StartseitePublikationenBernd HainmüllerNew Lanark - Lernen aus der Vergangenheit

Lernen aus der Vergangenheit - New Lanark

Den Traum von sozialer Harmonie gelebt – Das Weltkulturerbe New Lanark

Bernd Hainmüller

Abb. 1:  Luftbild der Anlage von New Lanark - Weltkulturerbe

Wer als Tourist auf der M 74 von Carlisle Richtung Glasgow unterwegs ist, um möglichst schnell die schottischen Highlands zu erreichen, kann leicht das Hinweisschild übersehen, daß auf das „World Heritage Village New Lanark“ hinweist. Hier, versteckt im waldigen südlichen Hochland Schottlands, befindet sich tatsächlich ein Dorf als Weltkulturerbe, das einen Abstecher lohnt. Wer ihn unternimmt, gewinnt nicht nur Einblick in einen aus den Augen geratenen Teil der Geschichte der industriellen Revolution, sondern trifft auch auf ein lebendiges Andenken an Ideen, denen es an Aktualität nicht mangelt. Denn zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Dorf New Lanark 25 Jahre lang das Zentrum der sozialen Experimente des Reformers Robert Owen (1771-1858), einem der großen Wegbereiter des modernen Sozialwesens.

Die Wasserwucht der Falls of the Clyde , der wohl beeindruckendste Abschnitt des River Clyde auf seinem Weg nach Glasgow gab 1784 den Ausschlag, daß hier im Herzen Lanarkshires die Geschäftsleute David Dale und Richard Arkwright (der Erfinder der Spinning Jenny, der ersten Spinnmaschine) zunächst eine Baumwollspinnerei errichten ließen, um die der Schwiegersohn Dale´s, Robert Owen, kurz vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts (1799) eine Mustersiedlung für die Arbeiter gruppierte, die heute zu den bedeutendsten Ensemble-Denkmälern der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Schottlands zählt. Fast 200 Jahre lang arbeitete die Spinnerei und es ist dem wiedererwachten schottischen Nationalstolz zu verdanken, daß nach Schließung der Spinnereien 1968 das verlassene Dorf 1974, kurz vor dem geplanten vollständigen Abbruch, von einer neugegründeten New Lanark Stiftung gerettet werden konnte. Mittlerweile sind viele der Wohnhausreihen im alten Glanz wiedererstanden und in der einst 2300 Einwohner umfassenden Siedlung leben wieder etwa 200 Menschen. Das gesamte Dorf – zwei Meilen vom Hauptort Lanark entfernt - ist heute ein mit Preisen ausgezeichnetes Besucherzentrum entstanden, das sich neben dem Erhalt der industriegeschichtlichen Denkmäler auch dem Lebenswerk von Robert Owen widmet. Wer war dieser Mann, der so illustre Gäste wie Königin Viktoria von England, Großherzog Nikolaus von Russland, Präsident Antonio López de Santa Anna von Mexiko und Präsident Andrew Jackson aus den USA dort herumführte?

Wer New Lanark verstehen will, muß Robert Owen verstehen

Sein Leben ist aufs engste mit der Geschichte von New Lanark verwoben. Seine Visionen vom menschenwürdigen Übergang ins industrielle Zeitalter waren es, die das Dorf zu einer weit über die britischen Grenzen hinaus bekannten Modellsiedlung für eine erfolgreiche alternative Art des Wirtschaftens werden ließen. Robert Owen gilt als der erste britische Industrielle, der dem Profitstreben abschwor und sich dem Wohle des unterprivilegierten Industrieproletariats zuwandte.

