Take Care!
Aspekte einer Ethik der Achtsamkeit
Hiltrud Hainmüller
Editorial
Erziehung beginnt mit Einschränkungen des Handelns. Schon diese allgemeine Behauptung, die einen systematischen, zeitlichen und räumlichen Anspruch erhebt, impliziert ein ethisches Problem, das man in die Frage überführen kann: Ist das überhaupt erlaubt? Dürfen wir unseren Kindern und Jugendlichen pädagogische Einschränkungen ihrer Freiheit zumuten? Dürfen wir Verbote, Ermahnungen, Gebote oder gar Strafen in pädagogischer Absicht in Anspruch nehmen? Die Antipädagogik sagt: nein!, die Pädagogik sagt (meistens): ja!, und führt als Begründung die anthropologische Tatsache an, dass der neu geborene Mensch nicht nur entwicklungsfähig, sondern auch bedürftig ist und dazu der vielfältigen Anregungen bedarf. Deshalb sollten Erzieher versuchen, advokatorisch den Interessen der Kinder gerecht zu werden. Dabei kommen sie nicht umhin, Einschränkungen der Kontingenzspielräume vorzunehmen. Es wird immer eine schwierige und stets neu zu überdenkende Aufgabe bleiben, Interventionen, die der Förderung dienen, nicht in Bevormundung münden zu lassen. Eine der extremsten Formen pädagogischer Beschränkungen ist sicher die Schule, denn sie zwingt Schüler viele tausend Lebensstunden zu zeitlichen und räumlichen Einschränkungen. Wenn der Unterricht beginnt, sind schon eine Reihe von Vorselektionen gegeben, auf die man zurückgreifen muss, weil sie selbst im Unterricht nicht herstellbar sind. Dort werden Kontingenzentscheidungen situativ gefällt, Erwartungen und Erwartungserwartungen aufgebaut, bestätigt oder enttäuscht. Diese können ethisch hinterfragt werden. Zur Zeit findet über diese Fragen eine breite Debatte statt, die sowohl schulintern als auch in der Öffentlichkeit sehr kontrovers geführt wird. Im Ethikunterricht sind diese Fragen Teil des zu behandelnden Stoffs. Er kann damit die Bedingungen seiner Möglichkeit thematisieren, kritisieren, legitimieren oder diskursiv erwägen und auch die Diskussion um die innere Schulreform integrieren. Hier besteht die Chance, Fragen der Schulkultur zu erörtern und an Schulen, wo dies gewünscht und möglich ist, auf mehr Schülerpartizipation hinzuwirken. Dieses Heft versucht, ein paar wenige ethische Problemfelder von Erziehung und Unterricht exemplarisch zu entfalten und zu reflektieren. Regina Ammicht-Quinn fragt nach der ethischen Verankerung eines Bildungsbegriffs, der die Person, die Sache und den Anderen immer mitbedenkt. In einer historisch-funktionalen Perspektive beschäftigt sich Matthias Bopp mit dem Phänomen der Strafe in der Pädagogik. Dagegen entwickelt Ulrike Schlegel ein Konzept von Lehrerhandeln, das zu sozialem Lernen anleitet. Mit der Care-Ethik stellt Hiltrud Hainmüller einen Ansatz vor, der einen im Schulleben bislang vernachlässigten Aspekt ins Zentrum seiner Überlegungen stellt: den der Sorge um sich selbst und um Andere. Dass der Anfang einer Beziehung für deren Entwicklung von prägender Bedeutung ist, berücksichtigt ein Vorschlag von Ulrike Schlegel. Katrin Lohrmann schlägt ein umfangreicheres Unterrichtsmodell zum Thema Rechte und Pflichten vor, und Michael Raub greift ein aktuell drängendes Thema und Anliegen auf: das Nachdenken über und die Erziehung zur Toleranz.
Hiltrud Hainmüller, Alfred K. Treml
Take Care! Aspekte einer Ethik der Achtsamkeit
»Ist denn alles umsonst gewesen?« fragt Michaela Seidel, Schülerin des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt, indem sie ihre Erfahrungen ein Jahr nach dem schrecklichen Ereignis zusammenfasst: Im Bundeskanzleramt durfte sie ihre Meinung zum Thema: »Was müssen wir am Schulsystem und der Schulpolitik ändern?« vortragen. Wichtige Vorschläge wie die Schaffung eines einheitlichen Schulsystems in Deutschland, in dem es für keinen Schüler Vor- oder Nachteile gibt, einen anerkannten Schulabschluss zu erlangen, und die Forderung nach einem Schulpsychologen in jeder Schule hätten zwar breite Zustimmung gefunden, den Worten seien jedoch keine Taten gefolgt. Michaela Seidel bemerkt das voller Enttäuschung. Dagegen nimmt sie im Schulleben des Gutenberg-Gymnasiums selbst Veränderungen wahr, die Mut machen, weil sich aus ihnen Hoffnung gewinnen lässt: »Und doch hat dieser Tag eines geschafft: Er hat Schüler und Lehrer unserer Schule zu einer Vereinigung gebracht, wo man gelernt hat, Freude und Leid miteinander zu tragen, wo man gelernt hat, miteinander zu reden und dem anderen zuzuhören. Und das ist auch das, was unsere Schule irgendwann wieder aufleben lassen wird.«[1]
Das fragile Gebilde »Schulgemeinschaft« ist durch die Brutalität der Ereignisse in Erfurt in seinen Grundfesten erschüttert worden. Entgegen der ursprünglichen Absicht der Schulbehörde, zur Tagesordnung überzugehen, musste der Ort des Grauens zunächst verlassen werden; Schüler, Lehrer, Hauspersonal und Eltern bedurften intensiver Betreuung, die Betroffenen nahmen sich Zeit, die sie brauchten, um zu verarbeiten, und sie nehmen sie sich bis heute. Sie entwickeln eine sorgfältige Kultur des Umgangs miteinander, gestalten Rituale, geben ihren Gefühlen Raum, erfahren Solidarität und dokumentieren diese öffentlich, beteiligen sich aber auch mit viel Engagement an Diskussionen um notwendige schul- und gesellschaftspolitische Veränderungen. Hier wurde nicht nur die Fähigkeit zu trauern gemeinsam entwickelt, sondern aus dieser heraus eine neue Kultur des Umgangs und Lernens in der Schulgemeinschaft geschaffen, die meines Erachtens richtungsweisend und beispielhaft in der gegenwärtigen Diskussion um Reform von Bildung und Erziehung sein kann.
