einem Handstreich alles verloren zu haben«. Während in einem Hinterzimmer die Herren bei Champagner und Kaviar ihre Karriereerfolge feierten, flüsterte ihm ein Kollege auf dem Klo vor dem Pinkelbecken das Ende seines bis dahin erfolgreichen Lebensplanes zu. Der Philips-Konzern, so mußte er sich anhören, wird 55 000 Arbeitsplätze abbauen und die Software-Abteilung in Düsseldorf schließen. Damit fiel der wichtigste Auftraggeber aus .. .. »Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aus heiterem Himmel, ohne daß ich etwas dagegen hätte tun können, war alles futsch«. Wann und wie er sich von seiner Familie getrennt hat, ob in diesen beiden Wochen oder schon vorher, ist ein Tabuthema. Nur so viel erzählt er: Seine Familie weiß von seinem Abstieg so gut wie nichts. »Eine Mauer des Schweigens«, habe er aufgebaut. »Wie es wirklich um mich steht, kann sich sogar meine Frau nicht vorstellen«, behauptet er. Seinem Sohn gegenüber, der in Hamburg studiert, habe er einmal »leicht angedeutet, daß er eine geschäftliche Durststrecke« zu überstehen habe ... »Die Marktwirtschaft gibt keinem Menschen eine Lebensgarantie für die Zukunft .... Wer sich eine Blöße gibt und zu irgendeinem Zeitpunkt bei den Kräfteverhältnissen am Markt nicht mithalten kann, bleibt auf der Strecke. Das wird trotz der Auswirkungen für die betroffenen Menschen von der Gesellschaft als Fair Play und als sportliches Ereignis und nicht als Kannibalismus empfunden. Entrüstung findet nur über Ereignisse statt, die jenseits der eigenen geschlossenen Gesellschaft geschehen« - schreibt Carl Christian von Weizsäcker. Unterzeichnet ist der Text von »Wilhelm Potthast - Systemdenker, Analysen- und Methodenspezialist «. Zwischen Stapeln von Computerausdrucken liegt auf dem runden Kristallglastisch in seinem Junggesellenappartement, das einmal als Büro gedacht war, »Der totale Verkaufserfolg«, ein Buch, dessen Autor schon durch -Seinen Namen Härte und Dynamik signalisiert: Zig Zigler. An dessen Durchhalteparolen »Aggressivität, Selbstbewusstsein, eiserne Disziplin« und dem Glauben an sich selbst und seine Zukunft, hält Wilhelm Potthast, gerade 52 geworden, eisern fest. »Da gibt es kein Vertun, morgens um sieben sitze ich an meinem Computer, bis abends spät«. Zwischendurch isst er belegte Brote: morgens, mittags und abends, nie warm. Er kennt inzwischen die gesamte Palette von billigen Heringskonserven aus dem Aldi. Er beschreibt über ein Dutzend Variationen, in denen er inzwischen Frischkäse zubereiten kann, um ihm Geschmack und Vitamine hinzuzufügen. »Auf Frischkäse passt quasi alles, von Marmelade bis Zwiebel«, sagt er. Aber man könne ihn auch gut ohne Zugabe essen. Wilhelm Potthast begreift diese erzwungene Askese als »Härtetraining« für zukünftige Erfolge. Noch interpretiert er seinen rasanten Absturz als eine Notlage, die vorübergehen wird: »Es kommt ja alles wieder «, sagt er. Doch seit jenem Januar vor über einem Jahr, an dem ihm innerhalb von Minuten klar wurde, dass für ihn eine neue Zeitrechnung beginnen würde, verschiebt er Monat für Monat den Start seines Erfolgsplans“.

An diesen Texten können Sie mit den Schülern erarbeiten: Ursachen von Armut; Befindlichkeiten; Gefühle von Menschen, die in Armut leben; den Teufelskreis der Armut; Fragen der Solidarität. Die erarbeiteten Ergebnisse können kontrastiert werden mit den vielfältigen Erscheinungsbildern von Reichtum in unserer Gesellschaft.

