See me, feel me – touch me, heal me
Hiltrud Hainmüller
Hiltrud Hainmüller
(Erschienen in: Ethik und Unterricht, Heft 1/2001, S. 34 ff.)
Der von Geburt an blinde Flipperkönig Tommy aus der gleichnamigen Rockoper von THE WHO aus dem Jahre 1969 singt sich in eindringlichen, sehnsüchtig langgezogenen Tönen fast die Seele aus dem Leib: Es kommt ihm nicht darauf an, dass die anderen ihn wegen seiner Leistung bewundernd zum Helden machen. Er will gesehen, »gefühlt« (oder erfühlt), berührt und geheilt werden. Damit spricht er die emotionalen Grundbedürfnisse des Menschen an, deren Befriedigung von der Geburt an überlebenswichtig und sein ganzes Leben lang von Bedeutung ist. Wahrgenommen und gesehen zu werden, Einfühlung und Berührung zu erfahren ist für das Gedeihen des Menschen elementar. In der psychoanalytischen Literatur wird von der positiven Wirkung gesprochen, die vom »Glanz im Auge der Mutter« auf das Kind ausstrahlt und von den fatalen Folgen, wenn diese Augen glanzlos sind oder sich gar abwenden. Martin Dornes [1] stellt in seinem Buch »Der kompetente Säugling« umfangreich die aktuellen Ergebnisse der Säuglingsforschung dar, die ein vollkommen neues Licht auf die Entstehung von Affekten, Emotionen, Gefühlen, Kognition und Ich-Bewusstsein werfen. Es wurde beobachtet, dass Säuglinge bereits kurz nach der Geburt in ihren Gesichtszügen verschiedene Affektausdrücke erkennen lassen, die innerhalb der ersten Monate weiter ausdifferenziert werden. So lassen sich bereits relativ früh Ekel, Überraschung, Interesse, Neugier, Freude, Traurigkeit und Ärger unterscheiden. Sie stehen in Konkordanz zu den Gefühlen, die von den engsten Bezugspersonen wahrgenommen, gespiegelt und gestaltet werden wollen.
Sowohl Dornes als auch Daniel Stern [2] gehen von einem Grundbedürfnis nach lntersubjektivität aus: Wenn das Kind entdeckt, dass es Erfahrungen mit einem anderen teilen und kommunizieren kann, dann ereignet sich »die Sozialisierung seiner Gefühle mit psychischen Mitteln« [3]. Wenn Eltern in diesem Prozess eine harmonische Einstimmung auf ihr Kind gelingt, dann sind beste Bedingungen für eine gesunde seelisch-geistige Entwicklung gegeben, die von einem ausgeglichenen, positiven Seinsgefühl getragen ist. Die Entwicklung der Affekte und die der Kognition sind so unmittelbar miteinander verwoben, dass es manchmal verwundern muss, wie wenig dieser Erkenntnis Rechnung getragen wird, wenn es um die Entwicklung von Didaktik und Methodik in der Schule geht. Da werden »affektive, kognitive und psychomotorische Lernziele« ausdifferenziert, die Ansprache des emotionalen Bereiches wird als Vehikel begriffen (vorzugsweise angewendet in Grundschule und Sek !-Bereich), um den Schüler »da abzuholen, wo er sich befindet«, bis man dann - vorzugsweise in der gymnasialen Oberstufe - glaubt, ihm unter Verzicht auf Emotionalität (die sowieso nur als subjektiver Zugang zu Dingen begriffen wird) die »höheren Fähigkeiten« im kognitiven Bereich abverlangen zu können.
Immer wieder hört man dann dort Klagen über »mangelnde Abstraktionsfähigkeit «. Dass sich Schüler manchmal schlicht weigern, sich in eine blutleere, abstrakte Begrifflichkeit hineinzudenken, die für ihr Leben keinerlei Bedeutung hat, kann auch als gesunde Protesthaltung verstanden werden. Wie wichtig der Zugang zu den eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer ist, wenn Menschen mit sich selbst und anderen auskommen wollen, diese Einsicht gehört seit langem schon zu den Grundannahmen vor allem der psychoanalytischen Psychologie und der an ihr orientierten Pädagogik. Auch die Sozialisationsforschung, die sich mit der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit beschäftigt, geht inzwischen von einer Parallelität von Affekt und Kognition aus, welche nach Georg Lind [4] zwar voneinander nach Aspekten unterschieden, niemals aber nach Komponenten voneinander getrennt betrachtet werden kann. Der amerikanische Psychologe Robert Kegan [5] hat den Versuch unternommen, die Ergebnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, z.B. von Erikson oder Winnicott, der Kognitionspsychologie Piagets und der Theorie der moralischen Sozialisation nach Kohlberg miteinander zu verbinden - ein meines Wissens bisher einmaliger Versuch, von den Ergebnissen verschiedener Forschungszweige im Hinblick auf den therapeutischen und pädagogischen Bereich zu profitieren. Wenn wir uns z.B. dem äußerst kreativen Vorgang der Intuition annähern wollen, müssen wir die Zusammenhänge von Fühlen, Bewusstwerden und Erkennen im Blick haben - so wenig sie auch bisher »wissenschaftlich« erforscht sein mögen.
