StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerSpiegelung und soziales Lernen

Spiegelung und soziales Lernen

Hiltrud Hainmüller

Ein Interview mit Joachim Bauer*

Hainmüller: Während der Lektüre Ihres Buches stellten sich bei mir positive, angenehme Gefühle ein. Ich geriet regelrecht in Begeisterung über unsere neurobiologische Ausstattung als Menschen: das Prinzip der Paarung, die Suche nach Passung, Spiegelung und Abstimmung zwischen biologischen Systemen als eigenständiges Kernprinzip der Evolution. All dieses soll sich bei uns so gut durchgesetzt haben, dass wir hervorragende, differenzierte kommunikative Systeme entwickelten, die uns befähigen, einander wahrzunehmen, miteinander zu leben, zu leiden, ia sogar einander zu lieben. Können wir die Hoffnung haben, doch keine »Irrläufer der Evolution« (Arthur Koestler) zu sein? Zum zweiten: Können wir anthropologische Grundannahmen über den Menschen als »des Menschen Wolf« relativieren oder sogar über Bord werfen?

Bauer: Martialische Begriffe wie war of nature (Krieg der Natur) und struggle of life (Kampf ums Überleben) entstammen der Sprache Charles Darwins. Tatsächlich war das frühindustrielle, viktorianische England, in dem Charles Darwin lebte, beherrscht von Konkurrenzdenken und von Ängsten ums Überleben. Einen wesentlichen Anteil daran hatte der englische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Malthus (1766-1834), der in seinen Schriften den industrialisierten Staaten angesichts ihres Bevölkerungswachstums Nahrungsmangel und einen Kampf ums Überleben voraussagte. Charles Darwin stand unter dem Einfluss der Lehren von Malthus, den er in seinen Büchern auch immer wieder zitiert. Aus Darwins Sicht lag es nahe, das Modell vom Mangel an Ressourcen, vom Kampf ums Überleben und vom Überleben der Tüchtigsten auf den Gang der Naturgeschichte und auf die Grundregeln der Biologie zu übertragen. Wichtige Grundphänomene der Evolution wie Kooperation und Resonanz blieben unbeachtet. Wenn sie thematisiert wurden, dann nur als im Dienste des Kampfes stehend. Aus der darwinistischen Sicht der Biologie hat sich, vor allem in Deutschland und hier vor allem im Bereich der Medizin, zwischen 1862 und 1933 ein Menschenbild entwickelt, welches uns heute noch in den Knochen steckt und welches wir überdenken müssen.

Hainmüller: Wenn Sie von den Leistungen der Spiegelnervenzellen sprechen, dann deckt sich das einerseits mit Alltagserfahrungen: überall da, wo es mit der Spiegelung klappt, beflügelt das unsere Beziehungen als Menschen in allen Lebensbereichen. Doch oft genug klappt es ia nicht. Sind unsere Spiegelsysteme nicht auch sehr störanfällig? Warum täuschen wir uns so oft und tun uns schwer mit der Bildung einer angemessenen theory of mind?

Bauer: Die neurobiologischen Spiegelsysteme sind störanfällig. Mangel an verstehender Zuwendung in der frühen postnatalen Zeit kann dazu führen, dass die Spiegelsysteme nicht eingeübt werden und später nur mangelhaft funktionieren. Auch später noch können Störungen auftreten: Erfahrungen traumatischer Natur können die Fähigkeit, spontan zu fühlen und zu verstehen, aufs Schwerste beeinträchtigen. Aber auch da, wo die Spiegelungsfähigkeit eines Menschen erhalten ist, sind nicht alle Probleme des Lebens gelöst. Die Spiegelnervenzellen arbeiten so, dass wir unsere eigenen Erfahrungen als Instrument benutzen, mit dem wir andere verstehen. Beim Verstehen eines anderen fließt also immer auch etwas von unseren eigenen Gefühlen und Vorerfahrungen mit ein, insofern kommt es immer zu einer unvermeidlichen Verfälschung. Ein weiterer Schwachpunkt des Spiegelsystems ist, dass unsere Intuition sich an unseren bisherigen Durchschnittserfahrungen orientiert. Wir verstehen und antizipieren Abläufe, die wir bei einem anderen Menschen beobachten, so, wie wir es aufgrund bisheriger Beobachtungen erwarten. Dies bedeutet, dass die Spiegelneuronen - und damit unsere Intuition - täuschungsanfällig sind.