Hier nur ein kleines Beispiel:

Glanz und Gloria[10]

»Die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis entrümpelt ihre Schlösser, versteigert den Plunder bei Sotheby's mit exklusivem Anstrich, erlöst doppelt so viel wie erwartet und zahlt mit diesem Taschengeld die Erbschaftssteuer. . .. Der gesamte Besitz der Thurn und Taxis an Grund und Immobilien im Werte von vier oder fünf Milliarden Mark wird um keine Mark geschmälert. Im Gegenteil, die Wertsteigerung - ohne die geringste eigene Leistung - geht lustig weiter: Jeden Morgen, wenn die hübsche Fürstin aufwacht, ist sie um eine halbe Million reicher.«

3. Peanuts, Knete und die Ente Dagobert - Über die Bedeutung des Geldes und unser Umgang damit

Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Medien, als der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank im Zusammenhang mit dem Schneider-Bankrott von 50 Millionen D-Mark als »Peanuts« sprach. Was für den einen eine Handvoll Erdnüsse darstellt, bedeutet für den andern »Kohle«, die eben oft noch nicht mal praktisch fürs Heizen der Wohnung reicht. Ein Kennzeichen von Armut ist chronischer Geldmangel (»Einkommensarmut «). Wer einen ständigen Kampf ums Geld führen muss, um sein bloßes Überleben zu sichern, lernt Einschränkungen auf vielen Gebieten kennen, die menschliches Leben normalerweise attraktiv machen. Die Frage des Taschengelds spielt für Jugendliche eine äußerst wichtige Rolle: Viel zu haben, wenig zu haben, gar keines zu haben oder es sich selbst verdienen zu müssen, diese Fragen betreffen jeden. Ein weiterer Zugang zum Problem Armut besteht deshalb darin, das Thema» Umgang mit Geld« aufzugreifen. Dass die Verschuldung breiter Bevölkerungskreise ebenso rapide zugenommen hat wie die spezielle Verschuldung von Jugendlichen, ist bekannt. Dazu tragen beispielsweise Banken bei, indem sie im Kampf um Kunden Jugendlichen großzügige Dispositionskredite anbieten, deren Wahrnehmung häufig schon den Beginn jenes Teufelskreises markiert, der in der Einkommensarmut endet. Auch unseriöse sonstige Kreditangebote sollten im Unterricht unter die Lupe genommen werden. Die Werbung weckt Bedürfnisse, gibt Standards vor, die in keinem Verhältnis zu den realen Konsummöglichkeiten v. a. von Jugendlichen stehen. Nicht zuletzt setzt auch das gesellschaftliche Umfeld Maßstäbe, die den Menschen auf das reduzieren, was er besitzt. (Auch Lehrer gelten in den Augen einiger Schüler/Eltern bereits als reich, abgesichert mit den Privilegien des Beamtenstatus, den ihnen viele neiden!) In einem Großteil unserer Gesellschaft sind Geldfragen Auslöser von Konflikten und Dauerstreit. Das trifft sowohl dort zu, wo kein Geld vorhanden ist, als auch dort, wo viel Geld da ist und Uneinigkeit darüber besteht, wer über welche Summen verfügen darf. Ein ausgeglichenes, realistisches, vernünftiges Verhältnis zum Umgang mit Geld herzustellen, ist bereits für Erwachsene eine Kunst - für Jugendliche ohne entsprechenden Erfahrungshintergrund trifft dies verstärkt zu. Sparsamkeit, Geiz, Verschwendungssucht und Großzügigkeit sind vier elementare Verhaltensweisen im Umgang mit Geld, die im Unterrichtsgespräch gegeneinander abgegrenzt werden können, vor dem entsprechenden Hintergrund einer Selbsteinschätzung des eigenen Verhältnisses zu Geld. Wie schnell schlägt Sparsamkeit in Geiz um, wie schnell wird Großzügigkeit zur Verschwendung? Wie können wir für uns selber eine sinnvolle Mitte finden, die realistischer Weise unseren Möglichkeiten entspricht?