Viele Neuerungen - auch im (natur)wissenschaftlichen Bereich - sind nachweislich auf Intuition zurückzuführen. Auch für das, was wir »gelingendes Leben<< oder Zufriedenheit nennen, ist eine gewisse Stimmigkeit notwendige Bedingung, die vom Einzelnen in Interaktion mit seiner Umgebung, oft unter gewaltigen Anstrengungen beim Austarieren des emotionalen Bereichs, erzielt wird. Im Bemühen um stimmige Lösungen in einem Konflikt etwa geht es nicht nur darum, das »Recht« oder die »Logik« auf seiner Seite zu haben. Dazu gehört -wie Daniel Goleman [6] in seiner gleichnamigen Veröffentlichung fordert - emotionale Intelligenz. Zur Entwicklung emotionaler Intelligenz gehört sowohl die Entwicklung eines Gefühls für mich selbst als auch die Entwicklung eines Gefühls für den anderen (auch Empathie genannt). Dieses »Lernziel « sollte nicht nur auf den Grundschul- und Sek 1- Bereich beschränkt sein, sondern auch in der Oberstufe angestrebt werden. Auch Schüler wollen - wie Tommy- »gesehen« werden und sollen vice versa lernen, andere Menschen zu sehen. Das bedeutet, sie beim Namen zu nennen, sie in ihrer Entwicklung zu sehen und ihnen die entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken sowie den nötigen Halt zu bieten.
Schüler fordern eine Einfühlung in ihre Befindlichkeit und ihre Probleme, und sie wollen durch Unterricht »berührt« werden. Was da verhandelt wird, sollte sie »unbedingt « angehen. Ich wähle hier bewusst eine Terminologie aus dem theologischen Bereich (Tillich), da solche Lernziele bisher in den Religionsunterricht verbannt wurden, genau wie Gott und die Vertröstung auf ihn an die Stelle einfühlsamer Erzieher zu treten hatte. Emotionale Intelligenz entwickeln wird nur, wer in diesem Sinne »intelligente« Bezugs- und Erziehungspersonen hat. So gesehen ist Erziehung, um mit Gadamer [7] zu sprechen, zugleich auch immer Selbsterziehung. Den Zusammenhang in diesen Entwicklungssträngen zu entdecken kann in eine Didaktik und Methodik münden, die versucht, die verschiedenen Ebenen in einem ganzheitlichen Sinne anzusprechen und zu gestalten. Die folgenden Unterrichtsanregungen wurden vor dem Hintergrund dieser Überlegungen konzipiert. [8]
1. Das ABC der Gefühle
Die Schüler erstellen ein »ABC der Gefühle«, welches symbolhaft in das Yin-Yang-Zeichen eingebettet ist, um die Interdependenz konträrer Gefühle darzustellen.
Wie gehen wir mit dieser Vielfalt widersprüchlicher Gefühle und Empfindungen um? »Oft begegnet man ausgereiften Menschen, die sich entrüsten, wo Nachsicht genügte, und solchen, die verachten, wo man Mitleid haben sollte. Auf dem Felde negativer Empfindungen sind wir nämlich Autodidakten, weil uns vom Alphabet des Lebens nur wenige Buchstaben gelehrt, die übrigen aber verschwiegen werden. Was Wunder, dass wir nicht richtig lesen können. « Janusz Korczak [9] bringt hier eine Erfahrung auf den Punkt, die mir aus meiner eigenen Schulzeit und aus meiner heutigen Tätigkeit als Lehrerin nur allzu bekannt ist. Darum scheint mir auf dem Gebiet der Gefühle und Empfindungen eine »Alphabetisierungskampagne « im Ethikunterricht notwendig zu sein. Eine wertvolle Anregung dazu gibt der amerikanische Philosoph Robert C. Solomon [10], der-wörtlich genommen - das Alphabet der Gefühle durchbuchstabiert.
Von den Elixieren des Geistes
Für den Philosophen Solomon sind Emotionen und Verstand nicht voneinander zu trennen, wobei er die Wurzeln des menschlichen Denkens, Urteilens und Handels im emotionalen Bereich sieht. Seine Einsichten decken sich an dieser Stelle mit den neuesten Ergebnissen der Säuglingsforschung. Hart geht er mit den »blutleeren« Begriffshülsen der abendländischen Philosophie ins Gericht: »Der Kampf der Vernunft gegen die Fallstricke der Leidenschaften bildet das Leitmotiv der abendländischen Philosophie.«[11] Die Vernunft, verstanden als typisch menschliche Eigenschaft, wird als Mittel der Zügelung von Leidenschaften dem Gefühl entgegengesetzt, das eher dem animalischen Bereich zugeordnet wird. Solomon wendet sich gegen diesen repressiven Ansatz der Vernunft, die Gefühle vom Kopf her zu steuern. Für ihn sind Gefühle und Leidenschaften unsere elementare Antriebsquelle. »Emotionen sind der Schlüssel zur konkreten Philosophie, sie zu verstehen heißt, die Grundstrukturen der menschlichen Erfahrung zu verstehen. Das philosophische Denken kann solche Strukturen nicht aus sich herausspinnen; es braucht etwas, das ihm Kraft und Richtung gibt. Nur wenn wir Gefühle in ihrer Besonderheit verstehen, verstehen wir uns selbst.«[12]