Hainmüller: Dass Kinder, die in ihren Eltern gute Spiegelpartner haben, ihr Starterset an Spiegelneuronen zu einem wunderbaren Kapital an Einfühlungsvermögen und Handlungsoptionen entwickeln können, macht Eltern Mut, sich Zeit und Muße zu gönnen, sich dem gemeinsamen Spiel hinzugeben. Als Lehrer wirken wir vornehmlich im Primarbereich und auf den Sekundarstufen. Ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht schon »alles gelaufen«?

Bauer: In der Neurobiologie ist nie »alles schon gelaufen«, denn das Gehirn ist bis ins Alter ein sich änderndes Organ, das heißt, Erlebnisse und Erfahrungen können uns - sowohl seelisch als auch neurobiologisch - lebenslang formen. Allerdings ist es so, dass Defizite und Störursachen umso stärker wirken, je früher sie auftreten. Umgekehrt sind therapeutische Interventionen umso aufwändiger und langwieriger, je später sie einsetzen. Gerade vor, während und nach der Pubertät hat das Gehirn allerdings nochmals eine »zweite Chance«. Was Kinder in dieser Zeit an guten Beziehungserfahrungen geboten bekommen, ist von größter Bedeutung.

Hainmüller: Sie zeigen in Ihrem Buch, dass der Vollzug einer Handlung in den prämotorischen Handlungsneuronen beginnt, wo Handlungen als Ganzes geplant werden. Sie nennen diese Handlungsneurone »Asterixzellen«. Erst wenn diese prämotorischen Handlungsplaner in uns aktiv geworden sind, erhalten die bewegungssteuernden Nervenzellen der eigentlich motorischen Hirnrinde - Sie nannten diese »Obelix-Zellen « - den Befehl, was konkret zu tun ist. Die Asterixzellen sind der geistige Planer, sie können aber auch aktiv werden, ohne dass es zu einer Handlung kommt, das heißt, Obelix muss nicht zuschlagen, wenn Asterix es nicht möchte. Sie führen aus, dass wir vom dritten Lebensjahr an beginnen, innere Hemmschwellen - landläufig »das Gewissen « genannt - aufzubauen, die uns in die Lage versetzen, einen Handlungsgedanken zu haben, ohne die dazugehörige Handlung ausführen zu müssen. Der Aufbau dieses Systems sei etwa zum Zeitpunkt der Pubertät abgeschlossen. Was bedeutet für Schulen diese entwicklungspsychologische Annahme für den Umgang mit Jugendlichen im Hinblick auf Bemühungen moralischer Sozialisation?

Bauer: Es bedeutet zum einen, dass Kinder die Möglichkeit haben müssen, ihre motorischen Energien auszuleben und -vor allem im Spiel - Handlungsideen auszuprobieren. Es bedeutet aber ebenso, dass Kinder, beginnend mit etwa dem dritten Lebensjahr, auch gezeigt bekommen müssen, nach welchen Regeln sich Handlungen zu richten haben. Sie müssen lernen, dass es bestimmte Dinge gibt, die man zwar gerne tun würde, aber definitiv - und bei Strafe - nicht tun darf. Kinder sollen dabei die Erfahrung machen, dass es zwar nicht verboten ist, etwas Verbotenes tun zu wollen, dass es aber nicht zulässig ist, es tatsächlich auch zu tun. Die Erziehung zur Einhaltung von Regeln kann aber nicht gelingen, wenn Kinder mehrere Stunden am Tag im Fernsehen, in Videofilmen und in Ego-shooter-Spielen lernen, dass nackte Gewalt und Brutalität Trumpf sind. Das Ergebnis dieser Entwicklung können wir derzeit beobachten: eine massive Zunahme von jugendlichem Gewaltverhalten. Wir werden als Gesellschaft dafür einen hohen Preis zu zahlen haben.

Hainmüller: Sie warnen vor übermäßigem Konsum von gewaltverherrlichenden Medien. In diesem Zusammenhang gibt es immer wieder heftige Diskussionen mit Jugendlichen über die so genannten Ego-shooter-Spiele. Unter unseren Schülern sind viele, die in ihrer Freizeit extensiv solche Spiele spielen, jedoch nicht den Eindruck einer gewaltbereiten, gestörten Persönlichkeit erwecken. Ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie behaupten, Spiegelprozesse würden sich nur zwischen lebendigen Personen ereignen und andererseits vor virtuellen Spielen warnen, die von Betroffenen eher als »harmloser Blitzableiter« eingestuft werden?