Dazu die folgenden Unterrichtsvorschläge:

A. Warum uns Donald Duck so sympathisch ist

Welcher Schüler kennt sie nicht -die Duck-Familie? Legen Sie drei Vergrößerungen von Dagobert, Donald und den Neffen Tick, Trick und Track auf den Overhead und lassen Sie die Schüler die 5 »Typen« etwa mit folgender Fragestellung charakterisieren:

- Welche Ziele verfolgen die Figuren jeweils in ihrem Leben?

- Warum sind uns Donald und die Neffen so sympathisch?

- Warum ist Onkel Dagobert so unsympathisch?

Sie erhalten etwa folgende Antworten:

  • Dagobert: geizig, unzufrieden, Leuteschinder, will immer mehr Geld scheffeln, Ausbeuter, Unterdrücker.
  • Donald: Pechvogel, faul, schläft gern, meistens hilfsbereit, muß Fehler anderer ausbaden, hat chronischen Geldmangel, meistens verliebt, ist auf Harmonie aus, will immer seine Ruhe haben, aber keiner läßt ihn, hat so gut wie kein Durchsetzungsvermögen, er ist der ewige Schmarotzer, trotzdem sympathisch. Obwohl Donald wenig Selbstbewusstsein hat, nimmt er die Dinge locker, meistens beweist er dann im richtigen Moment doch Courage. In einigen Büchern besitzt er die Fähigkeit der Verwandlung, als »Phantomias« gelingt ihm alles, aber keiner weiß, dass es sich dann dabei um Donald handelt.
  • Tick, Trick und Track: sind intelligent, hilfsbereit, Pfadfinder beim Fähnlein Fieselschweif, müssen die schlechte Laune von Donald ausbaden, passen auf ihn auf, pfiffig, werden von Dagobert gegenüber Donald vorgezogen, sie sind vernünftig, sie sind arbeitsam und haben einen vernünftigen Umgang mit Geld, Donald lebt auf ihre Kosten.

Lesen Sie mit den Schülern eine der markanten Geschichten, z. B. »Die Last des Geldes«.[11]

Dagoberts Reichtum ist unzählbar geworden, so daß selbst der Steuereintreiber keine Möglichkeit mehr hat, eine Grundlage für seine Berechnungen zu erstellen. Aber Dagobert geht’s mies. Er kann sich nämlich nicht mehr bewegen, wenn er auf seinen Speicher geht, sondern nur noch kriechen. Donald muss ihm Gelehrte herbeischaffen, die Rat wissen. Aus Büchern entnimmt Dagobert den Geheimtipp, sich zu einem Einsiedler zu begeben, der ihm helfen kann. Der Einsiedler macht ihm klar, dass er die Last des Geldes nur erträgt, wenn er lernt, massiven Druck zu ertragen. Er versucht zunächst, möglichst hoch fliegen zu lernen und - nachdem er eine kräftige Bauchlandung macht – möglichst tief zu tauchen. Beide Versuche: den Druck der Höhe und der Tiefe zu ertragen enden in einem Fiasko. Zu guter Letzt helfen ihm - wie so oft - die Neffen. Sie entdecken nämlich die Ursache seiner Schieflage: Dagobert hatte in seinem Speicher eine Belüftungsmaschine installiert, damit sein Geld nicht verschimmelt. Diese erzeugt den Unterdruck, der Dagobert buchstäblich zum Erliegen bringt. Nachdem er die Maschine abstellt, kann er wieder hüpfen.