Die hier praktizierte Ethik entspricht einem in der bisherigen Debatte wenig beachteten Ansatz, der so genannten »Care-Ethik«. Im Gegensatz zu traditionellen ethischen Ansätzen wie der teleologischen oder deontologischen Ethik ist Care-Ethik nicht prinzipien- oder ziel-, sondern prozessorientiert. Es geht nicht so sehr um die Frage: Was ist richtig, was ist falsch und wie sieht eine anständige Begründung für die jeweilige moralische Entscheidung aus? Oder gar: Auf welcher der Kohlberg´schen Stufen befindest du dich mit deiner Entscheidung? Sondern es geht darum, eine für alle Beteiligten stimmige Moral gemeinsam zu entwickeln, zu leben und in diesem Prozess achtsam miteinander umzugehen. Care-Ethik bezieht sich auf Handlungen des umeinander Kümmerns, und zwar im weitesten Sinne von engagierter Sorge. Alles, was mit Versorgen, Bewahren, Reparieren, Befriedigung der Grundbedürfnisse zu tun hat, fällt in den Bereich der »Care-lnteraktionen«, also auch zu unterrichten, den Schulalltag zu gestalten, Konflikte zu bearbeiten, Feste zu feiern usw. Diese Art der Ethik manifestiert sich nicht in normativen Prinzipien, sondern entsteht durch die Praxis selbst, also im Prozess. Alle am Prozess Beteiligten gehen aus dieser Praxis verändert hervor, wie sich am Beispiel von. Erfurt zeigen lässt. Care-Ethik berücksichtigt insbesondere, wie Menschen, die sich in asymmetrischen Beziehungen zueinander befinden, angemessen miteinander umgehen können. Aus diesen Gründen kann die Care-Ethik gerade im Bereich Bildung und Erziehung entscheidende Impulse für die Bezogenheit von Lehrern und Schülern liefern. Wenig Beachtung fand die Care-Ethik bisher vielleicht deshalb, weil sie in Kreisen feministischer Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde, sich gelegentlich als »weibliche Geschlechtermoral« einseitig auf Frauen bezieht und eine klare Abgrenzung gegen die deontologische Mainstream-Ethik der Habermas-Apel-Schule vornimmt. Elisabeth Conradi ist es jedoch gelungen, der: eher genderorientierten Ansatz von Care-Ethik auf bemerkenswerte Weise zu einer allgemeinen, geschlechterunabhängigen »Ethik der Achtsamkeit« weiterzuentwickeln. Diese lässt sich auf alle Bereiche beziehen, in denen Menschen aufeinander angewiesen sind, und kann im Bereich von Bildung und Erziehung gerade da wirksam werden, wo Modelle, die sich auf die deontologische Ethik beziehen, an ihre Grenzen stoßen. [2]
Care-Ethik - eine Ethik der Praxis
Der englische Begriff »care« bedeutet so viel wie »Fürsorge «. Da dieser Begriff aber im Deutschen ideologisch vorbelastet ist, weil mit ihm häufig eine Zuwendung aus altruistischer Opferhaltung (häufig mit paternalistischer Bevormundung) gemeint ist, behält Conradi den englischen Begriff zur Charakterisierung einer Ethik bei, in der es um Sorge und Selbstsorge zugleich geht. »Take care!« bedeutet nämlich im Englischen sowohl: »Sorge dich um etwas oder jemanden«, als auch: »Sorge dich um dich selbst.« Damit benennt Conradi einen wesentlichen Grundsatz der Care-Ethik, dem im Schulalltag besondere Bedeutung zukommt: Lehrer müssen sowohl auf Schüler als auch auf sich selbst und ihr Wohlbefinden achten, wenn sie wirksame pädagogische Arbeit leisten wollen.
Grundvoraussetzung einer Care-Ethik bildet die anthropologische Tatsache, dass asymmetrische mit symmetrischen, reziproke mit irreziproken Anteilen in Interaktionen miteinander verwoben sind. Die Reduktion auf symmetrische und reziproke Beziehungen, wie sie die deontologische Ethik (Kant, Rawls, Habermas) vornimmt, entspricht nicht der Realität menschlichen Zusammenlebens. Conradi weist daraufhin, dass sich der Mensch während langer Abschnitte seines Lebens in asymmetrischen Beziehungen befindet, etwa als Kind und Jugendlicher, in Zeiten, in denen er krank ist, meist auch als alternder Mensch. Asymmetrien bestehen ganz offensichtlich auch zwischen Lehrern und Schülern in vielfacher Hinsicht. Auch sind die Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern häufig nicht von Reziprozität gekennzeichnet, was bedeutet, dass der Lehrer nicht erwarten kann, dass Geben und Nehmen in einem gleichen Verhältnis stehen. Als Lehrer steht man in der besonderen Verantwortung, in der man geben muss, unabhängig davon, was man davon für sich zu erwarten hat.
