Lebenskunst im Labyrinth einer gebrechlichen Welt
Hiltrud Hainmüller
Editorial
„Meiner Meinung nach sind vier existentielle Grundtatsachen in der Psychotherapie besonders relevant: die Unausweichlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben; die Freiheit, unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unsere letztendliche Isolation und schließlich das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns. So grausam diese Grundtatsachen auch sein mögen; sie bergen den Keim von Weisheit und Erfüllung. " (Irvin D. Yalom: Die Liebe und ihr Henker. München 1999, S.11)
Der Gedanke, dass unser Leben trotz oder gerade wegen der Grausamkeit seiner Grundbedingungen die Chance für Weisheit und Erfüllung in sich trägt, ist alt und zugleich aktuell. In der Antike bildet er das Fundament eines Philosophieverständnisses, demzufolge sich die Liebe zur Weisheit, also das Streben nach Erkenntnis, und die Bewältigung des eigenen Daseins wechselseitig bedingen. Was ist ein erfülltes Leben? Und wie versetze ich mich in die Lage, ein solches zu führen? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt eines antiken Philosophierens, das sich als Lebenskunst begreift: als eine ars vivendi oder techne tou biou, die als techne (dt. Kunstfertigkeit, Handwerk) nicht nur theoretische, sondern auch praktische Anleitung bietet. Gegenwärtig erfährt dieses Philosophieverständnis im akademischen Diskurs eine Wiederbelebung. Modelle philosophischer Lebenskunst unter den Gegebenheiten heutiger Wirklichkeit sind aber nicht nur abstrakt zu entwickeln, sie müssen auch konkrete Anwendung finden - im Schulalltag. Wie dies aussehen könnte, zeigt das vorliegende Heft. Es spannt einen Bogen, der vom Lebenskunstmodell antiker Prägung bis zu dessen unter dem Vorzeichen der (Post-)Moderne stehenden Adaptionen reicht. Rechnung getragen wird so dem Umstand, dass die prinzipielle Harmonie zwischen Ich und Welt, die den Grundton antiker ars vivendi bildet, bisweilen vor einem Lebensgefühl jüngeren Datums verstummt: vor der Erfahrung einer Wirklichkeit, in der sich der Einzelne nicht mehr in einer ihn umgreifenden Ordnung aufgehoben fühlt, sondern sich vielmehr einer anonymen, nicht rationalisierbaren Macht ausgesetzt sieht, einer Welt, deren Brüche weder zu heilen noch zu kontrollieren sind. Eine Einführung in die Grundlagen antiker Lebenskunst nebst einem Ausblick auf ihre heutigen Anwendungsmöglichkeiten gibt Sandra Hesse. Die Unterrichtsvorschläge von Christian Klager und Niklas Geiger schließen hier direkt an. Klager zeigt, wie sich Epikurs Brief an Menoikeus in eine aktuelle Sprechstunde umsetzen lässt, in der Jugendliche die eigene Lebensführung philosophisch reflektieren. Geiger greift mit der Frage nach dem Glück nicht nur ein zentrales Thema der Lebenskunst auf, er stellt auch dar, wie sich dieses durch eine Reihe geistiger und körperlicher Übungen ganz im Sinne antiker techne tou biou im Klassenzimmer erarbeiten lässt. Wer wir sind und wer wir sein wollen, fragt schließlich Johannes D. Balle in einer Unterrichtsreihe, die neben klassischen auch moderne Techniken und Texte für die Einübung in eine philosophische Lebensgestaltung aufbereitet. Kristina Schnekenburger geht der Kunst des Lebens von einer anderen Seite nach, indem sie überlegt, was wir zum überleben brauchen. Anhand der Films "Cast Away" wird in ihrer Unterrichtsreihe die Bedürfnispyramide Maslows hinterfragt und die Beziehung auf ein Du in ihrer basalen Bedeutung profiliert. Dass der Blick eines anderen Ichs die eigenen Selbstentwürfe beeinflusst, bildet den Ausgangspunkt des Unterrichtskonzepts von Kristin Erlenmaier. Im Mittelpunkt steht hier Mode als Mittel einer Selbstgestaltungskunst, an der die Augen der Anderen wesentlich mitwirken. Dem Verhältnis von Selbst- und Fremderfahrung widmet sich auch der Beitrag von Miriam Zschoche, der durch verschiedene Übungen, die gewohnte Wahrnehmungsraster verwirren, Neues in den Gesichtskreis treten lässt und so tradierte Lebensmuster reflektiert. Hier schließt der Beitrag von Judith Bauch und Anja Kraus an, der jene Geräusche ins Bewusstsein hebt, die sich in uns erst zu Stimmungen, dann zu Gestimmtheiten und letztlich zu Lebenshaltungen verdichten. Wie der Umgang mit Kontingenzerfahrungen im Sinne einer modernen ars vivendi aussehen kann, entwickelt schließlich Hiltrud Hainmüller in einem fächerübergeifenden Unterrichtsbeitrag, der das antike Lebenskunstmodell zu einer techne erweitert, die einer Bewältigung des eigenen Daseins in einer gebrechlichen Welt den Weg weist. Ergänzungen zu den Beiträgen von Hesse und Balle bietet das Material Extra.