An Dagobert lässt sich gut die Befindlichkeit von Leuten herausarbeiten, die viel Geld haben oder viel besitzen: »Reichtum wird zum Selbstzweck. Er soll immer größer werden. Das gelingt nur nicht immer. Und eines fürchtet der Reiche mehr als alles andere auf der Welt: weniger zu haben als zuvor oder gar arm zu werden! Und in seiner Sorge kommt dann häufig - uneingestanden - der Gedanke auf: Der eigentlich Arme sei er. Somit sucht er rastlos nach immer neuen Möglichkeiten, seinen Reichtum zu steigern«. [12]

B. Von Tugenden und Todsünden - Die Notwendigkeit, mit der Unvollkommenheit zu Leben und Spannungen auszuhalten

Der Sparzwang des Reichen führt zu Geiz, eine Verhaltensweise, die bereits im Mittelalter zu einer der sieben Todsünden zählte (vgl. Abbildung).

Eine der sieben Todsünden am Freiburger Münster: Die Habgier (avaritia) Ein Mann mit fettem Gesicht und schwülstigen Lippen umklammert ängstlich einen Beutel mit Geld.

Geiz führt für den Betroffenen in die Isolation, er ist selbst Gefangener seines Besitzes, unfähig, mit anderen zu teilen, er ist selbst ein Unerlöster. Lassen Sie von Schülern, Sprichwörter, Redensarten, markige Sprüche sammeln zum Thema Geld, Armut, Reichtum - unsere Sprache ist voll davon - ein Zeichen dafür, wie sehr uns die Problematik beschäftigt.

Beispiele:

Ohne Knete keine Fete. Ohne Moos nichts los. Arm, aber glücklich, Geld verdirbt den Charakter. Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt. Geld stinkt. Haste nix, biste nix. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Nur kein Neid, wer hat, der hat. Jeder ist seines Glückes Schmied. Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Erst wenn der letzte Baum verdorrt ist, werdet ihr sehen, dass ihr euer schönes Geld auf der Bank nicht essen könnt, welch Menge ihr auch nennt. Das Böse ist immer und überall, Ba-Ba-Ba-Ba-Banküberfall. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir erhöhen das Bruttosozialprodukt. Keine Macht den Bonzen.

Lassen Sie die Schüler in Gruppenarbeit Begriffe wie Neid - Geiz - Sparsamkeit - Großzügigkeit – Verschwendungssucht - Solidarität - Teilen können - Mitleid - Barmherzigkeit - Menschenwürde in einem Lexikon (z. B. Brockhaus) nachschlagen und erteilen Sie Arbeitsaufgaben anhand von Fragestellungen wie: Erkläre, wie im Brockhaus Neid definiert wird? Es gibt überhaupt keinen Menschen, der völlig frei von Neid ist. Wen oder was beneidest Du? Wozu kann Neid führen? Was lässt sich anstelle von Neid setzen? Die gemeinsame Erarbeitung kann der Lehrer zusammenfassen, indem er jeweils die Interdependenz und das Spannungsverhältnis zwischen einzelnen Verhaltensweisen aufzeigt. Dazu eignet sich das sogenannte Wertequadrat (Abbildung)[13]

Sparsamkeit verkommt ohne ihren positiven Gegenwert Großzügigkeit zum Geiz. Umgekehrt verkommt auch Großzügigkeit ohne Sparsamkeit zur Verschwendung. Wir bewegen uns dabei ständig zwischen einer positiven Spannung und Überkompensation: Wer einfach nur sparsam ist und nie Großzügigkeit zeigt, gerät leicht in die Gefahr, geizig zu werden. Umgekehrt: wer sich immer großzügig zeigt, ohne sparsam zu sein, wird leicht zum Verschwender. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Balance zu üben, wenn wir nicht in der Übertreibung enden wollen. Lassen Sie die Schüler - falls es ihr Abstraktionsvermögen nicht übersteigt - selber Wertequadrate konstruieren und mit konkreten Beispielen belegen.