„Wer die Visionen Robert Owens wirklich verstehen will, muß durch die Straßen und Gebäude von New Lanark gehen und seine Eindrücke dabei in Gedanken mit den gewöhnlichen Arbeits-, und Lebensbedingungen des Proletariats im aufblühenden Manchester - Kapitalismus zu Beginn des 19 Jahrhunderts kontrastieren“, sagt Richard Worn vom New Lanark Conservation Trust. Der Ort wirkt heute noch wie auf dem Reißbrett entstanden. Nichts ist verändert worden. Gesäumt von großzügigen Grünflächen ziehen sich die langen, grausteinernen Reihenhausfassaden streifenförmig entlang des Flußufers. Ein Netz von gewundenen Kieswegen durchzieht die parzellenartig angelegten Vorgärten, deren akkurat gestutztes Gras in der Sonne schimmert. Die Straßen sind sauber, es ist sehr ruhig und wenn ein Regenbogen über dem Tal des Clyde steht, will so gar nichts den mitgebrachten Vorstellungen vom Beginn der industriellen Revolution mit ihren staubig - verdreckten, düsteren Industriesiedlung entsprechen. Verglichen mit den Slums von Glasgow, Newcastle oder Manchester mit ihren menschenunwürdigen Arbeits- und Wohnbedingungen, mit Kinderarbeit, 16-Stundenschichten, und einer brutalen Behandlung der Arbeiter muß New Lanark jedem Arbeitssuchenden wie das Paradies auf Erden erschienen sein. In der Tat: der Unternehmer Robert Owen glaubte fest daran, daß in einer Verbesserung der sozialen Bedingungen der Arbeiter nicht nur der Schlüssel zur Überwindung von Armut, Ungerechtigkeit und Kriminalität liegen würde, sondern dass sich die sozialen Aspekte auch mit wirtschaftlichem Erfolg kombinieren ließen. Er sollte für geraume Zeit recht behalten. Unmittelbar nach Übernahme der Spinnereien um 1800 bemühte sich Owen zunächst darum, die Produktivität zu erhöhen.

Abb. 2:  Portrait Robert Owen


Enge Kostenkontrolle, genaue Buchführung und ein harter, aber fairer Führungsstil kennzeichneten den ersten Abschnitt seiner Arbeit in New Lanark. Als entschiedener Gegner der üblichen körperlichen Züchtigung zur Disziplinierung der Arbeiter entwickelte er sein System der „stillen Anzeiger“ (silent monitors): in der Nähe eines jeden Arbeiters war ein drehbarer, vierfarbiger Holzbock angebracht, dessen jeweilige Vorderseite die Vorarbeiter nach der Leistung des Arbeiters in der entsprechenden Farbe einstellte. Schwarz für unzureichend, Gelb für durchschnittlich usw. So konnte Owen bei seinem morgendlichen Rundgang durch die Fabriken die Leistung jedes Arbeiters begutachten und besprechen. Binnen weniger Jahre führt er die Spinnereien aus der Stagnation zu großem wirtschaftlichen Erfolg.

Abb. 3:  Wohnhaus Robert Owen in New Lanark

Seinem (sozialistischen) Glauben folgend, daß die Natur eines Menschen das direkte Spiegelbild seiner Natur sei, etablierte er umfassende soziale Reformen, die zum damaligen Zeitpunkt als revolutionär galten Er verbot die Kinderarbeit unter 12 Jahren, er schuf eine Krankenversicherung, die den Arbeitern kostenlose medizinische Versorgung garantierte, er ließ Parks, ein Gemeindezentrum mit Gemeinschaftsküche und selbst eine Dorfkirche erbauen, führte eine allgemeine Straßenreinigung ein und entwickelte ein umfassendes Schul- und Bildungssystem, an dessen grundlegende Ideen noch heute viele reformpädagogische Konzepte anknüpfen. Neben einer Kinderkrippe entstand hier 1812 die erste Grundschule der Welt, in der alle Kinder zwischen 3 und 6 in spielerischer Form lernten „zu teilen und nett zu einander zu sein.“ Vor allem musikalische und tänzerische Fähigkeiten wurden gezielt gefördert. Als Vorläufer der heutigen Volkshochschulen gilt das von ihm errichtete „Institut zur Formierung des Charakters“, dessen farbenfrohe Inneneinrichtung heute noch dem Besucher Anlaß zum Staunen gibt. Hier wurden Unterricht, Tänze und Vorträge organisiert und gemeinsame Feste gefeiert. In der Überwindung der Unterdrückung durch die chanchengleiche Föderung und Bildung aller Menschen sah er die Ziele seines oft als utopistisch belächelten Gesellschaftsentwurfes. New Lanark wurde trotz Anfeindungen, deren es genug gab, im Laufe der Jahre zu eine der wenigen menschenwürdigen „Inseln“ sozialen Friedens und Wirtschaftens im stürmischen Meer der industriellen Revolution. Selbst Karl Marx – wahrlich kein Freund der englischen Industriellen - bezeichnet in seinem „Kapital“ das Fabriksystem Owens als den „Keim der Erziehung der Zukunft, nicht nur als Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion allseitig entwickelter Menschen.“