Solomon schreibt den Gefühlen einen sinn- und bedeutungsstiftenden Charakter zu und geht sogar so weit, dass er Gefühle mit Urteilen gleichsetzt. Auch wenn ich die These der Gleichsetzung nicht teile, so ist unmittelbar nachvollziehbar, dass Gefühle bereits ein (moralisches) Urteil im Hinblick auf eine Person oder einen Sachverhalt in sich bergen. Diese moralische Gerichtetheit der Gefühle ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich. Solomon beschreibt Gefühle als »Elixier des Geistes« [13], die Quelle der meisten unserer Werte und die Wurzel eines Großteils der Leidenschaften, die Grundlage für alles wirklich Schöpferische. Das ungeheuer facettenreiche Gebilde unseres Gefühlslebens wird als ein Potenzial begriffen, das es zu durchleuchten gilt, um sich selbst besser zu verstehen. So können kreative Möglichkeiten in diesem Potenzial entdeckt und destruktive Anteile reguliert werden. Solomon hat deshalb in einem »ABC der Gefühle« häufige, vielen Menschen gemeinsame Gefühle untersucht. Zu ihrer Analyse entwickelte er eine Matrix, durch welche die »Gerichtetheit« der Gefühle und die Wirkung auf das Selbst und andere dargestellt werden kann. Solomon teilt mit Sartre die Auffassung, dass der Mensch für seine Gefühle und Leidenschaften vollständig verantwortlich ist und sich nicht hinter Ausreden oder Projektionen verstecken kann mit dem Argument: »Ich konnte nicht anders, weil...«
Dieser Auffassung kann ich nicht ganz zustimmen, denn unser Unbewusstes ist ein uns weitgehend unbekannter Teil der inneren Landschaft mit einem nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Emotionen und Handeln, oftmals gegen unsere »besseren Einsichten«. Die Schwelle zwischen den unbewussten und bewussten Anteilen unseres Gefühlslebens und unseres Handelns zu übertreten und/oder diese Schwelle bewusst zu erfahren oder zu erfassen, ist äußerst kompliziert und setzt eigentlich ein ständiges Bemühen um Erkenntnis dieser Abläufe in uns selbst und im zwischenmenschlichen Bereich voraus. Inwieweit projiziere ich selbst oder bin Opfer von Projektionen? Wo »rationalisiere« ich eigene Handlungen im Nachhinein, um eine einigermaßen plausible Rechtfertigung parat zu haben? Wenn Solomon Gefühle nach verschiedenen Kriterien untersucht, dann kann das eine Hilfe sein, Entstehung, Wirkung und Strategie einzelner Gefühle zu durchleuchten. Sie sind dann nicht nur etwas, was einem passiv widerfährt, sondern man kann sich auch als derjenige erkennen, der mit ihnen aktiv operiert.
Ein Who's Who der Gefühle: die Verachtung
Die Verachtung spricht ein niederschmetterndes Urteil über einen anderen Menschen: Er erregt nicht nur Anstoß, sondern ist schändlich, widerwärtig und »Unter aller Würde«. Wie dem Hohn gilt der Verachtung das Gegenüber als entschieden minderwertig, wenn nicht als Untermensch, für den humane Werte nicht gelten. Die extreme Überlegenheit, die sich Verachtung anmaßt, lässt meist auf eine gewisse Abwehr schließen.
- RICHTUNG: Extern (niemals bipolar, obwohl es auch die innengerichtete Selbstverachtung gibt).
- UMFANG/FOKUS: Offen (Man kann Schaben oder, wie Camus' Sisyphos, auch Götter verachten).
- GEGENSTAND/INHALT: Gewöhnlich Menschen (keine besonderen Merkmale oder Züge). Oft verbunden mit Urteilen über einen subhumanen Status (»Du elende Ratte«), die verächtlich gegenüber der Person, aber nicht dem Tier gemeint sind.
- KRITERIEN: Meist moralisch gefärbt (dabei jedoch zweischneidig, wenn der andere »unter aller Kritik« sein soll).
- STATUS: Der andere gilt als eindeutig unterlegen, sogar als Untermensch (Hohn schreibt Minderwertigkeit zu, Verachtung einen subhumanen Status).
- WERTUNGEN: Völlige Abwertung mit starker Abneigung.
- VERANTWORTUNG: Wird der andere als Untermensch beurteilt, so gilt er als nicht verantwortungsfähig. Allerdings kann sich das Urteil auf flagrante Unverantwortlichkeiten beziehen. Wie dem auch sei, es geht um Defizite.
- INTERSUBJEKTIVITÄT: Abwehrend wie gegenüber Kranken.
- ABSTAND: So groß wie irgend möglich.
- MYTHOLOGIE: Der andere als Untier (man selbst dagegen als rein und edel). Typische Metaphern: Schlange, Reptil, Insekt, Wurm, Spinne; Schleim, Exkrement; abartig, verderbt.
- WUNSCH: Grundsätzliche Meidung (zumindest dem Anschein nach).
- MACHT: Beträchtlich. Ohnmächtige Verachtung geht in Entsetzen über (Eine Schabe etwa ist nur deshalb verächtlich, weil sie einem nichts tun kann. Eine Riesenschabe dagegen, wie in amerikanischen Horrorfilmen der 50er Jahre, ist nicht mehr verächtlich, sondern grauenhaft.).
- STRATEGIE: Die eigenen oder moralische Normen in Szene zu setzen, um selber überlegen, mächtig und edel zu erscheinen.
(Auszug aus Robert L. Solomon: Gefühle und der Sinn des Lebens. Frankfurt 2000, S. 370 f.)