Sandra Hesse und Hiltrud Hainmüller
HILTRUD HAINMÜLLER
Lebenskunst im Labyrinth einer gebrechlichen Welt - Anregungen zu einem fächerübergreifenden Unterricht (Oberstufe)
Erläuterungen zu den Materialtexten
M 1: Franz Kafkas Türhüterparabel
M 2: Hermann Hesse: Eigensinn; Schwerpunkt: das »Eigene« zu entwickeln, Eigensinn als Tugend; Problematisierungsmöglichkeit: Was passiert, wenn Eigensinn in Sturheit umschlägt?)
M 3: E. Fromm: Furcht vor der Freiheit; Schwerpunkt: Auseinandersetzung mit Konformismus, Abbau der Furcht vor Autoritäten, Mut zur Autonomie, Lektionen - nicht nur für Josef K.
M 4: Wolf Biermann: Süßes Leben, saures Leben; Schwerpunkt: »Gebrechlichkeit der Welt«; »trotz alledem«; was könnte bedeuten: »besser scheitern«?
M 5: Skizzen von Kafka; Schwerpunkt: Auseinandersetzung mit Verzweiflung; der Mensch, der sich sein eigenes Gefängnis baut; Überwindbarkeit von Barrieren - hier besonders: Erfahrungen mit Körper, Körpersprache; Möglichkeiten, als Standbilder nachzustellen, mit gegenteiligen Haltungen zu kontrastieren
M 6: Platon: Ist es besser Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun?
M 7: Andre´Comte-Sponville: Wer gerecht sein will, bewegt sich auf unsicherem Terrain
Lebenskunst ist vor allem da gefragt, wo Menschen mit harten Herausforderungen konfrontiert sind. Nicht immer ist der Kampf mit diesen oder gegen diese Herausforderungen von Erfolg gekrönt. Oftmals muss man sich mit Teilerfolgen zufrieden geben oder das lernen, was sicher im Leben am schwersten zu bewerkstelligen ist: im Scheitern eine Chance zu erkennen. An literarischen Beispielen zu sehen, in welcher Weise Autoren ihre Figuren leiden und kämpfen lassen, kann im Prozess der eigenen »Arbeit am Selbst« hilfreich sein. Ausgewählt wurden zwei Werke, in denen die Protagonisten mit gravierenden existenziellen Erfahrungen der »Gebrechlichkeit der Welt« ausgesetzt sind. Diese Metapher - die wir Kleist verdanken - trifft auf eine Welt zu, die als ganz und gar unsicher empfunden wird, eine Welt, die gekennzeichnet ist durch unauflösliche Widersprüche zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Verrat und Treue zu sich selbst, zwischen Rache und Recht - eine Welt, in der sich alle geschaffenen Ordnungen als zerbrechlich erweisen. Beide Protagonisten scheitern - oder bezahlen zumindest mit ihrem Leben - keiner wird hier als »Lebenskünstler« präsentiert. Was kann man sich also von der Auseinandersetzung mit diesen Figuren versprechen? »Das Paradies«, bemerkt Kleist im Marionettentheater-Aufsatz, »ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo offen ist.« Um meine Schüler in diesem Sinn auf »eine Reise um die Welt« zu schicken, habe ich die Arbeit am literarischen Text mit der Lektüre philosophischer Schriften verknüpft; dies aber nicht in Form einer traditionellen Textexegese (nach dem Motto: Was will uns der Dichter/Philosoph sagen?), sondern durch Verfahren des essayistischen und kreativen Schreibens. Auf diese Weise können Schüler selbst an den Widersprüchen arbeiten, mit denen es die Protagonisten zu tun haben und- im gelungenen Fall - zu einem produktiven Umgang mit ähnlich gearteten Problemstellungen