4. Ist Eigentum Diebstahl? Gedanken zu Armut und Kriminalität

Mit der Erörterung der Frage des eigenen und fremden Umgangs mit Geld kann die Frage: »Wie komme ich zu Geld?« verbunden werden. Neben der Beschäftigung mit den Möglichkeiten legalen Gelderwerbs sollte auch die Auseinandersetzung mit Formen illegaler Geldbeschaffung nicht ausgespart bleiben. Gerade bei vielen jugendlichen Straftätern überwiegen die sog. »Eigentumsdelikte« und Formen der »Beschaffungskriminalität«. Die rhetorische Frage Brechts, ob das Verbrechen, eine Bank zu berauben, im Vergleich zum Verbrechen, eine Bank zu gründen, nicht das kleinere Übel darstellt, nehmen viele Jugendliche für bare Münze: Ladendiebstahl, Fahrradklau, Autoaufbruch - wer wird da schon geschädigt, wenn die Versicherung zahlt? Verglichen mit Wirtschaftsverbrechen, Korruptionsaffären, Bestechungsskandalen, Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug etc. im großen Maßstab halten Jugendliche das für »kleine Fische«. Mit Feststellungen über moralische Aspekte von Straftaten oder über die Existenz von Rechts- oder Unrechtsbewusstsein landet man hier schnell in einer Sackgasse. Auch der Fingerzeig darauf, dass ein Lebensweg, der auf fortgesetzten Straftaten aufbaut, ins gesellschaftliche Abseits führen kann, erscheint wenig hilfreich: Straftaten wird unser Unterricht nicht verhindern. Erfolgreicher scheinen Denkangebote zu sein, die die »kriminelle Energie« als fragwürdig und wenig attraktiv erscheinen lassen, gemessen an der Freisetzung von »positiver Energie« im Sinne von Kreativität und Phantasie in der Gestaltung der eigenen Lebensbezüge. Es kommt also eher darauf an, Schülern ihre eigenen Ressourcen zum Bewusstsein zu bringen und diese auszuschöpfen, statt aus ihrem Leben ein schlechtes Kriminalstück zu machen.

Unterrichtsvorschlag: eine Bildbetrachtung mit anschließenden Fragen über legale und illegale Möglichkeiten, zu Geld zu kommen.





(Der Photograph James Mollison hat die Schlafplätze von Kindern auf der ganzen Welt fotografiert uhd ihre Bewohner dokumentiert. Hier ein Junge aus dem Senegal. Im Kontrast dazu ein gleichaltriger Junge aus New York, 5th Avenue. Quelle: James Mollison: Where Children sleep, 2010, London)  