Hier setzt Conradis Kritik an den Prämissen der deontologischen Ethik an, deren Postulat der Menschenwürde durch Autonomie (Gebrauch der Vernunft), Gleichheit und Gegenseitigkeit begründet wird. »Weil Menschen auf verschiedene Weise autonom sind und es in Care-lnteraktionen Unterschiede in der Machtstellung und im Geben und Nehmen gibt, brauchen wir - so meine These - eine Ethik, in der Achtung nicht auf Autonomie, Gegenseitigkeit und Gleichheit gründet und in die Zuwendung einbezogen wird.«[3] Folgerichtig entwickelt Conradi einen Begriff der Achtsamkeit (in Abgrenzung zu Kants Begriff der Achtung), deren einzige universalistische Begründung aus der Tatsache abgeleitet wird, dass Menschen grundsätzlich aufeinander angewiesen sind. Die deontologische Ethik scheint das Problem auf die Fähigkeit des Menschen zu verkürzen, autonome Entscheidungen treffen zu können. Conradi fasst den Begriff der Achtsamkeit so: »Achtsamkeit trägt der Bezogenheit von Menschen aufeinander, ja sogar der Abhängigkeit voneinander Rechnung. Achtsamkeit beginnt in einer Situation, in der Menschen ein Verhältnis zueinander haben und eine Beziehung zueinander entwickeln. Achtsamkeit berücksichtigt Differenzen der Macht und der Möglichkeiten.«[4] Das Schenken von Achtsamkeit ist nicht an eine Verpflichtung zur Gegengabe gebunden. Care-Ethik will die Einzigartigkeit von Menschen akzeptieren, Entwicklung von Spielräumen und Unterschiedlichkeit zulassen und befördern.
Positive Achtsamkeit bedeutet auch, dass Schutzbefohlene vor Verletzungen geschützt und befähigt werden, sich zu entwickeln und eigene Interessen vertreten zu können. Sie steht ganz im Gegensatz zu negativer Bevormundung, bei welcher eine überlegene Position ausgenützt wird, um den Anderen von sich abhängig zu machen oder ihm eine Meinung aufzuzwingen. Soll die Praxis von Care-lnteraktionen gelingen, so müssen die Beteiligten eine gute Beziehung zueinander aufbauen, sich um gegenseitiges Verständnis bemühen, sich in ihren jeweiligen Bezügen wahrnehmen und der Besonderheit der jeweiligen Situation Rechnung tragen.[5] Individuen und soziale Bezüge werden nicht isoliert untersucht, sondern sie werden als eingebettet und strukturiert durch gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse betrachtet. [6]Für die Vielfältigkeit der Bezüge, in denen sich die Beteiligten jeweils befinden, entwickelt Conradi den Begriff der Interrelationalität. In Bezug auf die Schulwirklichkeit bedeutet dies, mehrere Aspekte zu bedenken: die Struktur der Institution, die Bezugspersonen (also auch Eltern, familiäre Verhältnisse, Peers), vorherrschende Meinungen, geschichtlich Gewordenes, Traditionen und z. B. das Machtgefälle zwischen verschiedenen Personengruppen. In Care-lnteraktionen werden neue Kontakte geknüpft, die Netzwerke besonderer Art entstehen lassen. Das bedeutet für das Schulleben, sich nach außen zu öffnen und auch den Mut zu entwickeln, ungewohnte Wege zu gehen.
So berichtete mir z. B. eine Kollegin, dass sie gemeinsam mit ihren Schülern an einem Raucherentwöhnungsprogramm des Gesundheitsamtes teilgenommen hat. Sie machte dabei die positive Erfahrung, dass die Ärztin, welche das Programm entwickelt hatte, bereit war, jeden Schüler, der am Programm teilnehmen wollte, kostenlos zu untersuchen (dieser Service war vom Amt nicht vorgesehen). Die Eltern gaben ihr Einverständnis und es konnte so eine gemeinsame, Erfolg versprechende Aktion gestartet werden. In diesem Sinn wird Care-Ethik gesellschaftliche Praxis, die auf Veränderung zielt und Netzwerke schafft. Es gibt immer wieder Menschen, die bereit sind, über den Tellerrand ihrer eigenen Institution - und sogar gesetzlicher Beschränkungen - hinaus zu wirken. Das ist nötig in einer Zeit, in welcher Schulen stärker in Erziehungsaufgaben eingebunden sind, die ursprünglich im Umfeld der Familie geleistet wurden.
Impulse der Care-Ethik für die pädagogische Arbeit an der Schule
Im Folgenden werde ich anhand der Leitgedanken und Schlüsselbegriffe der Care-Ethik Conradis aufzeigen, worin ich Bezüge zu aktuellen Fragen von Bildung und Erziehung sehe. Es geht mir dabei nicht darum, Care-Ethik als alternativen ethischen Ansatz in Konkurrenz zu anderen Ansätzen darzustellen. Ich begreife sie vielmehr als fruchtbare, allerdings notwendige Ergänzung. Im Sinne der praxisbezogenen, prozessorientierten Ethik gehe ich dabei so vor, dass ich zu den Leitgedanken und Schlüsselbegriffen Materialien vorlege, die von Schüler- und Lehrerseite jeweils gesondert und im Austausch bearbeitet werden können. Die Materialien sind mittel- und oberstufenbezogen und können fächerübergreifend eingesetzt werden.
Einzigartigkeit, Besonderheit, lnterrelationalität
Die Tatsache der Einzigartigkeit und Besonderheit jedes einzelnen Menschen bewusst zu reflektieren ist ein wesentliches Anliegen der Care-Ethik (M 1). Conradi bezieht sich hier auf Levinas, der auf die Unmöglichkeit der Erschließbarkeit des einen Menschen durch den anderen Menschen verweist und die allzu oft unterstellte Allgemeinheit symmetrischer Wechselbeziehungen kritisiert.[7] Es bleibt zwar unbestrittene Notwendigkeit, immer wieder im Unterricht Perspektivwechsel einzuüben. Empathie, Einfühlung, Verstehen werden so gefördert. Gleichzeit muss aber auch die Begrenztheit deutlich werden: Ich werde nie der Andere sein, denn ich bin nicht an seiner Stelle, nicht in seiner Haut. Den Anderen in seiner Andersartigkeit sehen und anerkennen zu können und gleichzeitig bei sich selbst zu bleiben, den Anderen mit der Differenz zu konf10ntieren ist ein wesentliches Merkmal von Care-lnteraktionen. So entwickelt sich in ihnen Bezogenheit. Es ist oft schwer, dem einzelnen Schüler »gerecht« zu werden. Dennoch ist die Wahrnehmung der Individuen in ihrer jeweiligen Besonderheit und die Würdigung .dieser Besonderheit eine grundlegende Bedingung für erzieherische Tätigkeit.