ihrer eigenen Wirklichkeit finden. Gelesen haben wir Franz Kafkas Der Process und Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas. Eine gute Anregung zur Entwicklung von Unterrichtsvorschlägen erhielt ich dabei von Christiane Zschirnt [1] , die untersucht, wie Menschen Scheitern erleben und verarbeiten. An zahlreichen literarischen Beispielen wird gezeigt, wie unterschiedlich Menschen in konfliktreichen Situationen handeln, Schicksalsschlägen begegnen und Misserfolge verdauen. Dass die Beschäftigung mit realen und fiktiven Biografien dazu beitragen kann, eine Art »Kultur des Scheiterns« zu entwickeln, nach der das Scheitern als zum Leben dazugehörig begriffen und daher auch als Chance gesehen werden kann, ist eine Hoffnung, die ich mit Zschirnt teile. Die unterrichtliche Aufarbeitung erfolgt entlang von Leitfragen:
- -Woran sind die beiden Figuren Josef K. u. Michael Kohlhaas gescheitert?
- -Wie reagieren sie jeweils auf die gesellschaftlichen Verhältnisse?
- -Wie verarbeiten sie Schicksalsschläge?
- -Welche Handlungsstrategien entwickeln sie?
- -Welches Verständnis entwickeln sie zu sich selbst?
- -Trifft der Begriff des Scheiterns überhaupt auf alle zu? (Bildet z. B. Kohlhaas hier eine Ausnahme, von dem es ja heißt, er habe seine Verurteilung angenommen, weil er sein Ziel erreicht und darüber hinaus viele gesunde Nachkommen zu verzeichnen habe?)
- -In welcher Art und Weise werden die Figuren von ihrem jeweiligen auktorialen Erzähler gekennzeichnet/ bewertet?
- -Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Bewertung ziehen?
- -Welche philosophischen Grundfragen liegen den Konflikten jeweils zugrunde?
- -Was haben Philosophen zu diesen Grundfragen zu sagen?
- -Was haben diese Grundfragen mit unserer eigenen Wirklichkeit zu tun?[2]
Aus der Beschäftigung mit diesen Fragen kristallisierten sich zu den einzelnen Werken zwei unterschiedliche Schwerpunkte für Unterrichtsvorschläge heraus: bei Kafkas „Prozess“ richtet sich der Fokus auf die Beschäftigung mit dem »ungelebten Leben<<, der Frage nach Autonomie und »bedingter Freiheit« in einer determinierten, labyrinthhaften Welt; bei Kleists Kohlhaas geht es um die Frage nach dem Umgang mit Ungerechtigkeit, Wahrheit und der Fragilität bestehender Ordnungen.
1.Von Türstehern und anderen Hindernissen
„Du suchst zu viel Hilfe, besonders bei Frauen.« So lautet die Zurechtweisung des Geistlichen, der Josef K. im Dom zur Rede stellt. Nicht nur von Frauen, sondern auch von dem Geistlichen erwartet K. in seiner Verzweiflung Hilfe. Er will Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit des Gerichts, nach dem Grund seiner Verhaftung, nach Möglichkeiten des Freispruchs. Doch der Geistliche entlässt Josef nicht aus der Eigenverantwortlichkeit: »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.« Damit wird der Verweis auf eine Grundproblematik des Josef K. gegeben: seine mangelnde Eigenverantwortlichkeit und die fehlende Selbststeuerung, die seine Biografie als »ungelebtes Leben« erscheinen lässt. Darauf folgten drei Arbeitsschritte:
1.1.Interpretation der Türhüterparabel und Analyse des Gesprächs zwischen Gefängniskaplan und Josef K.
