StartseitePublikationenBernd HainmüllerLeider wahr - Jesiden als Kindersoldaten des IS

Leider wahr - Jesiden als Kindersoldaten des IS

Bernd Hainmüller

Abb. 1: Eines der 26 Flüchtlingslager rund um Dohuk mit insgesamt fast 350.000 jesidischen Flüchtlingen

Der folgende Bericht stammt aus der Badischen Zeitung vom 21. 11. 2016. Viele mögen denken, hier werde mal wieder masslos übertrieben. Leider entspricht dieser Bericht voll und ganz den zahlreichen Aussagen, die wir von unseren Schülern erfahren und unter denen sie bis heute zu leiden haben. Hier der ungekürzte Bericht von Christine Keck. 

Zwangsrekrutierung - Zwei junge Jesiden sollten beim IS das Töten lernen

Hunderte junger Jesiden sind von der Terrormiliz IS zwangsrekrutiert worden. Die Brüder Aras und Haydar konnten sich retten und erzählen, wie sie lernen sollten, zu kämpfen und zu morden. 

Nachts kommen die Monster zurück. Mit ihren langen Bärten, den noch längeren Haaren, den schwarzen Kutten und den Kabeln in ihren Händen. Sie schlagen Aras, wenn er den Koran nicht fehlerfrei rezitiert. Wenn er mit der Kalaschnikow auf leere Blechdosen zielt und nicht trifft. "Man muss sie töten", sagt der 15-Jährige mit den Sommersprossen und dem Rotstich im kurzen Haar, das in der Nachmittagssonne wie Kupfer schimmert. "Nur Gott kann sie noch retten. Keiner sonst." Mit einer Holzstange fischt Aras ein T-Shirt von der Decke, "Minnie Mouse" steht darauf. In seinem Laden ist er der Chef, mit seinem ein Jahr älteren Bruder Haydar. Sie haben ein paar Bretter mit Plastikplanen überzogen, das Ganze mit Steinen stabilisiert, ein Provisorium. Die Jungs, deren richtige Namen aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben, wagen kaum einen Schritt ohne den jeweils anderen. Sie albern gemeinsam herum, lachen, umschwirren die Kunden auf den insgesamt sieben Quadratmetern Verkaufsfläche. So munter wie die Mücken in der Luft, die nicht zur Ruhe kommen. "Vielleicht ein langer Rock?", "Eine Jogginghose?", "Eine schöne Bluse?" Die beiden preisen ihre Ware, als hätten sie noch nie etwas anderes gemacht.

Die letzten Monate würden sie am liebsten aus dem Gedächtnis löschen 

Der Laden in einem Flüchtlingslager nicht weit vom nordirakischen Dohuk ist vorerst ihre Zukunft und einzige Einnahmequelle. Die letzten acht Monate würden sie am liebsten aus dem Gedächtnis löschen. Die Zeit, als sie ihre jesidische Religion verleugnen und zum Islam konvertieren mussten. Die Lügen, die sie ihrer Mutter am Handy erzählten. Weil sie ihr nicht sagen konnten, dass sie sich Videos anschauen mussten, in denen Menschen enthauptet werden, und sie selbst bedrängt wurden, eines Tages "Ungläubige" zu töten. Sie versicherten ihr, es gehe ihnen gut, sie bekämen genug zu essen und könnten schlafen. Nichts davon stimmte. "Wir wollten sie nicht beunruhigen", sagt Aras, "sie hätte sich sonst noch mehr Sorgen gemacht." Die Monster sind in Geländewagen gekommen, auf den Ladeflächen Maschinengewehre. Die Männer des Dorfes mussten sich aufstellen und wurden auf Lastwagen verfrachtet. Ihr Vater winkte ihnen von einer Ladefläche aus zu, das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen haben. "Wir sind so schnell wir konnten weggerannt", erinnert sich Haydar, "am nächsten Checkpoint an der Hauptstraße haben sie uns erwischt."

Bis heute gelten 21 Verwandte von Aras und Haydar als vermisst

Bei dem Überfall der Terrormiliz IS auf das Heimatdorf von Aras und Haydar am 3. August 2014 sind Hunderte verschleppt und viele Männer wenig später erschossen worden. Bis heute gelten 21 Verwandte von Aras und Haydar als vermisst. Auch vom Vater fehlt jede Spur, er wurde vermutlich getötet. Eine Rückkehr ist nicht möglich, zu unsicher ist die Lage in dem Dorf am Fuße des Sindschar-Gebirges, überall Minen und Milizen. "Ihr gehört jetzt zu uns, ihr habt keine Eltern mehr", trichterten die Männer mit den Waffen den Brüdern ein und schleppten sie wie Stückgut von einem Ort zum anderen. Nirgendwo blieben sie lange, kaum hatten sie sich mit anderen Gefangenen angefreundet, mussten sie schon weiter. Es sollten keine festen Bande unter den Entführten entstehen. Die ersten fünf Wochen wurden sie mit 100 anderen Frauen, Kindern und Jugendlichen in einer Schule eingesperrt, wo sie den Koran studierten und auf dem Beton schliefen. Fast täglich wurden Mädchen aus der Gruppe abgeholt. "Eines Tages kamen sie und nahmen unsere Cousine mit", erzählt Aras, "sie war 19, seit acht Monaten verheiratet, sie haben sie an ihren blonden Haaren aus dem Saal gezerrt." Alle hätten ihre Schreie gehört, keiner habe gewagt, ihr zu helfen. Zwei Männer, zwei Minuten, dann sei es vorbeigewesen. Er werde das nie vergessen.