Bauer: Die Spiegelnervenzellen sorgen dafür, dass wir Handlungen, die wir bei anderen Menschen beobachten, in unsere eigenen Handlungsprogramme einspeichern. Mehrere Studien zeigen, dass dies auch beim Betrachten von anderen Menschen in Videofilmen funktioniert. Wir müssen davon ausgehen, dass auch die hochgradig wirklichkeitsnah aufbereiteten virtuellen Welten der Ego-shooter-Spiele die Spiegelzellen ansprechen. Ich hätte nichts dagegen, dass der Konsum von Gewaltmodellen in den Medien eine Blitzableiterfunktion hat, nur sagen die wissenschaftlichen Untersuchungen, die es dazu inzwischen gibt, genau das Gegenteil. Medienkonsum erhöht nachgewiesenermaßen die Gewaltbereitschaft. Aber nicht nur das: Medienkonsum, auch das zeigen inzwischen Studien, hat signifikante negative Effekte auf die schulischen Leistungen und auf die spätere Karriere.

Hainmüller: Halten Sie es für möglich, dass bei Menschen, die ihre Zeit vorwiegend am Computer verbringen - sei es aus Interesse, Freizeitvergnügen oder zum Broterwerb - die Fähigkeit zu Spiegelung verkümmert oder sogar verloren geht?

Bauer: Der PC ist ein normales Arbeitsmittel wie andere auch. Der PC vereint inzwischen vielfältige Funktionen, er ersetzt die Schreibmaschine, er erspart uns den Gang zur Post und dient uns - via Internet - als Bibliothek und Wissensressource. Vorausgesetzt wir verfallen am PC nicht einem Suchtverhalten - auch das gibt es inzwischen - , gibt es keinen Grund zur Annahme, dass uns das schaden sollte, auch den Spiegelzellen nicht.

Hainmüller: Sie verweisen in Ihrem Buch immer wieder auf eine notwendige Balance zwischen dem Vertrauen auf die Intuition und dem kritischen Gebrauch der Ratio. Können Sie abschließend noch ein wenig dazu sagen, welche Instrumente hier nach Ihrer Meinung uns Menschen - gleichsam als Stimmgabel - zur Verfügung stehen? Woran können wir erkennen, ob unser Resonanzboden einen Sprung hat, und wie können wir Risse vermeiden?

Bauer: Zunächst einmal: Wir sollten nicht zu Hypochondern werden und uns nicht zu sehr beobachten. Eine solche Haltung kann selbst zur Krankheit werden. Unser aller Ziel sollte es sein, uns unbefangen und möglichst spontan zu verhalten. Menschen, die bei sich und anderen immer auf der Suche nach einer Störung sind, haben meist selbst eine Störung. Davon abgesehen: Störungen und Defizite in der Fähigkeit des intuitiven Verstehens zeigen sich dadurch, dass wir feststellen, dass wir zu anderen Menschen durchgehend keinen guten emotionalen Kontakt bekommen, dass wir uns immer irgendwie »draußen« fühlen oder dass immer wieder Situationen auftreten, wo wir andere nicht richtig verstanden haben.

Hainmüller: Und nun noch die unvermeidliche Genderfrage (einer Lehrerin auf einer fast reinen Jungenschule): Welchen Rat würden Sie Frauen - die ja bekanntlich über bessere Spiegelqualitäten verfügen - geben? Wie können sie den Nachholbedarf an Emanzipation der Männer auf diesem Gebiet erfolgreich befördern?

Bauer: Das Beste ist vielleicht, andere nicht krampfhaft bessern zu wollen. Vielleicht sollte man Männern ein bisschen Autismus zugestehen. Irgendwann merken die meisten Männer von selbst, dass das Leben schöner ist, wenn man sich nicht nur auf die Durchsetzung irgendwelcher Ziele versteift, sondern auf andere einlassen kann und deren Wünsche zu verstehen und zu berücksichtigen lernt.

Die Fragen stellte Hiltrud Hainmüller

*Joachim Bauer ist Arzt, Neurobiologe und Autor des Buches »Warum ich fühle, was du fühlst“: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone Hamburg, 2006