Das Besucherzentrum, ein besonderer Ort der Erinnerung

Heute kommen Schulklassen aus allen Teilen Schottlands in den Ort, der auch stolz davon kündet, daß es Schotten waren, die im Unterschied zu den „Manchester-Kapitalisten“ die Würde des Menschen damals hochhielten. Die guten Geister von New Lanark werden heute durch die „Annie McLeod Experience“ wieder zum Leben erweckt. Die Fahrt in einer Gondel durchs Dunkle, in der das Leben in der Siedlung um 1820 aus Sicht eines 10-jährigen Mädchens geschildert wird, gehört zu den Hauptattraktionen des Besucherzentrums. Während im Dunkeln eine der Spinnereihallen durchfahren wird, werden immer wieder Räume, Bilder, Gegenstände und Personen illuminiert, die Aspekte des Lebens in New Lanark lebendig werden lassen. Annies Mc Leods Stimme in der Gondel verdichtet die erzeugten Impressionen: „Glauben Sie an Geister? Vielleicht können Sie uns nicht sehen – aber wir sind trotzdem hier...“ Dann fängt sie an zu erzählen: Von ihrer Arbeit als Anknüpferin in der Spinnerei, bei der immer wieder kleine Unfälle –manchmal auch größere – geschehen; vom Baumwollstaub, der ihr in den Augen brennt und die Arbeiter wie Schneemänner aussehen läßt; von den zwei Zimmern ihrer Familie, in denen sie mit neun weiteren Verwandten wohnt; vom Doktor, der sie in der Schule untersuchen kommt; vom Flötenunterricht, den Ausflügen und dem Tanz im Institut; vom Besuch des Großherzogs von Rußland und den anderen vielen Besuchern ihrer berühmten Siedlung, und vom leutseligen Mr. Owen, der vom „Neuen System“ ohne Böses und Elend spricht und dessen merkwürdige Ideen sie nicht immer versteht, aber von dem sie ganz fest glaubt, daß er auf ihrer Seite steht.

Abb. 4:  Zeitgenössischer Stich der Spinnereigebäude in New Lanark

Und während sich die Fahrt langsam dem Ende zuneigt und es wieder heller wird, hebt sich ihre Stimme noch einmal: „Ihr verlaßt uns jetzt, aber wir Geister bleiben hier. Wir leben weiter in den Dingen, die wir angefaßt haben, in den Stühlen auf denen wir saßen, in den Wänden, an die wir uns lehnten, in den Fußböden, auf denen wir standen. Wir sind die Vergangenheit, aber wir sind auch Teil der Zukunft. Erinnert euch an uns, erinnert euch, erinnert...“ Wie wahr. Diese Erinnerung lohnt einen Abstecher auf dem Weg in die Highlands und das nicht nur, weil man in der heute museal wiederhergestellten Spinnerei selbstgefertigte Wolle und Pullover für die schottische Schafskälte erwerben kann, sondern auch gut im Dorf übernachten kann, sowohl im Hotel als auch in der Jugendherberge.

Robert Owens Wohnhaus auf dem Gelände

Info Box New Lanark

Die Siedlung liegt nahe dem Ort Lanark, etwa 40 km südlich von Glasgow und 56 km westlich von Edinburgh. Den Schildern World Heritage Village folgen. Züge gehen stündlich von Glasgow oder Motherwell nach Lanark Railway Station. Von dort zu Fuß oder per Taxi oder lokaler Busverbindung nach New Lanark (2,5 km) Für Wanderer liegt New Lanark an einem besonders schönen Teil des Clyde Walkways. Übernachtungsmöglichkeiten befinden sich in der Siedlung selbst: Entweder New Lanark Youth Hostel (60 Betten), tel: 01555 666710, fax: 01555 666719 oder das New Lanark Mill Hotel mit angeschlossener Selbstversorgereinheit. Weitere Informationen erteilt das Lanark Tourist Information Centre Tel: 01555 661661 oder Fax: 01555 666143. Das New Lanark Visitor Centre mit der Annie Mc Leod Experience ist täglich (außer 25.12. und 1.1.) von 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr geöffnet. Führungen können ab 10 Uhr gebucht werden. Die Eintrittskarte von ca. 4£ gilt auch für weitere besichtigbare Teile der Siedlung. Adresse: New Lanark Visitor Centre New Lanark Mills, New Lanark, Scotland ML11 9DB. Tel. 01555 661345 Fax: 01555 665738. Eine Homepage von New Lanark findet sich unter newlanark.org.