Der IS verfolgt die Jesiden als Teufelsanbeter

Tief gebeugt sind die Rücken der Brüder, während sie erzählen, sie hocken im Schneidersitz auf einer bunt gemusterten Matte. Aras trägt Jeans und ein hellblaues Hemd, am Saum prangt ein Unicef-Logo. Haydar, der Ältere, ist einen halben Kopf größer, er redet mit den Händen, nur selten legt er sie in seinen Schoß. Ihr neues Zuhause ist ein Zelt in einem Flüchtlingscamp, mit einem Stromanschluss, der die Energiesparlampe gleißend hell leuchten lässt.

Abb. 2:  Jan-Ilhan Kizilhan, ein Traumatologe aus der MediClin-Klinik Donaueschingen baut mit der Universität Dohuk (Nordirak) eine Ausbildung einheimischer Psychotherapeuten auf, die in den Lagern helfen sollen. 

Ein Fernseher steht auf einer Plastikkiste, ein Ventilator an der Decke wirbelt die stickige Luft im Kreis herum. Zu zehnt wohnen sie in zwei Zelten, die Mutter, die Geschwister, Onkel, Tanten, Cousinen. Ihr einziger Luxus ist eine Waschmaschine. Beim Aufbau des Kleiderladens hat ihnen die deutsche Hilfsorganisation Wadi geholfen, sie ermöglichte das Start-up für die zwei Jungs, die sonst nichts besitzen. Kaum eine andere religiöse Minderheit wird von der Terrorgruppe Islamischer Staat so erbarmungslos verfolgt wie die der Jesiden. Als Teufelsanbeter werden sie verleumdet, wer nicht zum Islam konvertiert, wird getötet. Tausende Jesiden haben die IS-Milizen in der Sindschar-Region 2014 verschleppt – bis heute ist das Schicksal von 3700 Vermissten ungewiss. "Wir geben unser Bestes, um sie zu finden, 2378 Menschen haben wir gerettet", sagt Hussein Koro al-Qaidi, Schnauzer, blaue Krawatte, goldene Uhr. Der Direktor des Hilfskomitees für entführte Jesiden sitzt hinter einem mächtigen Schreibtisch in seinem Büro in Dohuk, zwei Autostunden vom Camp der Brüder.

Dschihadisten nennen die Kinderarmee die "jungen Löwen des Kalifats"


Auf einem Flachbildfernseher laufen Bilder von der Offensive auf Mossul, der letzten IS-Hochburg im Irak. "Keiner weiß, wie viele Jesiden dort gefangen gehalten werden", sagt al-Qaidi nachdenklich. So viele Frauen und Mädchen seien misshandelt, vergewaltigt und als Sklavinnen verkauft worden, Hunderte Jungs hätten die Terroristen zwangsrekrutiert und in Camps gesteckt. Sie seien oft der Nachwuchs für die Kinderarmee des IS, die "jungen Löwen des Kalifats", wie die Dschihadisten die Einheit nennen. Sie sollen kämpfen, morden, sich in die Luft zu sprengen, um andere mit in den Tod zu reißen. Immer jünger werden die Attentäter, Kinder sind unverdächtig. Das waren sie zumindest, bevor der IS begonnen hat, sie für seine Ziele zu missbrauchen. Seine Organisation hat ein Netzwerk an Mittelsmännern in Städten wie Mossul, Tel Affar oder dem syrischen Rakka aufgebaut, erklärt al-Qaidi. Mit deren Hilfe könnten die IS-Opfer, darunter auch viele Kinder, lokalisiert und in die Freiheit geschmuggelt werden. Vor zwei Tagen sei es ihnen gelungen, eine christliche Nonne zu befreien. "Um einen Menschen zu retten brauchen wir bis zu zehn Kontaktpersonen", erzählt al-Qaidi, dabei flössen oft tausende Dollars. Viele riskierten ihr Leben, Gnade denen, die entdeckt würden. Das Schießen habe er besonders gehasst, sagt Aras. Er musste in einem Militärcamp in Mossul die schwarze IS-Uniform tragen – wie die anderen 200 Kinder und Jugendlichen auch. Morgens um sechs Uhr wurden sie geweckt, um zu beten – auf Arabisch. Nach dem Frühstück ging das Training los. Wie zerlegt man eine Kalaschnikow? Wie zündet man Handgranaten und legt Sprengsätze? "Mit der Waffe in der Hand musste ich einen meiner Freunde angreifen", erinnert sich Aras, "ihn niederschlagen, obwohl ich es nicht wollte." Das habe ihm der andere übel genommen. "Sie zwangen uns, böse Worte zu sagen", erzählt er und knetet nervös seine Fingerknöchel. Worte, die er nie mehr wiederholen will, für die er sich bis heute schämt. "Gott wusste, dass wir keine Wahl hatten, als all die schlimmen Dinge zu tun", sagt Aras. Er ist ganz nah an den Bruder herangerutscht, fast berühren sich ihre Arme, die beiden schweigen. 