2. »Who's Who« der Gefühle
In meinem Unterrichtsvorschlag stelle ich ein Beispiel aus Solomons ABC vor und formuliere anschließend eine Aufgabe, indem ich die Kategorien der Matrix in Frageform zugleich erläutere. Wer das Buch besitzt, kann die Untersuchung verschiedener Gefühle austeilen und in Gruppenarbeit behandeln lassen. Ich wähle hier als Beispiel die Verachtung [14] weil sie gerade im Hinblick auf die Entstehung von Gewalt von großer Bedeutung ist und immer auch auf den, der verachtet, zurückfällt. Zur weiteren Bearbeitung des Themas bieten sich nach der Devise des Beispiels folgende Arbeitsaufträge an:
Aufgabe: Erstelle eine eigene Matrix zu Gefühlen, die deinen eigenen Gestimmtheiten entsprechen! (Hierbei kann es sich neben allgemeinen Gefühlen wie Freude, Kummer oder Wut auch durchaus um Begriffe aus der Gefühlswelt Jugendlicher handeln; z.B. das »Scheißegal «- oder »Null-Bock«- oder »Ihr-könnt-mich-mal«Gefühl, das »Highsein«, die »Depristimmung« oder »Coolness«.) Es kommt bei der Aufgabe gerade darauf an, die einzelnen Nuancen zu erfassen und auf der Ebene der Beschreibung zu unterscheiden.
- RICHTUNG: Ist das Gefühl mehr nach außen oder nach innen gerichtet?
- UMFANG/FOKUS: Wie weitreichend ist das Gefühl, z.B. Einzelfälle oder »die ganze Welt« betreffend oder sowohl als auch?
- GEGENSTAND/INHALT: Gegen oder an wen richtet sich das Gefühl (Personen, Sachen; wie werden sie gesehen)?
- KRITERIEN: Von welchen Normen wird ausgegangen (z.B. wenn man etwas verabscheut oder bewundert)?
- STATUS: Welche Stellung nehme ich dabei dem anderen gegenüber ein? Bin ich unter- oder überlegen, ziele ich auf Gleichheit?
- WERTUNG: Wie wird durch das Gefühl gewertet?
- VERANTWORTUNG: Wer wird verantwortlich gemacht? (Wem wird Schuld gegeben?)
- INTERSUBJEKTIVITÄT: Zielt das Gefühl darauf ab, Einstellungen mit anderen zu teilen, z.B. Freude?
- ABSTAND: Welchen Abstand (oder welche Nähe) stelle ich zum andern in dieser Gefühlslage her?
- MYTHOLOGIE: In welchen Geschichten, die du kennst (Märchen, Mythen) tauchen diese Gefühle auf? Durch welche Gestalten/Tiere werden sie verkörpert?
- WUNSCH: Welcher Wunsch liegt dem Gefühl zugrunde?
- MACHT: Welche Macht geht von dem Gefühl aus? Übergänge zu anderen Gefühlsnuancen können durch Pfeile vermerkt werden, so kann z.B. das »Scheißegal«-Gefühl in seiner Wirkung in Verachtung übergehen: - Verachtung
- STRATEGIE: Welche (oftmals unbewusste) Strategie verbirgt sich hinter einem Gefühl für andere Menschen? Was will ich bewirken? Welche Normen führe ich ins Feld (z.B. für Mitleid oder für Empörung)?
Diese Aufgabe ist nicht einfach und eher für die Oberstufe geeignet. Sie scheint mir lohnend, da durch ihre Bearbeitung eine Ahnung von der Vielfalt und Wirkung dieses menschlichen Potenzials gewonnen werden kann. Die Aufgabe lässt sich vereinfachen, indem die Matrix gekürzt wird. Sie kann erweitert werden, indem den jeweiligen Gefühlen Farben, Symbole oder eine bestimmte Musik zugeordnet werden. Spannend wird die Diskussion, wenn verschiedene Analysen zu demselben Begriff miteinander verglichen werden. Auch die Unterscheidung zwischen ganz individuellen Gefühlslagen und verallgemeinerbaren Gefühlsbeschreibungen dürfte für Zündstoff sorgen. Widerstände werden dann auftreten, wenn es um die Kategorie der »Strategie« geht, da es hier gilt, die Schwelle vom Vorbewussten zum Bewussten zu übertreten, z.B. eigene Projektionen oder wahre Absichten zu durchschauen, die unter der Oberfläche verborgen liegen. Dieser Widerstand kommt dem Schmerz gleich, den in Platons Höhlengleichnis die Blendung durch die Sonne auslöst.
3. Das Rätsel der verborgenen Gefühle
Die Liebe nimmt unter den Gefühlen eine Sonderstellung ein. Sie ist vielleicht das stärkste, wirkmächtigste und zugleich rätselhafteste der Gefühle. Sie verweist auf unsere Bedürftigkeit, unsere Kraft und unsere Verletzlichkeit. In diesem Sinne wird zunächst das Gedicht »Was es ist« von Erich Fried [15] auf seine Wirkung und Aussage hin besprochen.
Aufgaben:
- Eine Matrix für die Liebe erstellen (bezieht sich auf die oben gestellte Aufgabe am Beispiel von Solomon). Dazu auch Beispiele aus der Mythologie und/oder Geschichte bzw. aus der Literatur finden, in denen die Kraft der Liebe dargestellt wird.
- Durch den Vergleich unterschiedlicher Mythen kulturelle und historische Unterschiede herausarbeiten. Als Beispiel bieten sich an: Der Kugelmensch aus Platons Gastmahl im Vergleich zum biblischen Schöpfungsmythos (unterschiedliche Sicht der Stellung der Frau, unterschiedliche Bestimmung des »Eros«). Das Romeo-und Julia- Motiv in seiner Ausgestaltung (Mittelalter: Tristan und Isolde, später Shakespeare, zeitgenössische Verfilmung) aber auch Beispiele aus Filmen, die Jugendliche ansprechen (z. B. »Good Will Hunting« oder »Jenseits der Stille«).