In der Diskussion, die ich mit Schülern und Studenten über diesen Artikel führte, berichtete mir ein junger Student, dass er im Leistungskurs Englisch immer hinten an einem gesonderten Tisch sitzen musste und Redeverbot hatte, weil er zu viel wusste. Ich bin nicht der Meinung, dass wir für solche Schüler eine gesonderte Schule brauchen. Es geht darum, solche Schüler sinnvoll einzubinden und mit ihnen gemeinsam zu erarbeiten, wie eine Einbindung aussehen kann. Unterschiede in Begabung und Leistung müssen immer auch vor dem Hintergrund der lnterrelationalität (vereinfacht gesprochen: des Umfelds) gesehen werden. Das ist vor allem zu bedenken bei den verschiedenen Formen der Beurteilung, vor allem der Notengebung: Es gibt dabei weder Objektivität noch Neutralität. Immer wird hier parteilich gehandelt - ein Gedanke, der vielleicht einigen Lehrern fern ist (zur Reflexion dieses Leitgedankens: M 1 und M 4). Die Frage ist: Wofür ergreife ich Partei? Oder täusche ich »Neutralität » und »Objektivität« vor, während ich mich doch vom Standpunkt der Parteilichkeit aus in die Kriterien »hineinobjektiviere«? [8] Ich will hier nicht gegen einen sinnvollen Maßstab der Beurteilung auftreten. Es geht mir nur um das Bewusstsein über den Zusammenhang, in dem wir beurteilen und selektieren. Bezogenheit in der pädagogischen Arbeit Menschen sind- so Conradi - »verschieden autonom« und stehen häufig in asymmetrischen Verhältnissen zueinander. Für die pädagogische Arbeit bedeutet dies: gute Kenntnisse in Entwicklungspsychologie zu erwerben und als Ethiklehrer im Besonderen, sich dabei nicht nur auf die Kenntnis des Kohlberg´schen Stufenmodells zu beschränken.
Es gibt bis heute keine zusammenhängende Theorie der moralischen Sozialisation. Deshalb kann man meines Erachtens nicht umhin, sich mit verschiedenen Disziplinen und Richtungen, die in dieser Hinsicht Nutzbringendes geleistet haben, auseinander zu setzen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Arbeiten verweisen, auf die von Robert Kegan und von Joachim Bauer. [9] Kegan zeigt, wie wichtig es in der schulischen Pädagogik ist, einerseits Halt zu geben durch das Setzen von Strukturen und Gestalten von Geborgenheit und Nähe und andererseits .»loszulassen«, d.h. den Raum für die Entwicklung zu mehr Autonomie zu öffnen. In Joachim Bauers Arbeit aus dem Bereich der Psychoneuroimmunologie wird nachgewiesen, was Conradi für gelingende Care-lnteraktionen auf der philosophischen Ebene beschreibt: Erst gute Bindungen bzw. Beziehungen und eine anregende Umgebung bewirken, dass Textteile des genetischen Codes überhaupt gelesen und aktiviert werden [10] (vgl. hierzu Elschenbroich, M 5). Dass Kinder und Jugendliche über mehr Autonomie und Diskursfähigkeit verfügen, als ihnen oft zugetraut wird, zeigen Beispiele aus der Reformpädagogik (hier das Beispiel des Just-Community- Modells bei Oser, M 6). Solche Versuche laufen immer dann gut, wenn care-ethische Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Es kann niemals um Formaldemokratie gehen, Erzieher müssen sich um den Verlauf des Prozesses kümmern, jede besondere Situation verlangt besondere Entscheidungen, kreative Lösungen zu finden benötigt Zeit; Lehrer sind für die Gestaltung des Settings verantwortlich.
Dazu bemerkt der Pädagogikprofessor Hans Thiersch treffend:
»Die Diskussion von Regeln und Grenzen muss eingebunden sein in die Diskussion von Zielen, Perspektiven und Inhalten des Lebens. Es scheint mir eine Fatalität der gegenwärtigen Diskussion zu sein, wie sehr sich die Frage nach den Grenzen gegenüber diesen weiterführenden Fragen gleichsam isoliert und verabsolutiert. Es ergibt sich darin dann - aller wohlmeinenden pädagogischen Sorgfalt zum Trotz - doch nur das Bild einer Ordnung, die primär um der Ordnung willen wichtig ist. Schleiermacher hat pädagogisches Handeln [...] in der Trias von Gegenwirken, Behüten und Fördern dargestellt und das Fördern als Dominante verstanden [...] Bezogen auf Grenzen und Grenzsetzung bedeutet dies, dass das Reden von Grenzen seinen Sinn im Kontext ermutigender und attraktiver Lebensperspektiven hat.« [11]
Diese Lebensperspektiven aufzuspüren und sich an ihnen auszurichten obliegt ebenfalls der Verantwortung von Lehrern. Dazu müssen sie sich aber stets im regen Austausch mit Schülern bewegen und bereit sein, sich dem Leben selbst zu öffnen, indem sie über die Institution Schule hinaus denken und wirken.
Materialteil
M1: Das A-B-C der guten Schule
- eine Atmosphäre der Achtung aufbauen
- die Bedürfnisse der Beteiligten in all ihrer Besonderheit berücksichtigen
- jedem Charakter Charisma zuerkennen
- zum Durchblick drängen
- zu ernsthaften Einsichten einladen
- sich Fehlerfreundlich ferhalten
- gelingende Gemeinsamkeiten genießen
- zum Helfen herausfordern
- immer wieder Initiative initiieren
- Ja-Sagern entgegentreten, Nein-Sagern Alternativen anbieten
- zu einem Klima der Kooperation beitragen
- auf die Lust am Leisten Wert legen und das Loben lieben
- Mitmenschlichkeit mehren
- sich der Nähe zur Nachbarschaft widmen
- auf Offenheit hin orientieren
- Perspektiven planen
- sich mit der Qualität des Querdenkens quälen
- Räume für Ruhe schaffen
- nach Sinn - und auch nach Sinneslust - immer wieder suchen
- den Tag leben und das Tagwerk prüfen
- Unterschiede genießen und über die Unvollkommenheiten nicht unzufrieden sein
- Verantwortung vorleben
- Wahrhaftigkeit wagen und Widersprüchen widersprechen
- sich in XX und XY einfühlen und die Verschiedenheiten versöhnen
- Zuversicht zutrauen und zumuten
(Otto Herz)
Zu M1:
Anregungen für Lehrer
Lehrer können als einzelne oder in einer Gruppe selbst ein ABC verfassen und Überlegungen anstellen, wo sie ihre Schwerpunkte sehen. Was kann konkret den jeweiligen schulischen Gegebenheiten und Verhältnissen entsprechend in der schulischen Praxis umgesetzt werden?