Als lehrhaftes Gleichnis erzählt der Geistliche Josef K. die Legende vom Türhüter. Diese Parabel wurde von Kafka zu einem früheren Zeitpunkt als eigenständiger Text herausgegeben, wobei verschiedene Fassungen existieren. Mit Schülern habe ich zunächst die Parabel als eigenständigen Text interpretiert (M 1). Der Bildebene wurden verschiedene Bedeutungsebenen zugewiesen:
- Was könnte mit dem »Gesetz« gemeint sein? (Schülerantworten: Gebote, Sinn des Lebens, die Weltformel 48, „ .);
- Welche Menschen sind »Türhüter« - welche Wege werden blockiert? (Schülerantworten: Beamte; Lehrer bei Einschränkung des Zugangs zu höheren Bildungswegen; Eltern als Hemmschuh beim Finden eigener Wege; Türsteher, welche über den Einlass in die Disco bestimmen - weshalb viele Schüler in Aufsätzen Kafkas Parabel als » Türsteherlegende « tituliert haben.)
- Bist du selber auch gelegentlich in der Rolle des Türhüters? (Schülerantworten: ja, wenn ich zum Beispiel jemanden abblitzen lasse, wenn ich meine Ellenbogen gebrauche)
Anschließend erfolgt eine genaue Analyse des Streitgesprächs, welches sich zwischen Josef K. und dem Gefängniskaplan um die Interpretation der Parabel entwickelt. Aus dieser Analyse ergeben sich folgende Überlegungen, die in der Übertragung auch auf unsere Wirklichkeit zutreffen:
- Es gibt nicht nur eine Interpretation der Parabel, sondern verschiedene Sichtweisen;
- Es gibt im Leben keine einfachen Lösungen - denn hinter der ersten Tür befinden sich noch viele andere Türhüter.
- Über die Frage, wer von beiden sich in der besseren Position befindet, der Mann vom Lande oder der Türhüter, gehen die Meinungen ebenfalls auseinander.
- Die Grundstruktur des Lebens ist von unauflöslichen Widersprüchen gekennzeichnet; »Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus«. (So formuliert der Gefängniskaplan seine Auffassung von der Mehrdeutigkeit von Interpretationen.)
- Der Mensch bewegt sich in einem ständigen Zwiespalt von Anpassung und Widerstand; er ist gefordert, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.
1.2 Kreative Schreibaufgabe: Erstellen einer eigenen Parabelversion
Der Textarbeit folgt eine kreative Schreibaufgabe, durch welche die Erkenntnisse vertieft werden. Zu diesem Zwecke wird den Schülern eine weitere Version Kafkas von der Türhüterparabel vorgelegt (siehe M 1).
1.3 Auseinandersetzung mit einem Dossier zum Thema: Eigenes Leben - im Spannungsfeld von Selbstverwirklichung, Anpassung und Widerstand
Das von mir zusammengestellte Dossier (siehe M 2-M 5) besteht aus einer Mischung von verschiedenen Texten, Gedichten und Bildern. Die Schüler erhalten die Aufgabe, sich in Gruppenarbeit mit den einzelnen Teilen auseinanderzusetzen, danach als Gruppe jeweils ein Abstract zu verfassen und nach eigener Wahl eine kurze, lebendige Präsentation zu den Texten zu gestalten (durch szenisches Spiel, Standbild oder dergleichen, Dialog). Dabei sollten auch Bezüge zu Josef K. herausgearbeitet werden. Dazu habe ich einen Fragenkatalog entwickelt, der an die essayistische Schreibweise heranführt (siehe Kasten) und es den Schülern ermöglicht, Anregungen der Dossiers in ihren Essay einzubauen. Im Anschluss wurde als Klausur die Aufgabe gestellt: Verfassen Sie einen Essay zum Thema. Sie können selbst einen treffenden Titel für Ihren Essay wählen, der zu den von Ihnen behandelten Schwerpunkten passt (insgesamt aber bitte im Rahmen der Themenstellung bleiben).
M 1: Franz Kafkas Türhüterparabel
Ursprüngliche Version:
Als das der Türhüter merkt, lacht er und sagt: «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbot hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr vertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht mehr erwartet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er[ ... ].