- lnteraktionsspiel: Paarkonstellationen in der Klasse bilden. Zwei Schüler überlegen sich, welches Paar sie darstellen wollen (z.B. Romeo und Julia, Asterix und Obelix, Hänsel und Gretel, Harry Potter und Hermine Granger, Adam und Eva, Othello u. Desdemona). Sie entwerfen einen Dialog der beiden, indem diese sich gegenseitig ihre Gefühle füreinander mitteilen (z.B.: Ich liebe dich ganz besonders, wenn du ... Ich hasse dich, weil .. . Ich fürchte mich vor dir, wenn du . .. Ich habe Mitleid mit dir, weil . .. Wenn du nicht da bist, fühle ich ... ) .
- Der Dialog wird in Rätselform präsentiert, das heißt, die Mitschüler müssen raten, um welches Paar es sich handelt. Anschließend kann verallgemeinert werden entlang folgender Fragestellung: Was verbindet, was trennt? Wo kommt Freude auf, wo entsteht Hass? Was wirkt destruktiv, was ist auf Versöhnung gerichtet? Was verbindet, was macht abhängig? Der Bezug auf allseits bekannte Beispiele verweist auf das »Allgemeinmenschliche« der Gefühle. Der Einzelne muss so auch nicht eigene Gefühle bloßlegen, die er geschützt sehen möchte.
4. Stimmproben. Das Gefühl für sich selbst - ein Zugang zum Selbst
Sokrates empfiehlt, auf die innere Stimme, das »Daimonion « zu hören, wenn es um letzte Begründungen und Entscheidungen geht. Aristoteles spricht vom »Tätigsein der Seele«, die zwischen dem »Zuviel und Zuwenig« das rechte Maß findet, als der höchsten und edelsten Tätigkeit des Menschen (vorbehalten allerdings nur einer kleinen, feinen Minderheit). Platon bezeichnet das Philosophieren als »das Gespräch der Seele mit sich selbst«. In diesen Zusammenhängen kann - modern gesprochen - auch das intelligente Kultivieren der Gefühle gesehen werden. Sie lassen sich mit dem Stimmen eines Instruments vergleichen. Nur wenige Menschen besitzen das »absolute Gehör« - doch das Stimmen lässt sich erlernen, wobei es immer wieder des Übens und Wiederholens, der Fähigkeit des Hinhörens und Hineinhorchens bedarf. Die Schulung der Sinne, der Wahrnehmung, die Verarbeitung des Wahrgenommenen und die Erkenntnis sind Voraussetzungen für das, was moralische Urteilsfähigkeit und moralisches Handeln genannt wird.
Sich erinnern - die eigene Entwicklung überdenken
In seinem Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« beschreibt Robert Musil [16], wie Törleß, der versunken über seinen Tagebuchnotizen sitzt, die Entwicklung von Neuem bewusst wird.
Bei der Besprechung des Zitates wird verschiedenen Fragen nachgegangen: Welche Gefühle, welche Sinneswahrnehmungen sind mit der Erinnerung an die Vergangenheit verbunden? Ist Vergangenheit jemals abgeschlossen? Was sammeln wir, bewahren wir auf? Was ist uns kostbar? Sind die Gefühle in der Retrospektive dieselben wie früher? Haben Umdeutungen stattgefunden? An die Besprechung des Törleß-Zitates wird eine Meditation über eine Baumscheibe angefügt:
»Er strich mit der Hand über die Seiten, und ihm war, dass ein feiner Duft aus ihnen aufsteige, wie Lavendel aus alten Briefen. Es war die mit Wehmut gemischte Zärtlichkeit, die wir einer abgeschlossenen Vergangenheit entgegenbringen(...) Und dieser wehmütige feine Schatten, dieser bleiche Duft .schien sich in einem breiten, vollen warmen Strom zu verlieren - dem Leben, das nun offen vorTörleß lag. Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt wie ein junger Baum („ .).«
(Auszug aus Robert Musil: Die Verwirrung des Zöglings Törleß. Reinbek 1965, S. 139)
Wie entstehen Jahresringe beim Baum? Inwiefern werden diese als Symbol für menschliches Leben gesehen? Die Baumscheibe kann auch als Bild gemalt und kopiert werden. Die Schüler können in die jeweiligen Ringe Erinnerungen an Ereignisse eintragen, die in ihrem Leben von Bedeutung waren. Sie können auch - ähnlich den Tagebuchaufzeichnungen - eigene kleine Sequenzen zu den Ereignissen schreiben, in denen sie ihre Sinneseindrücke und Gefühle beschreiben. Einzelne Lebensphasen werden häufig mit widersprüchlichen Gefühlen verbunden, allem Anfang wohnt nicht nur »ein Zauber inne«.