5. Plätze von Armut aufsuchen!

Die direkte Erfahrung, die konkrete Anschauung ist immer noch der beste Lehrmeister - auch in Sachen Armut. Während einer Klassenfahrt nach Newcastle/ Gateshead im Nordwesten Englands bestand für die Schüler meiner Klasse die Gelegenheit, sich konkret mit dem Thema Armut auseinanderzusetzen. Der Großraum Newcastle/Gateshead ist geprägt von einer für unsere Verhältnisse unvorstellbaren Arbeitslosigkeit, von der vor allem Jugendliche betroffen sind. Wir besichtigten Viertel, die völlig heruntergekommen sind: Häuserzeilen mit zerbrochenen Fensterscheiben, die Eingänge mit Holzlatten vernagelt oder von der Polizei versiegelt; verbrannte Dachstühle, die seit den letzten Straßenkämpfen nicht mehr restauriert wurden. Bodenwellen auf den Straßen, die jugendlichen Autodieben und ihren »joy rides« den Fluchtweg erschweren sollen. Wir durften in diese Viertel nicht mit den eigenen Fahrzeugen fahren, da diese dort aller Wahrscheinlichkeit nach sofort ausgeraubt oder beschädigt worden wären. Die Sozialarbeiter und Jugendlichen, die wir dort kennenlernten, berichten uns über ihre Arbeit: Jede Nacht finden im Viertel Raubzüge statt. Wer dort wohnt, kauft sich nur gebrauchte Fernseher, niemals teure Geräte, weil jederzeit mit Diebstahl gerechnet werden muss. Die Zahl der Schulschwänzer (wir lernten hier das Wort truancy) nimmt immer mehr zu. Früher arbeiteten die Sozialarbeiter hauptsächlich mit älteren Jugendlichen, jetzt beginnen sie mit 8-9jährigen Kindern, die sie von der Straße auflesen. In die Schule zu gehen ist nicht mehr attraktiv, denn es gibt sowieso keine Arbeit. Nach der Schule können (müssen) die Jugendlichen in sogenannten Youth Training Schemes für einen Hungerlohn arbeiten, bis sie dann mit 18 Jahren so etwas wie Sozialhilfe bekommen, die ebenfalls in keiner Weise ausreichend ist. »Moral goes out of the window<<, sagen die Sozialarbeiter angesichts dieser Verhältnisse und: »Young people have absolutely nothing, except their human ressources« . Diese Humanressourcen bei sich selbst kennenzulernen, zu nützen und das Vertrauen in die eigene Kraft zu stärken ist Ziel der Jugendsozialarbeit (Community Education) der Stadt Gateshead. Das Jugendzentrum »Wing« verfügt über mehrere Segelboote, komplette Kajak- und Kanadierausrüstungen für eine Gruppe, einen großen innen ausgebauten Bus für Camps, eine Kletterwand und entsprechende Sozialarbeiter/Ausbilder für »outdoor education«. Viele Jugendliche arbeiten hier meist ehrenamtlich mit. Die Projektangebote der Stadt Gateshead sind für jedermann. An ihnen soll jeder teilnehmen können, auch wenn er kein Geld hat. Unsere Schüler durften an allen Aktivitäten teilnehmen. So hatten wir Gelegenheit zum Segeln, Klettern, Bootfahren usw. Die Schüler lernten sich selbst einmal von einer ganz anderen Seite kennen und entwickelten einen Zusammenhalt in der Gruppe, der bisher im Klassenzimmer undenkbar war. Einige weitere Projekte, die wir besichtigen konnte, waren Selbsthilfeprojekte. Hier bauten arbeitslose Jugendliche in Eigenarbeit Go-Carts und richteten alte Autos und Fahrräder wieder her.

Einige Kommentare aus Schülerarbeiten über diesen Aufenthalt:

»Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt solche Armut gesehen. Ganz so schlimm ist es bei uns ja nicht, aber vielleicht in Frankfurt oder Berlin .... «

»Daß es solche Gegensätze zwischen arm und reich gibt, hat mich schockiert. In der gleichen Stadt das Metroland (größtes Einkaufszentrum Europas, gehört der »Church of England«), und dann solche versifften Viertel, in denen man Angst haben muss, überfallen zu werden«. »Die Leute sind sehr freundlich. Nicht so arrogant wie bei uns. Sie genieren sich nicht, zu sagen, dass sie arm sind«.

»Ich habe gemerkt, wie wichtig ein Schulabschluss ist, uns geht's hier zwar nicht ganz so dreckig, aber wenn ich die Schule nicht schaffe, bin ich gar nicht so weit vom Problem entfernt«. - »Bei uns müsste es auch solche Möglichkeiten für Jugendliche geben wie Segeln, Kajakfahren und Klettern - das dürfte bei uns alles nicht so viel Geld kosten„ .«