Kafkas zweite Version:
Ich überlief den ersten Wärter. Nachträglich erschrak ich, lief wieder zurück und sagte dem Wärter: »Ich bin hier durchgelaufen. Während du abgewendet warst.« Der Wächter sah vor sich hin und schwieg. »Ich hätte es wohl nicht tun sollen«, sage ich. Der Wächter schwieg noch immer. »Bedeutet dein Schweigen die Erlaubnis zu passieren? «
Schreibaufgabe:
Machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken zum Fortgang der Parabel: Schreiben Sie ein alternatives Ende, das zu einem ganz anderen Ziel führen kann, wie der beispielhafte Alternativfortgang von Kafka deutlich macht. Sie haben die Wahl entweder an der ursprünglichen Fassung oder an der zweiten Version beim Weiterschreiben anzuschließen.
Die Ergebnisse der Schreibaufgabe waren erstaunlich: So kehrte in einer Schülerversion der Mann vom Lande unverrichteter Dinge in sein Heimatdorf zurück und wurde von allen Dorfbewohnern und der eigenen Familie mit wohlwollendem Verständnis für seine Resignation empfangen. Nur der jüngste Sohn schalt ihn einen Versager, ohrfeigte seinen Vater für seine Feigheit und verschwand aus dem Dorf auf Nimmerwiedersehen. In einer anderen Schülerversion gelang es dem Mann vom Lande, sich durch einen geschickten Deal mit dem Türhüter zu einigen. Auf diplomatische Weise konnte er sich durch mehrere Türen durcharbeiten und wurde dann selbst zum Türhüter als rechte Hand »des Chefs«, den er allerdings selbst nie zu Gesicht bekam.
M 4: Wolf Biermann: Süßes Leben, saures Leben
(für Hannes Stein)
Süßes Leben, saures Leben, Paradieschen
wird's nie geben
Höllen gibt's schon eh'r
Manchmal bin ich menschenmüde
Kalt ist diese Welt und rüde
und ich mag nicht mehr
Wenn ich Gift und Galle saufe
Wenn ich mit der Meute raufe
wenn mich Zweifel plagt
Wenn die Frohnaturen schunkeln
Sing ich mir wie'n Kind im Dunkeln
was der Weise sagt:
Ewig machen, ewig scheitern
Macht nix, Alter!, mach so weiter
werde älter, klüger, kesser
Vorwärts! hoppe-hoppe-Reiter
Mach, mach, mach, mach, mach und scheiter
aber scheiter immer besser!
Schweinepriester reden Bände
prophezeihn das Weltenende leben davon flott
Tja, um uns wär's jammerschade
Ohne Menschen wär es fade
denn es gibt kein' Gott
Der die Welt nochmal erschaffet
Und dann aus den Himmeln gaffet
hilflos und stupid
Also hau ich rein und mache
Weiter: weine, fluche, lache
unser Lebenslied:
Ewig machen, ewig scheitern
(Der Liedermacher, der ein sehr bewegtes Leben geführt hat und aus der ehemaligen DDR als oppsitioneller Dissident ausgebürgert — des Landes verwiesen — wurde, schrieb dieses Lied 1998,als er 60 Jahre alt wurde)
M 6: Andre Comte-Sponville: Wer gerecht sein will, bewegt sich auf unsicherem Terrain
Die Gerechtigkeit gibt es nicht, ja, sie ist sogar nur insofern ein Wert, als es Gerechte gibt, die sie verteidigen. Aber was ist das, ein Gerechter? Vielleicht ist das am schwersten zu beantworten. Ein Mensch, der sich an die Legalität hält? Gewiss nicht, denn sie kann ungerecht sein. Ein Mensch, der sich an das Moralgesetz hält? So steht es bei Kant, aber es verschiebt nur das Problem: Was ist das Moralgesetz? Ich habe mehrere Gerechte gekannt, die behaupteten, es nicht zu kennen, oder gar seine Existenz bestritten. [...] Gleichheit ist nicht alles. Oder wäre ein Richter gerecht, der alle Angeklagten zur selben Strafe verurteilte? Oder ein Lehrer, der allen Schülern dieselbe Note gäbe? Strafen und Noten dürfen nicht gleich sein, heißt es, sie müssen im Verhältnis zum Delikt oder zur Leistung stehen. Zweifelsohne, aber wer urteilt? Und nach welchen Maßstäben? Wieviel für Diebstahl? Für Vergewaltigung? Für