Anregungen für Schüler
Die Schüler entwerfen ein ABC der guten Schule (ohne die Vorlage) und werten in der Klasse aus, welche Gewichtung sie selbst vornehmen. Ich halte es für sinnvoll, in diese Aufgabe auch die·Eltern mit einzubeziehen.
Anschließend werden zwei Fragen gemeinsam erarbeitet:
- Was sollte vom Lehrer erwartet werden, um zum Gelingen der »guten Schule« beizutragen?
- Was sollte vom Schüler dazu beigetragen werden?
M2: Der andere ist anders
Der andere ist anders
Er denkt anders als ich denke.
Er handelt anders als ich handle.
Er tut etwas anderes,
als ich von ihm erwartet hätte.
Er lacht und trauert anders,
als ich augenblicklich gestimmt bin.
Er schlussfolgert anders,
als ich es für logisch halte.
Er äußert sich anders,
als ich es hören wollte.
Er lebt anders als ich.
(Günter Höver: aus „Momente der Besinnung – das ‘Mehr’ der DJK“ )
M3: Neid vergiftet das Klima
Gymnasium. 12. Klasse, Leistungskurs Mathematik Peter beneidet Paul um seine mathematische Begabung. In fast jeder Arbeit erhält Paul die beste Note. Peter möchte ebenso gut sein wie er, erreicht ihn aber trotz aller Anstrengungen nicht. Bislang ist er ihm deshalb aus dem Weg gegangen, hat ihn heimlich bewundert, ihn Mitschülern gegenüber aber immer als Streber verunglimpft. Hat so getan, als könne er ebenso gut sein, würde er nur wollen. Bei einem Geburtstagsfest, auf das beide eingeladen sind, kommen sie sich dennoch näher. Und freunden sich an. Peter traut sich nicht zu fragen, ob Paul mit ihm für die letzte Mathematikarbeit des Schuljahres lernen könnte. Sie wird für die Note entscheidend sein. Als Paul ihn von sich aus fragt, ziert sich Peter zunächst, willigt dann aber ein. Paul ist ihm eine große Hilfe. Zum ersten Mal versteht Peter mathematische Zusammenhänge, die ihm bisher verschlossen geblieben sind. Dann wird die Arbeit geschrieben. Peter steigert sich. Eine so gute Note hatte er das ganze Jahr über nicht gehabt. Aber Paul ist dennoch besser. Statt sich zu freuen, wird Peter ärgerlich und wütend. Er beschuldigt Paul, ihm wichtige Rechenhilfen vorenthalten zu haben. Paul könne es wohl nicht ertragen, dass er ebenso gut werde. Dafür verachte er ihn. Wer sei es denn überhaupt gewesen, der zusammen lernen wollte. Paul habe doch ihn gefragt. Aber wahrscheinlich nur, um seine Überlegenheit zu demonstrieren. Aber er brauche ihn nicht. Komme viel besser ohne ihn zurecht. Und schon ist das gerade geknüpfte Freundschaftsband wieder zerrissen.
(Auszug aus: Rolf Haubl: Neidisch sind immer nur die anderen. Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein. München 2001, S. 143.)
Zu M3:
Unterschiede in Begabung und Leistung sind häufig Quelle von Neid, der das Klima in der Klasse (übrigens auch im Kollegium) vergiftet. Es gibt nicht wenige Klassen, in denen bereits ein Schüler, der sich freiwillig meldet oder besonders initiativ ist, weil ihn ein Thema interessiert, sofort als Streber disqualifiziert wird. Im Sinne von Care-Ethik geht es darum, gemeinsam diesen Verhaltensweisen auf die Spur zu kommen und Überlegungen anzustellen, wie alle »verändert « aus einer solchen Situation hervorgehen könnten. An Fallbeispielen lassen sich solche Fragen besser bearbeiten. Sie können jedoch den konkreten Bezug zu Problemen in der Klasse nicht ersetzen. Im Buch von Haubl [12] finden sich ausgezeichnete Bilder zum Thema Neid, die ergänzend aufgenommen werden können.
Anregung für den Unterricht
a.) Darstellung im szenischen Spiel mit 5 Akten:
- Pausengespräch zwischen Peter und Mitschülern über die Situation im Mathe-Leistungskurs und den »Streber Paul«
- Die Geburtstagsparty
- Das gemeinsame Lernen
- Erhalt der Klausur (innerer Monolog Peters)
- Zerwürfnis mit Paul
b.) Entwerfen einer alternativen Fassung
des Stücks, in der es Peter gelingt, sich über das Ergebnis zu freuen, zu akzeptieren, dass Paul in Mathe besser ist und das Band der Freundschaft zu festigen.
Bei dieser Aufgabe kommt es vor allem darauf an, eine glaubhafte, in sich schlüssige Neufassung zu entwickeln (beispielsweise entdeckt Peter ein Gebiet, auf dem er seinerseits Paul behilflich sein kann, sodass darüber ein Ausgleich geschaffen wird).
c.) Neider und Beneideter
stehen häufig in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Beide Seiten schauen wir uns genauer an. Die Problematik kann über die gemeinsame Erarbeitung folgender Fragen vertieft werden:
- Was kann derjenige, der eine besonders gute Leistung hervorbringt, falsch machen, damit er von anderen als Streber angesehen wird?