Sich selbst als Persönlichkeit entdecken
Zum Thema »Erwachsenwerden - eine Persönlichkeit sein« zeige ich den Schülern zunächst verschiedene Fotoserien über die Entwicklung verschiedener Personen. Ich lasse diese Personen beschreiben. Worin bleiben sich Menschen gleich? Worin verändern sie sich? Was sagen der Blick und der Gesichtsausdruck über die jeweilige Befindlichkeit, das Temperament aus? Welche Ereignisse im Leben können eine Persönlichkeit gravierend verändern? Gibt es so etwas wie einen unveränderlichen Kern? Anschließend rege ich die Schüler an, eine eigene Fotoserie zu erstellen. Sie bringen Photos von sich als Säugling und- sofern solche Photos zur Verfügung stehen - aus verschiedenen Lebensjahren mit. Die Bilder werden bunt durcheinander auf den Tisch gelegt. Die Klasse versucht zu erraten, wem die Photos zugeordnet werden können und welche Photos zu einer Serie gehören. Anschließend erzählen die Schüler von ihren Befindlichkeiten in den einzelnen Lebensphasen, von den Erinnerungen, die mit den jeweiligen Situationen verbunden sind, in denen die Photos entstanden sind (häufig Kindergeburtstage, Familienfeste, Urlaub). Ich habe diese Übung bisher nur in reinen Mädchenklasssen durchgeführt (hauptsächlich Klasse 10/11), dort allerdings mit großem Erfolg.
Die Schülerinnen hatten große Freude am Raten, Zusammenstellen und »Auswerten«. In meiner eigenen Auswertung des Experiments wurde mir deutlich, wie wichtig es für den Einzelnen ist, gesehen zu werden, sich selbst dadurch neu zu sehen und auch die anderen neu wahrzunehmen. Ich bat die Schülerinnen um die Erlaubnis, eine Serie zur Vervielfältigung auszuwählen, die ich auch in anderen Klassen zeigen kann. Es entwickelte sich eine lange Diskussion darüber, warum man sich auf manchen Bildern nicht leiden kann, warum man manche Bilder sofort zerreißt und wie es überhaupt damit steht, sich leiden zu können. »Werde, der du bist!« -wie kann das gehen? Kann das eine »Maxime« sein? Der Anspruch, Autonomie zu gewinnen und das eigene Leben zu prüfen und zu gestalten, wird vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ganz anders diskutiert. In der Schule als Person wahrgenommen zu werden lässt eine völlig andere Atmosphäre entstehen, durch die es auch im Ethikunterricht eher möglich ist, Verfügungswissen in Orientierungswissen zu verwandeln, welches eine Bedeutung für die Lebensgestaltung und die moralische Urteilsfähigkeit hat.
5. Zwischen allen Stühlen
Drei Texte zum Thema Kindheit, Jugend und Erwachsensein werden verteilt, einer von Jack Holmes [17], einer von Peter Weiss [18] und ein Text von Erich Kästner[19].
Text 1: Seltsame Gefühle
»Am Tag vor meinem Geburtstag wachte ich mit jenem seltsamen Gefühl in der Magengrube auf ( ... ). Ich erwachte mit dem Gefühl, dass sich bald große Dinge ereignen würden. Als ich aus dem Bett stieg, dachte ich immer noch an den Traum, nicht daran, was ich geträumt hatte, sondern daran, wie ich selbst im Traum ausgesehen hatte. Ich war größer, und meine Schultern waren breiter geworden. Mein Haar war kürzer und an der Seite gescheitelt. Ich prüfte mich vor dem Badezimmerspiegel. Da war kein Scheitel in meinem Haar, es fiel einfach irgendwie in alle Richtungen.( ... ) Ich lief mit dem quälenden Gedanken herum, ob ich wohl wie sechzehn aussähe, und kam zu dem Schluss, in mancher Hinsicht sechzehn, siebzehn oder achtzehn zu sein, aber auch eine ganze Menge von einem Zwölfjährigen zu haben. ( ... ) Und während ich all so was dachte, war da zugleich das Gefühl, dass ich stärker als je zuvor zwischen allen Stühlen saß. Ich saß in der Klemme zwischen Kindsein und Erwachsensein. Was Kinder so tun, machte eigentlich gar nicht mehr so einen Riesenspaß, aber was Erwachsene tun, kam mir viel zu schwierig vor und, wenn ich ehrlich sein soll, höllisch langweilig. ( ... ) Ich sagte mir, dass es gar nicht so wichtig war, ob man da in irgendeiner Klemme saß oder nicht. Ich sagte mir, dass die Grenze zwischen Kindsein und Erwachsensein ziemlich schmal ist und dass ich eine Menge Erwachsene kenne, die sich wie zurückgebliebene Kinder verhalten.«
(Auszug aus Jack Holmes: Seltsame Gefühle. Würzburg 1992)
Text 2: Die Flucht vor dem Schultor
»Ich ging die Allee hinab, und meine schwarzen Schnürstiefel färbten sich weiß im Staub der Allee, und Friederle ging neben mir, ( ... ) und es war der erste Schultag. Wir trugen jeder eine Tüte, voll von süßen, klebrigen Himbeerbonbons, zum ersten Schultag gehörte solch eine Tüte, von überall strömten die Kinder der Schule zu, jedes trug eine Tüte zum Trost, und die Furcht vor der Schule ist klebrig und süß vom Geschmack der Himbeerbonbons. Doch vorm Schultor floh ich zurück, ich lief über die schwarze, hartgestampfte Schlacke des Schulhofs, ich lief auf der weißen, staubigen Allee zurück( ... ), es war der erste Schultag, es war der Anfang, es war der Anfang der Panik, ich wollte mich nicht fangen lassen, ich floh keuchend, ( ... ).«
(Auszug aus Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Frankfurt a. M. 1992)
Text 3: Treppauf, treppab im eigenen Haus...
»Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die »überflüssig« gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste oberste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborden und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? - Nun - die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!«
(Auszug aus Erich Kästner: Die kleine Freiheit. Zürich 1952)
Die Diskussion der einzelnen Textstellen kann erfolgen, indem drei Gruppen gebildet werden: die Kinder, die Jugendlichen, die Erwachsenen. Sie diskutieren den jeweils ihrer Lebensphase zugeordneten Text.