Mord? Und unter diesen Umständen? Unter jenen Umständen? Das Gesetz gibt eine Antwort, die Geschworenen, die Richter geben eine. Die Gerechtigkeit gibt keine. Dasselbe in der Schule. Soll der Fleiß oder die Begabung honoriert werden? Das Ergebnis oder der Verdienst? Oder beides? Aber wenn es sich um eine Prüfung mit Wettbewerbscharakter handelt, wo die einen nur bestehen können, weil andere durchfallen? Und nach welchen Kriterien, die ihrerseits zu bewerten wären? Nach welchen Normen, die ihrerseits zu beurteilen wären? Die Lehrkräfte antworten, so gut sie es können, sie müssen es; nur die Gerechtigkeit tut es nicht. Die Gerechtigkeit gibt keine Antwort, sie gibt nie eine. Darum brauchen wir Richter für die Gerichte, und Lehrer, die die Prüfungen korrigieren. [...] Eingebildete Tröpfe tun es in der unerschütterlichen Überzeugung zu wissen, was Gerechtigkeit ist. Doch mir scheint, die Gerechten sind eher jene, die es nicht wissen, die das auch zugeben und ihre Aufgabe erfüllen, so gut es eben geht, nicht gerade blind, das wäre zuviel gesagt, aber mit dem Risiko des Irrtums (die Hauptleidtragenden sind ja nicht sie) und der Unsicherheit. Hierher passt wieder ein Pascal-Zitat: »Es gibt nur zwei Arten von Menschen: die Gerechten, die sich für Sünder halten, und die Sünder, die sich für gerecht halten.« Aber man weiß nie, zu welcher der beiden Kategorien man selbst gehört: Wüsste man es, wäre man schon in der anderen! Dennoch braucht es einen Maßstab, und sei es ein ungefährer, und ein Prinzip, und sei es ein unsicheres.
[Auszug aus Andre Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Hamburg 1996, S. 93 ff.]
Kleiner Exkurs zum Essay
Hintergrund meiner Überlegung zu diesem die Fächer Deutsch und Philosophie/Ethik verbindenden Unterricht war der Umstand, dass die Schüler der beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg (eine Sonderform von Gymnasien, die es nur in BW gibt) im Abitur als Aufsatzform den »Essay« wählen können. Vorgeschrieben ist, dass sie hierzu ein Dossier zum Thema erhalten, zu seinen Inhalten »abstracts« verfassen und dann auf dieser Grundlage einen eigenen Essay zum Thema schreiben. Der Essay wurde von dem Philosophen Michel de Montaigne
(1532-1592) als eine literarische Form philosophischen Reflektierens entwickelt, indem er u. a. Sprüche, Aphorismen, Weisheiten etc. mit kritischen Kommentaren versah. Seine Essays enthalten mehr Fragen als Antworten. Die Schreibperspektive ist subjektiv, die Schreibweise ist assoziativ, lebendig, anschaulich, die Ausführungen sind gekennzeichnet durch Zweifel an absoluten Wahrheitsansprüchen und dogmatischen Lehrmeinungen der katholischen Kirche. Bis heute liegt dem Essay eine Methode zugrunde, nach welcher sich der Autor seinem Gegenstand
auf experimentelle Art und Weise annähert. Er versucht, vor den Augen des Lesers eine Art »Gedankenspaziergang « zu machen, indem er seinen Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven analysierend betrachtet. Dabei besteht sein Ziel nicht darin, durch systematische Analysen zu wohlausgewogenen Urteilen oder Lösungen zu gelangen, sondern darin, auf Widersprüchliches hinzuweisen, dem Rätselhaften und Ungereimten nachzuspüren, Verborgenes ans Licht zu heben, Fragen neu zu stellen, ohne vorschnelle Antworten zu liefern. Eigentlich würde sich die essayistische Art des Philosophierens auch für Ethikklausuren und Ethikabiturprüfungsaufgaben eignen. Da für die Anforderungen im Abitur eine bundesweite Vereinheitlichung angestrebt wird, wäre es durchaus denkbar, im Fach Ethik den Essay als mögliche Aufgabenform einzuführen.