- Was macht jemanden trotz guter Leistung sympathisch?
- Welche Verhaltensweisen legen Menschen an den Tag, wenn sie neidisch sind?
- Welche Möglichkeiten gibt es, positiv mit dem Neid umzugehen?
M4: Die Tierschule
»Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Das Lernen bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen, und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet. Die Ente war gut im Schwimmen; besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittsnoten aber waren akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer der Ente. Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachsichtig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, als erster den Wipfel eines Baumes zu erreichen, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden. Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und musste von der Schule abgehen wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen. Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ es seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr »Dreien« im Klettern und »Fünfen« im Rennen. Die mit Sinn fürs Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in das Curriculum aufzunehmen. Am Ende des Jahres hielt ein Zitteraal, der gut schwimmen, etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlussansprache«.
Zu M4:
In der »Tierschule« kommen gleich eine Vielzahl von Fragen auf den Tisch, die in der gegenwärtigen Schuldebatte eine Rolle spielen. Eine ganze Latte von Bedürfnissen offenbart sich hier, die in unseren Schulen nur unzureichend befriedigt werden: angemessene Binnendifferenzierung, zeitgemäßer Bildungskanon, sinnvolle Sanktionen, qualifizierte Beurteilung, angemessene Förderung von Leistung, Wahl geeigneter Methoden Berücksichtigung von Stärken und Schwächen. »Take care!« bedeutet hier, dass dieser Zoo ein achtsames Team von Tierpflegern benötigt, die selbstverständlich auch für ihre eigene Pflege und Nahrung sorgen.
Anregungen für Lehrer
Fragen, die durch diese Fabel aufgeworfen werden und der Reflexion sowohl des einzelnen Lehrers als auch eines Teams bedürfen:
- Wie gehen wir mit Schülern um, die uns überlegen sind (oder dies in absehbarer Zeit sein werden?)
- Gelingt es uns, Talente neidlos wahrzunehmen, zu fördern und fruchtbar ins Schulleben zu integrieren?
- Ist das Spektrum unserer Methoden weit genug?
- Sind wir offen für andere Wege?
- Welche Forderungen können allgemein gestellt werden, ohne Überforderung zu bedeuten?
- Schaffen wir ein Setting, in welchem Schüler voneinander lernen können?
- Wie sinnvoll ist unser Wissenskanon?
- Wie handhaben wir Beurteilung und Bewertung, damit sie positive Wirkung zeigen?
Anregungen für Schüler
Es bietet sich zunächst an, eine Übertragung der Fabel in die Schulwirklichkeit vorzunehmen und in einer Bestandsaufnahme festzustellen, wo sich Parallelen ergeben.
Zusammenstellung eines Kanons des Wissenswerten:
- Wenn Sie die Wahl hätten, zu bestimmen, welche Fächer für alle verbindlich unterrichtet werden sollten, welche Wahl würden Sie treffen?
Schüler können zusammentragen, welche Formen der Beurteilung und Bewertung sie kennen (also alles, was über das traditionelle Notensystem hinausgeht, mit dem Ziel, selbständig Evaluation betreiben zu können). Sie entwerfen selbst Möglichkeiten der Evaluation.
Erfahrungsgemäß haben Schüler hier sehr originelle Einfälle. Schüler können eine Neufassung der Fabel entwerfen, in der sich die Tiere sinnvoller organisieren. Sie entwickeln nun ihrerseits kreative Einfälle zu Bewertung, Wissenskanon, Förderung.
M5: Weltwissen: eine erste Liste
- Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln).
- Es sollte ein Geschenk verpacken können.
- Zwei Kochrezepte umsetzen können, für sich und für einen Freund, für sich selbst und für drei Freunde.
- Es sollte einmal ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben.
- Es sollte gefragt haben können, wie Leben entsteht.
- Es sollte eine Vorstellung davon haben, was bei einer Erkältung in seinem Körper vorgeht, und eine Wunde versorgen können.
- Das Kind sollte wissen, wie man drei verschiedene Tiere füttert, und Blumen gießen können.
- Ein siebenjähriges Kind sollte schon einmal auf einem Friedhof gewesen sein.
- Es sollte wissen, was Blindenschrift ist, und vielleicht drei Wörter in Blindenschrift (oder Gehörlosensprache) verstehen.
- Es sollte zwei Zaubertricks beherrschen.
- Drei Lieder singen können, davon eines in einer anderen Sprache.
- Es sollte einmal ein Musikinstrument gebaut haben.
- Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben und erlebt haben, dass die Pause ein Teil von Musik ist.
- Es sollte drei Fremdsprachen oder Dialekte am Klang erkennen.
- Drei Rätsel, drei Witze erzählen können.
- Einen Zungenbrecher aufsagen können.
- Es sollte drei Gestalten oder Phänomene in Pantomime darstellen können und Formen der Begrüßung in zwei Kulturen.
- Ein Gebet kennen.
- Reimen können, in zwei Sprachen.
- Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben.
- Eine Sonnenuhr gesehen haben.
- Eine Nachtwanderung gemacht haben.
- Durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen.
- Wissen, was Grundwasser ist.
- Was ein Wörterbuch ist, eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell.
- In einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge...), in einem Museum.
- Einmal auf einer Bühne gestanden haben und einem Publikum mit anderen etwas Vorbereitetes vorgetragen haben.
- Ein siebenjähriges Kind sollte einige Ereignisse aus der Familiengeschichte kennen, aus dem Leben oder der Kindheit der Eltern oder Urgroßeltern. Und etwas aus der eigenen Lebensgeschichte: zwei Anekdoten über sich selbst als Kleinkind erzählen können. Wissen, zu welcher Zeit - der Eltern, der Großeltern - das Haus gebaut ist, in dem man wohnt.
- Einen Streit aus zwei Positionen erzählen können.
- Ein Beispiel für Ungerechtigkeit beschreiben.
- Konzepte kennen: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft, was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis.
- Ein Beispiel kennen für den Unterschied zwischen dem Sachwert und dem Gefühlswert von Dingen...