Fragen an Text 1(Gruppe der Jugendlichen):
- Entspricht diese Schilderung des sechzehnten Geburtstages dem Feeling von jugendlichen Mädchen?
- Gibt es andere Stimmungslagen?
- Wie könnte eine Stimmungsschilderung von Jungen aussehen?
- Wird die Abgrenzung gegenüber den beiden anderen Gruppen geteilt?
- Was macht mit 16 wirklich Spaß, was bereitet eher Schwierigkeiten?
Fragen an Text 2 (Gruppe der Kinder):
- Wie wurde der Schulanfang erlebt?
- Wonach hat es gerochen (in der Schule, im Stadtviertel ... )?
- Welche Spiele wurden gespielt?
- Welche Konflikte mit älteren Schülern oder Erwachsenen (Lehrern) werden erinnert?
- Stimmt die Behauptung mancher Erwachsener, dass die Kindheit die schönste Zeit des Lebens ist?
Fragen an Text 3 (Gruppe der Erwachsenen):
- Da Schüler noch nicht erwachsen sind, sollen sie der Frage nachgehen, was Erwachsene mit dem Kästner-Zitat anfangen könnten.
- Lässt sich die These Kästners rechtfertigen?
- Was würde es bedeuten, wenn Erwachsene eine Haltung im Sinne von Kästner zeigen würden?
Auf die Gruppendiskussion folgt ein Interaktionsspiel: Drei Stühle sind aufgebaut, hinter jedem Stuhl hängt ein Poster mit angefangenen Sätzen zu diesem Lebensalter. Die Schüler nehmen auf den verschiedenen Stühlen Platz und äußern sich, indem sie die Sätze vervollständigen, die den jeweiligen Stühlen zugeordnet sind. Je nach Klassenstärke kann jeder die verschiedenen Positionen einnehmen. Die Gruppe der Erwachsenen, der Jugendlichen, der Kinder fuhren jeweils ein Stichwortprotokoll über die Aussagen, wobei sich eine Einteilung in Positiv- und Negativaussagen ergibt:
- Ich will kein Kind mehr sein, denn...
- Erwachsene können von Kindern eine Menge lernen, z.B....
- Es ist schwierig, Jugendlicher zu sein, weil...
- Heute beurteile ich manches anders als im Alter von sechs oder zwölf Jahren, z. B....
- Als Erwachsener will ich auf keinen Fall...
- Als Erwachsener ist mir besonders wichtig....
Auf die Auswertung kann man gespannt sein!
6. Ein Gefühl für sich und andere Einfühlungsvermögen - ein ganz besonderes Kapital
In einem Interview sagt der Psychologe Daniel Goleman über Verstand und Gefühl:
»SPIEGEL: Mr. Goleman, im Untertitel der US-Ausgabe Ihres Buches heißt es, emotionale Intelligenz könne wichtiger sein als der Intelligenzquotient. Wie kommen Sie darauf?
GOLEMAN: Vor ein paar Jahren ging in England ein Mann an einem Kanal spazieren. Plötzlich sah er ein Mädchen, das entsetzt ins Wasser starrte. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte und begriff, was sie da tat, sprang er in den Kanal und rettete ein Kind. Er ist seiner emotionalen Intelligenz gefolgt, die schneller als jede Vernunft reagiert. Der denkende Teil des Hirns hätte vermutlich so lange überlegt, bis das Kind ertrunken wäre.
SPIEGEL: Früher hätte man gesagt, er ist seinem Instinkt gefolgt.
GOLEMAN: - der es uns ermöglicht, in Notfällen spontan zu reagieren. Aber emotionale Intelligenz geht darüber weit hinaus. Sie ermöglicht es dem Lebensretter, das Entsetzen des Mädchens so unmittelbar nachzuempfinden, dass er das Richtige tut.
SPIEGEL: So was nennt man Einfühlungsvermögen ... « [20]
Es folgen zwei Übungen, die etwas mit der Einübung emotionaler Intelligenz zu tun haben:
a) Grundgefühle, die allen Menschen gemeinsam sind
Sind wir von Natur aus in der Lage, andere zu verstehen und uns in sie einzufühlen? Dieser Frage sind Psychologen, Biologen und Völkerkundler nachgegangen. Sie kamen zu folgendem Ergebnis: Fast alle Menschen stimmen in der Beurteilung von Gefühlsausdrücken in Gesichtern überein [21]. Die Schülerinnen und Schüler können anhand von Gesichtsausdrücken testen, ob sie die passenden Gefühle zuordnen können.
Weitere Anregungen finden sich in Golemans Veröffentlichung zur emotionalen lntelligenz. Dort wird von Lernprogrammen für Grundschulen berichtet, die zum Ziel haben, die emotionale Intelligenz zu fördern.
Eine Übung, die sich leicht durchführen lässt, ist das Interpretieren der jeweiligen Stimmung, die in einem Gesicht zum Ausdruck kommt. Der Lehrer zeigt verschiedene Bilder, an denen Schüler »sehen« lernen. Sie achten auf die Körpersprache, die genaue Beschreibung des Gesichtsausdrucks, der Augen, des Mienenspiels.
Sie entwerfen Sprech- oder Gedankenblasen, die sie einzelnen Personen zuordnen. Teste dein eigenes Sehvermögen: Sie entwickeln eine Geschichte zur Situation, die im Bild dargestellt ist.