Fragen, die an die Essayistische Schreibweise heranführen:
- - Was hat mich im Text besonders angesprochen?
- - An welche Situation des Lebens hat mich dieser Text erinnert?
- - Kann mir der Text Orientierung bieten? Inwiefern?
- - Auf welche Widersprüche und Gefahren macht der Text aufmerksam?
- - An welche Beispiele aus Film, Kunst oder Literatur erinnert mich dieser Text?
- - Wer sollte sich diesen Text mal hinter die Ohren schreiben?
- - Wer wird diesen Text wahrscheinlich nie verstehen?
- - Was müsste passieren, damit der Ignorant (der diesen Text wahrscheinlich nie verstehen wird - sprich: nicht verstehen will oder kann) eine Horizonterweiterung erfährt und eine - wenn auch nur schwache - Ahnung davon erhält, um was es hier geht?
- - Was verschweigt der Text?
- - Was würde ich da noch von meinen eigenen Erfahrungen
- - meinem eigenen Wissen - hinzufügen?
Hier nur einen kurzer Auszug aus der Arbeit eines Schülers, der in seinem Essay unter dem selbst gewählten Titel: »Reflexionen eines vermeintlichen Widerständlers« zu dem Schluss kommt: »Erleidet man einen ganz besonders schweren Schicksalsschlag, so sollte man lernen, mit der eigenen Situation umgehen zu können, ohne ihr zu erliegen. Das klingt vielleicht wie der Text aus einer Broschüre einer Selbsthilfegruppe, lässt sich jedoch auch weniger abstrakt formulieren: Jeder hat die Möglichkeit und gleichzeitig die Pflicht, das Beste aus seinem Leben zu machen. Hierbei spielt die äußere Freiheit eine wesentlich geringere Rolle als die innere Freiheit. Denn auch ein Mensch, der an einer schweren Krankheit leidet und ans Bett gefesselt ist, kann in seinem Geiste frei sein, kann mit der Fantasie fremde Orte bereisen und sich seine eigenen Gedanken über gesellschaftliche Zusammenhänge machen. Er ist wahrscheinlich sogar viel freier und kann sich viel mehr selbst verwirklichen als ein körperlich unversehrter Mensch, der vier Stunden täglich vor dem Fernseher verbringt und über schlechten Talkshows die eigene Selbstverwirklichung vergisst. Als Fazit lässt sich sagen, dass unser Leben ein ständiger Prozess aus Kämpfen gegen Widerstände, Anpass4ng und um Selbstverwirklichung ist, mit der Möglichkeit des Scheiterns. Doch ganz egal, ob unser Handeln von Erfolg gekrönt ist oder nicht: Am Ende sollten wir sagen können: WIR HABEN ES WENIGSTENS VERSUCHT!«[3]
2. Das Feld der Gerechtigkeit - ein unsicheres Terrain
Michael Kohlhaas glaubte mit seinem unerbittlichen Rachefeldzug gegen den Junker von Tronka im Recht zu sein. Nicht einmal Martin Luther, der für Kohlhaas eine absolute Autorität darstellt, kann ihn an daran hindern. Luthers Forderung, Kohlhaas möge in der Nachfolge Christi seinen Feinden vergeben, kann und will er nicht nachgeben. Der Appell an seine christliche Grundeinstellung erweist sich als unwirksam. Die Wirkung der erlittenen Verletzung ist zu stark, der Wunsch nach Wiederherstellung von Gerechtigkeit übermächtig - Kohlhaas kann nicht anders, als an seinem Ziel festzuhalten. Kleist hat in Kohlhaas eine Figur erschaffen, die so populär wurde, dass sie als Typus in den Sprachgebrauch einging: Noch heute wird ein Mensch, der gegen widerfahrenes Unrecht auf sture, unangemessene Art und Weise ohne Rücksicht auf weitere Verluste zu Felde zieht, als »Kohlhaas« bezeichnet. Einem solchen Menschen wird häufig mit einer Mischung aus Ablehnung und Mitleid begegnet. Weit weniger wird dabei das Leiden wahrgenommen, welches sich oft hinter einer solchen Widerstandshaltung verbirgt. Dieses wahrzunehmen ist aber das zentrale Anliegen von Kleist, der mit einem hohen Maß an Einfühlung für das Opfer und mit kritischem Blick auf die bestehenden Verhältnisse beschreibt, wie Kohlhaas sich in einem Dickicht aus korrupten Justizbeamten, Vetternwirtschaft und politischen Intrigen verfängt. So erscheint das, was vermeintlich Gewalt zwischen Menschen verhindern soll - Rechtsprechung, Gesetz, politische Verfassung, christliche Nächsten- und Feindesliebe - als zweideutig und brüchig. Offen bleibt die Frage, was überhaupt noch Gültigkeit besitzt, wenn es die Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht gibt.