(Auszug aus: Donata Elschenbroich: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München 2002, S. 23 ff.)
Zu M5:
Donata von Elschenbroich hat mit ihrer Veröffentlichung eine breite Debatte um frühkindliche Erziehung und Bildung angeregt. Statt über die »Erziehungskatastrophe«[13] zu lamentieren versucht sie, positiv Bestimmungen vorzunehmen, in welch vielfältiger Weise sich Eltern, Erzieher und Lehrer um Kinder bemühen können.
Anregungen für Lehrer und Schüler
- Herausarbeiten, welche Bereiche dieses »Weltwissen« umfasst, Diskussion um Berechtigung dieses Kanons; eventuell eigene Modifizierung des Kanons (im Buch sind Erweiterung nachzulesen, Schüler können hier vergleichen und gewichten).
- Entwurf eines »Weltwissens« für die heute Sechzehnjährigen. In die Diskussion könnten auch Eltern mit einbezogen werden.
M6: Diebstahl in der Schule - ein Fallbeispiel: Was geschieht in einer gerechten Schulgemeinschaft?
[...] Die Versammlung wird von einer Vorbereitungsgruppe, die wir weiter unten noch beschreiben werden, gestaltet. Meistens wird die Sitzung von zwei Schülern und zwei Lehrpersonen der Vorbereitungsgruppe geleitet. Lehrer und Schüler unterschiedlicher Altersstufen, Knaben und Mädchen sitzen frei durcheinander in der Aula. Das Thema wird von der Vorbereitungsgruppe vorgetragen. Es lautet diesmal »Diebstahl in der Schule«. Die leitenden Schüler zeigen sich betrübt darüber, dass immer wieder kleinere und größere Diebstähle vorkommen. Einige Schülerinnen und Schüler beschreiben, wie es ihnen ergangen ist, als man ihnen einen teuren Kugelschreiber, eine Jacke, ein Portemonnaie usw. geklaut hatte. Nach einigen Wortmeldungen wird der Vorschlag gemacht, dass man einen gemeinsamen Fonds anlegen soll, eine Kasse, aus der den bestohlenen Kindern geholfen werden könnte. Dieser Vorschlag erregt die Gemüter. Sobald der Vorschlag angenommen würde, müsste jeder etwas geben, auch wenn es nur ein Pfennig wäre. Nach der Gruppendiskussion wird heftig und kontrovers für und gegen den Vorschlag geredet.[„.] Lehrer und Lehrerinnen nehmen an der Debatte teil; auch ihre Meinung ist keineswegs einhellig. Während die einen für den Unterstützungsfonds plädieren, betonen die anderen ebenfalls die Gefahr des Missbrauchs oder aber machen den Vorbehalt des Gesetzes geltend, das nicht zulässt, dass jemand gezwungen wird, Geld zu geben. Es gab Schülerinnen und Schüler, die gerade dies zum Anlass nahmen aufzuzeigen, wie sehr es die Schule nötig habe, Gemeinschaft zu pflegen, und wie wenig bisher einer für den anderen da gewesen sei (Stufe 3-Argument) [Hier wird Bezug auf das Kohlberg´sche Stufenschema genommen, H. H.]. Viele andere sind dagegen der Meinung, die Verhandlung gehe überhaupt nur die etwas an, die stehlen oder bestohlen würden (Stufe 2-Argument). Es wird eine Abstimmung durchgeführt. Eine knappe Mehrheit setzt sich gegen eine große Minderheit durch; der Fonds wird angenommen. Nachdem noch über einige klärende Zusatzbeschlüsse verhandelt - wie die Gründung eines Fundbüros und die Einführung gewisser Kontrollregeln (da ja manchmal vermeintlich Gestohlenes einfach nur verloren oder liegen gelassen wurde) - und die Versammlung dann geschlossen wird, legt sich die Aufregung unter den Schülern nicht; besonders einige Schüler der höheren Klassen (7. und 8. Klassenstufe) sind noch sehr mit dem Grundsatzbeschluss beschäftigt. Sie fragen, ob es denn keine Möglichkeit gebe, sich der Entscheidung zu entziehen, sie haben ja nicht dafür gestimmt. Ich (der Erstautor) versuche ihnen zu erklären, dass es eine solche Möglichkeit nicht geben dürfe; wenn eine Demokratie funktionieren soll, dann muss die Minderheit sich einer legal zu Stande gekommenen Mehrheitsentscheidung fügen. Allerdings könnten sie ein Referendum beantragen bzw. eine Initiative starten, eine Unterschriftensammlung für eine erneute Befassung mit dem Thema in der nächsten Versammlung. Diese Idee leuchtet ihnen ein. In allen Klassen wird das Ergebnis nochmals diskutiert. Viele Schüler kämpfen verbissen für einen Antrag auf erneute Befassung. Sie sammeln Unterschriften, versuchen Lehrer und Schüler für ihren Standpunkt zu gewinnen. In der nächsten Versammlung liest ein Schüler den Antrag vor. Die Vorbereitungsgruppe hatte gehofft, eine Abstimmung umgehen zu können, indem sie ohne weitere Diskussion auf diesen Antrag einging. Aber der Schüler fordert eine Abstimmung, und der Antrag wird angenommen. Nun stellen einige Schüler und Schülerinnen, die für den Fonds waren, ihre vorbereiteten Begründungen vor, nachher einige Schüler, die dagegen waren. Wieder wird in kleinen Gruppen diskutiert. (Ich - F. 0. - habe in einer Kleingruppe sieben Schüler um mich versammelt, die alle gegen den Fonds sind. Sie bezeichnen mich als einen Utopisten, einen Träumer. Sie haben andere Erfahrungen gemacht im Leben. Sie seien oft genug betrogen worden. Ich erkläre ihnen, dass jemand mit dem Guten anfangen müsse, und dass bei einem Unfall der betreuende Arzt auch nicht zuerst untersuchen lässt, ob das Unfallopfer ein Terrorist sei.) Im Plenum wogt die Diskussion heftig hin und her. 120 Schüler und 30 Lehrer nehmen äußerst diszipliniert, aber gespannt und motiviert an der