6. Kann man Armut mit Unterricht bekämpfen?

Über Armut kann man nicht sprechen, ohne sie gleichzeitig zumindest verbal bekämpfen zu wollen. Die Forderungskataloge der Wohlfahrtsverbände sind lang und bieten bei genügender Beachtung einigen Handlungsspielraum, um der Zunahme von Armut präventiv und unmittelbar entgegenzusteuern. Darüber kann man im Unterricht sprechen, aber bei weitem nicht hinlänglich genug. Von den Zielvorgaben her bescheidener angesetzt, kann die Beschäftigung mit dem Thema Armut Schüler dazu bringen, das eigene gesellschaftliche Umfeld besser zu überblicken, die eigene Position darin zu reflektieren und sich selbst besser zu wappnen, nicht selbst dem Schicksal der Armut zu erliegen. Der Schüler kann auch sensibilisiert werden, notleidenden Menschen nicht gleichgültig gegenüberzustehen, Gewalttaten ihnen gegenüber nicht zu billigen oder selbst daran teilzunehmen. Was allerdings eigene Handlungsstrategien gegenüber Armut anbelangt, haben Schüler oft ein sehr einfaches Bild von der Realität: »Ist halt so«. Mit dieser Position ersparen sie sich das genaue Hinsehen, ermöglichen sich jede Art von Verdrängung, können Verantwortung von sich wegschieben. Genaueres interessiert nur bei möglicher eigener Betroffenheit. Andererseits haben Schüler aber auch ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit, die Bereitschaft querzudenken und nicht alles als gottgegeben hinzunehmen. Unsere Aufgabe sollte in erster Linie darin bestehen, gewohnte Denkschemata aufzubrechen und den Blick für das, was individuell und gesellschaftlich verdrängt wird, zu schärfen. Diesen Prozeß in Gang zu bringen wird entscheidender sein, als Ergebnisse zu sichern, auch wenn es so mancher Fachberater gerne etwas anders hätte. Der Verweis auf Tugenden im Sinne caritativen Handelns wie »Mitleid empfinden«, »Teilen können«, »Großzügigkeit walten lassen«, »helfen wollen« erscheint angesichts der Realitäten zwar als antiquiert moralinsaures Unterfangen, trägt aber möglicherweise dennoch dazu bei, die notwendige Reflexion eigener Emotionen und Gefühle zu befördern. Freilich schlagen die als höchste menschliche Tugenden verkündeten Werte und Gefühle »sich nur dann in konkreten Handlungen und Verhaltensweisen nieder, wenn die Realität dies zulässt. Dann auch fallt der Schatten der Verdammung auf das, was diese Werte und Gefühle verletzt oder vergewaltigt, denn die historische Notwendigkeit vermag nicht im geringsten zu begründen, dass Menschen und Kollektive ihrer natürlichen Rechte beraubt werden«. [14]

Anmerkungen:

[1]Gabi Gillen/Michael Möller, Anschluss verpasst. Armut in Deutschland, Bonn 1992, S. 257.

[2] Gut geeignet sind Texte aus der Reportage von Michael Ho/zach: Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland, Hamburg, 1982. Der Autor reiste sechs Monate ohne Geld rund 2500 Kilometer durch die Bundesrepublik. Eine seiner größten Schwierigkeiten bestand darin, die demütigende Haltung des Bettelns einzuüben.

[3] Original in: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in 4 Bänden, Band II, 1925- 1928, hrsg. Von Fritz J. Raddatz und Mary Gerold-Tucholsky, Reinbek 1960.

[4] Udo Rauchfleisch, Die Allgegenwart von Gewalt, S. 166.

[5] Michael A. W Evans, Homeless, Frankfurt a. M.: Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins 1989.

[6] Der Freiburger AGJ-Verlag (Oberau 21 , 79102 Freiburg) bietet ein Reihe weiterer geeigneter Texte an, die von Betroffenen geschrieben wurden

[7] Artikel aus der Badischen Zeitung, Freiburg, vom 25. 2. 94.

[8] G. Gillen/M. Möller, S. 123.

[9] ebd., S. 11-23 (gekürzt).

[10] Georg Kronawitter, Stark sein für die Kleinen, in: Der Spiegel 4711993. S. 33.

(11) Donald Ducks lustiges Taschenbuch Nr. 196: 60 Jahre Superstar, Stuttgart, S. 78 ff.

[12] Erich- Ullrich Huster, Neuer Reichtum und Alte Armut, Düsseldorf 1993.

[13] Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden, Bd. 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung, Reinbek 1993, S. 38 f.

[14] Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut, München 1988, S. 311.