Quelle: Geo wissen Nr. 33 /2003 (das Lösungswort ist EMOTION).
b) Der angemessene Abstand - ein Gefühl für Distanz und Nähe
Wir alle haben Grenzen, die keiner gegen unseren Willen überschreiten sollte, sonst fühlen wir Ärger, Wut oder Zorn. Im Alltag treten uns manche Personen zu nahe: entweder weil es zu eng ist oder sie einem aus Versehen auf den Füßen stehen. So etwa im Kaufhaus, in der U-Bahn, im Fußballstadion, im Aufzug. In manchen Situationen empfinden wir solche Nähe als körperlich unangenehm. Überall da, wo Menschen zu eng aufeinander leben oder gezwungen sind, dicht beieinander zu stehen, entstehen leicht Aggressionen , die sich anschließend in Gewalt entladen können.
Das folgende Experiment sensibilisiert das eigene Wahrnehmen für das Alarmsignal unserer ureigenen Schutzgrenze und ermöglicht es, anderen deutlich zu sagen, diese zu respektieren.
Experiment: Ich gehe auf dich zu - STOP - du gehst auf mich zu - STO P! Zwei Personen stehen einander gegenüber, ziemlich weit voneinander entfernt (an gegenüberliegenden Zimmerwänden). Person A bleibt auf ihrem Platz stehen, Person B nähert sich ihr langsam. A achtet nun genau darauf, wann B ihr zu nahe kommt, sagt dann deutlich »STOP«! Danach Rollentausch. Anschließend Gespräch darüber, wie eindeutig der Wunsch geäußert wurde (oder wollen wir gar nicht immer so eindeutig sein?). Gab es Diskrepanzen zwischen dem Ausdruck der Gestik und der Stimme? Dasselbe Experiment kann in Gruppen wiederholt werden. Zwei »Cliquen« aus der Klasse stehen sich gegenüber und wechseln zur jeweils anderen Seite des Raumes. Was passiert? Wer macht wem Platz? Wem gegenüber musste man sich behaupten, wem ist man aus dem Weg gegangen? Wer hat wen angerempelt? (Besonders in Jungenklassen: wen musste ich knuffen, wem hinterrücks einen kleinen Tritt verpassen, wem den Arm leicht verbiegen?).
Eine vertiefende Lektüre zum Thema könnten Schopenhauers »Stachelschweine« sein [22].
Anmerkungen
[1] Dornes, Martin, Der kompetente Säugling, Frankfurt a. M. 1999. Über die Affekte siehe S.120 ff; über Intersubjektivität S.161 ff. Es empfiehlt sich, in eine Unterrichtseinheit »Anthropologie« diese neuesten Ergebnisse der Säuglingsforschung einzubeziehen, denn sie haben die Theorie Freuds an dieser Stelle wesentlich weiterentwickelt, ohne deswegen die psychoanalytische Basis zu verlassen. Es wird .vor allem nachgewiesen, dass es die Gefühle sind, welche die Grundlage für das Bewusstsein bilden, und nicht die Phantasien.
[2] Stern, Daniel, Tagebuch eines Babys, München/Zürich 1993. Dieses Buch kann in Auszügen mit Oberstufenschülern behandelt werden, um eine Vorstellung von der frühkindlichen Entwicklung zu bekommen.
[3] Dornes (wie Anm. 1), S. 154.
[4] Lind, Georg, Ist Moral lehrbar? Berlin 2000, S. 37 ff.
[5] Kegan, Robert, Die Entwicklungsstufen des Selbst, München 1994.
[6] Goleman, Daniel, Emotionale Intelligenz, München/Wien 1996.
[7] Gadamer, Hans G., Erziehung ist sich erziehen, hg. v. Gebhard, Ulrich, Heidelberg 2000.
[8] Die Unterrichtsanregungen habe ich gemeinsam mit Ulrike Schlegel und Monika Rudolf erarbeitet. Ulrike Schlegel ist Diplompädagogin, Grund- und Hauptschullehrerin und unterrichtet an einer Hauptschule in Degernau. Monika Rudolf ist Oberstudienrätin und unterrichtet an einer Berufsschule in Schramberg.
[9] Korczak, ]anusz, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 1987, S. 121. Korczak, der in Polen ein Waisenhaus geleitet hat und seinen Kindern ins KZ gefolgt ist, erweist sich als hervorragender Kenner der emotionalen Welt des Kindes und ist auch für Oberstufenschüler lesenswert.
[10] Solomon, Robert C., Gefühle und der Sinn des Lebens, Frankfurt a.M. 2000, S. 370 f.
[11] Solomon, a. a. O. S. 16
[12] Solomon a. a. O. S. 10
[13] Solomon, a. a. O. S. 23
[14] Solomon, a. a. O. S. 370 ff.
[15] Siehe den Abdruck des Gedichts im Artikel Liebe / Material auf dieser Website.
[16] Musil, Robert, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Reinbek 1965.
[17] Holmes, Jack, Seltsame Gefühle, Jugendroman, übersetzt von Hans Georg Noack, Würzburg 1992, S. 215-217.
[18] Weiss, Peter, Abschied von den Eltern, Frankfurt a.M. 1964, S. 29.
[19] Kästner, Erich, Ansprache zu Schulbeginn, in: Ders., Die kleine Freiheit, Zürich 1952.
[20] DER SPIEGEL Nr. 6/1996.
[21] Die Versuchsanordnung ist entnommen aus: Geo Wissen Heft Nr. 33/2003.
[22] Schopenhauer, Arthur,Sämtliche Werke, Band VI, Wiesbaden 1947, S. 15.