Diskussion teil. Plötzlich, auf dem Höhepunkt, macht ein Schüler den Vorschlag, dass man zwar für Opfer von Diebstählen sammeln solle, aber nicht einen Fonds anlegen müsse, sondern von Fall zu Fall entscheiden könne, ob der Betroffene tatsächlich Hilfe brauche. Das würde dem Einzelnen mehr Freiheit geben, mitzuentscheiden, ob es sich um einen echten oder einen unechten Fall handle. Dieser Vorschlag wirkt sehr befreiend. Es kommt zur Abstimmung. Aber jetzt steht die Frage an, wie abgestimmt werden solle. Wiederum gibt es eine heftige Diskussion: Sollte man zuerst über den Grundsatz abstimmen, ob etwas getan werden sollte oder nicht; oder wäre es besser, einfach die zwei Vorschläge ohne weitere Diskussion zur Abstimmung zu stellen? Der zweite Vorschlag, nur im Notfall eine Sammlung vorzunehmen, kommt schließlich mit hoher Stimmenmehrheit durch. Erschöpft, aber auch wie erlöst standen Lehrpersonen und Schüler und Schülerinnen noch lange in Gruppen in den Gängen und auf dem Pausenhof und diskutierten das Ereignis. Die Schüler hatten das Gefühl, dass dies ihr Beschluss sei und die Schule ihre Schule, in der man fair mitbestimmen könne. Die Lehrer diskutierten, was man hätte besser machen können, wo die pädagogischen Fehler lagen. Alle jedoch waren erregt und zugleich begeistert, denn diese Zusammenkünfte machten die Schule lebendig, das Denken des Einzelnen sichtbar, kristallisierten Meinungsbilder und Meinungsgruppen heraus, schafften gemeinsame Handlungspläne und die Möglichkeit der Herausbildung gemeinsam geteilter Normen. Dieses Beispiel einer Versammlung der Gerechten Gemeinschaft an der Johann Gutenberg-Schule in Langenfeld unter Direktor Hans Henk zeigt das Prinzip und die Praxis dieses Schulmodells: Durch Beteiligung, Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme wird die Schule zu einem Lebensraum, mit dem sich Schüler und Lehrer identifizieren. Dieser Lebensraum wird zum Kernbereich demokratischen Verhaltens, prosozialen Handelns, moralischen Urteilens und der Entwicklung von so genannten geteilten Normen, selbst hervorgebrachten und dadurch leichter internalisierbaren Sollensvorstellungen. Von gerechter Gemeinschaft wird nicht gesprochen, weil andere Gemeinschaften weniger gerecht sind, sondern weil hier auf der Basis eines partizipatorischen Demokratiemodells in bestimmten, das allgemeine Schulleben betreffenden Fragen Gerechtigkeit »geschaffen«, das heißt hervorgebracht wird.
(Auszug aus Fritz Oser: Die Gerechte Schulgemeinschaft: Lernen durch Gestaltung des Schullebens, in: Wolfgang Edelstein/Fritz Oser: Moralische Erziehung in der Schule. Weinheim/Basel 2001 S. 235 ff.)
Zu M6:
Das ist ein Fallbeispiel aus einer Realschule in Nordrhein-Westfalen, in der nach dem Vorbild der Just-Community Schulen 12 relevante Entscheidungen in einer zwei- bis dreiwöchig stattfindenden Gemeinschaftsversammlung getroffen werden, an der alle Schüler und Lehrer teilnehmen. Auf das Beispiel wird in Osers Artikel Bezug genommen. Auch in der weiteren Auseinandersetzung mit dem Just Community-Modell bietet sich eine Projektarbeit an, in welcher Schüler sich mit verschiedenen reformpädagogischen Modellen und Versuchen beschäftigen.
Arbeitsauftrag:
- Wie beurteilst du diese Möglichkeiten der Partizipation?
- Ist diese Art von Demokratie zu umständlich, sollten lieber die Lehrer selbst entscheiden?
- Gibt es an deiner Schule Konflikte, die du gerne in ähnlicher Weise lösen würdest?
- Welche Initiativen wären an eurer Schule in dieser Hinsicht denkbar?
Anmerkungen
[1] Badische Zeitung vom 26. 4. 2003, S. 3.
[2] Elisabeth Conradi, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a. M./New York 2001.
[3] Ebd., S. 238.
[4] Ebd.
[5] Diese Aspekte werden z. B. in den Dilemmata-Diskussionen stets ausgeklammert.
[6] Ebd. S. 253.
[7] Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br./München 1992.
[8] Dieser Ausdruck stammt von einem Fachberater, der - wiederum auf einer Schulung für Fachberater - auf die Frage, wie er denn die Noten bei einem Unterrichtsbesuch erstelle, antwortete: »Nach den ersten drei Minuten sehe ich, ob der Bezug zur Klasse stimmt, das finde ich am wichtigsten, danach objektiviere ich mich in die Kriterien hinein.«
[9] Robert Kegan, Entwicklungsstufen des Selbst, München 1986; und Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Frankfurt a. M. 2002. Da Kegan die Erkenntnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (vor allem Erik Eriksons) verbindet mit den Erkenntnissen der Kognitionspsychologie Piagets und dem Wissen um moralische Urteilsbildung von Kohlberg, gibt er eine gute Zusammenfassung der Entwicklungspsychologie allgemein.
[10] Daneben enthält dieses Buch ein spezielles Kapitel zum Burnout-Syndrom, von dem Lehrer bekanntlich neben den Ärzten die am häufigsten betroffene Berufsgruppe sind.
[11] Hans Thiersch, Erziehungsnotstand - Erziehungsprobleme, in: ajs Informationen IV/2002, Dezember, S. 8 ff.
[12] Rolf Haubl: Neidisch sind immer nur die anderen. Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein, München 2001, S. 143
[13] So der Titel eines wenig produktiven, in seiner Kritik eher rückwärts gewandten Elaborats der Journalistin Susanne Gaschke.