Nachts liefen sie, tags versteckten sie sich

Die Gefangenschaft hat sie verändert, hat ihnen die Kindheit geraubt – und Haydar fast das Leben gekostet. Er zieht sein T-Shirt hoch und zeigt eine Beule am Brustbein. "Ich bekam Schläge mit dem Kabel", sagt er, "alles war blutig." Bis heute könne er nichts Schweres tragen oder auf dem Feld arbeiten, geblieben sind die Schmerzen am Rücken. Ihr Geheimnis habe er nicht verraten, er wäre lieber gestorben, sagt Haydar. Ein Mobiltelefon samt Ladekabel war ihr kostbarster Besitz. Sie entdeckten es in einem verlassenen Dorf, in das sie ihre Entführer gekarrt hatten. Die Bewohner waren vor dem IS geflohen, vieles ließen sie in den Häusern zurück. Mit dem Handy flohen die Brüder für ein paar Minuten der Welt der Angst. Sie mussten nur ein paar Tasten drücken, dann kehrte mit der Stimme ihrer Mutter die Hoffnung zurück. Zwei, drei Mal die Woche telefonierten sie heimlich mit ihr, ganz spät, wenn die anderen schliefen. Sie holten das Handy aus seinem Versteck in der Erde, zogen es aus der schützenden Plastiktüte. Sie flüsterten einander zu, wie sehr sie sich vermissten, ihren Geruch, ihre Wärme. Sie konnten weinen und schwach sein, ohne bestraft zu werden. Einmal jedoch muss sie jemand gesehen haben, einer, der sie verriet. "Sie kamen zu zweit und fesselten meine Hände", erinnert sich Haydar an den Moment, als er mit einem Auto abgeholt und stundenlang gefoltert wurde. Mit dabei war der Anführer der Miliz, er habe ihm eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt, er solle nicht lügen, sonst werde er abdrücken. Haydar sagte nichts. Manche Tage haben sie fast ganz verschlafen. Das sei wie im Nebel gewesen, erinnern sich die Brüder und glauben zu wissen, woher die große Müdigkeit kam. "Da war dieser seltsame, dieser bittere Geschmack", erzählt Aras, "die haben uns etwas in Wasser gemischt." Erst hätten sie versucht, es nicht zu trinken und wurden immer durstiger, dann gaben sie auf. Es nahm ihnen die Wut, machte die Verzweiflung erträglicher. "Es gab keinen einzigen Kämpfer, der gut zu uns war", sagen Aras und Hadayr, "nicht einen". 

Zu ihrer Familie im Flüchtlingscamp sind sie als Fremde zurückgekehrt

Durch Zufall und Glück konnten die Brüder den Dschihadisten entkommen. Sie rannten weg, als sie mal wieder an einen anderen Ort gebracht worden und ihre Bewacher durch einen Militärangriff abgelenkt waren. Sie kannten die Gegend, es war ihre frühere Nachbarschaft. Sechs Nächte liefen sie entlang von Straßen und Wegen, tagsüber versteckten sie sich. Am Telefon hielten sie Kontakt mit ihrer Mutter. Sie hatten Brot mitgenommen, das bald ausging. Zu essen gab es das Wenige, was sie fanden. Sie zerkauten Getreidekörner, die gab es reichlich auf den Feldern. Ihre größte Sorge waren die Checkpoints, die sie meiden mussten, sie wollten nicht den Falschen in die Arme laufen. Zu ihrer Familie im Flüchtlingscamp sind sie als Fremde zurückgekehrt. "Sie wollten anfangs freitags immer in die Moschee beten gehen", sagt die Mutter der Brüder, eine Frau mit Kopftuch und müden Augen. Die 32-Jährige hängt zwischen den Zelten Wäsche auf, zupft T-Shirts in Form. Voller Wut seien ihre Kinder gewesen, sie hätten weder auf sie noch ihren Onkel gehört, wollten weder umarmt noch geküsst werden. Mitten in der Nacht rannten sie aus den Zelten davon, schrien, prügelten sich, wussten nicht wohin mit ihrem Ärger. Das habe sich gelegt, erzählt die Mutter, ihre Söhne spielten wieder Fußball, seien ruhiger geworden. Und doch sei nichts mehr, wie früher als sie noch Schafe hatten, ein Stück Land und die Kinder einen Vater. Aras trägt ein rot-weißes Bändchen an seinem Handgelenk, das er sich am Festtag der Jesiden im Januar umgebunden hat. Es sei ein Zauberband, sagt Aras, wenn es abfällt, geht in Erfüllung, was er sich beim Zuknoten gewünscht hat. Er hat nur einen einzigen Wunsch: "Gott soll alle wieder heimbringen, die die Monster entführt haben."

Christine Keck,  Badische Zeitung 21. 11. 2016