Zwei philosophische Texte bieten sich an, die Fragestellungen, die durch die Lektüre aufgeworfen werden, vertiefend zu bearbeiten: der sokratische Dialog Gorgias aus Platons Frühwerk und ein Textauszug von Sponville (siehe M 4 und M 6). Im Anschluss an eine sorgfältige Erschließung der Argumentation des Sokrates kann das Gedankenexperiment unternommen werden, die Argumentation auf die Situation von Kohlhaas zu übertragen:
M 6 Platon: Ist es besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun?
Der folgende Dialogauszug stammt aus dem Dialog »Gorgias«, dem letzten Dialog aus Platons Frühwerk. In diesem Dialog rechnet Platon mit den Sophisten und der nach seiner Meinung verkommenen athenischen Demokratie ab. Das Werk enthält Gespräche mit drei Dialogpartnern: Gorgias, Polos und Kallikles. Im Dialog mit Polos — einem Schüler des Gorgias — geht es um das Verhältnis von Unrecht leiden und Unrecht tun. Sokrates behauptet, dass Unrecht zu erleiden besser sei, als Unrecht zu tun. Menschen, die Unrecht tun, könnten nicht glücklich sein, da sie Schaden an ihrer Seele nehmen würden. Auch sei es besser, für vollzogenes Unrecht bestraft zu werden, als straffrei auszugehen, da so die Seele, die durch das Unrecht-Tun Schaden genommen habe, von der Schuld gereinigt werden könne. Ploto vertritt dagegen die landläufige Meinung, dass diejenigen sich glücklich schätzen können, die die Macht haben, zu tun und zu lassen, was sie gerade wollen (wie etwa die Tyrannen in Athen), besonders, wenn sie keinem gegenüber Rechenschaft ablegen müssen.
Sokrates: Sieh also, ob du mir der Reihe nach Gelegenheit zum Beweise geben und meine Fragen beantworten willst. Denn ich glaube ja, dass nicht bloß ich, sondern auch du und die anderen Menschen das Unrechttun für ein größeres Übel halten als das Unrechtleiden, und nicht Strafe zu leiden für ein größeres Übel als das Erleiden der Strafe.
Polos: Nach meiner Ansicht aber denke weder ich so noch sonst irgendein anderer Mensch. Du also zögest es vor, lieber Unrecht zu leiden als zu tun?
Sokrates: Auch du und die anderen alle.
Polos: Weit gefehlt, weder ich, noch du, noch sonst jemand.
Sokrates: Willst du also antworten?
Polos: Jawohl. Denn ich bin begierig zu erfahren, was du eigentlich vorbringen wirst.
Sokrates: Sage mir denn, damit du es erfahrest, wie wenn ich von vornherein dich fragte: Hältst du, mein Polos, das Unrechttun oder das Unrechtleiden für ein größeres Übel?
Polos: Ich das Unrechtleiden.
Sokrates: Was denn aber für hässlicher: Das Unrechttun oder das Unrechtleiden? Antworte!
Polos: Das Unrechttun.
Sokrates: Nicht auch für schlechter, wenn für hässlicher?
Polos: Keineswegs.
Sokrates: Ich verstehe. Schön und gut und schlecht und hässlich hältst du, scheint es, nicht für identisch.
Polos: Nein. (...)
Sokrates: Wenn also unter zwei schönen Dingen das eine schöner ist, so ist es das, weil entweder eines von beiden oder beide überwiegen, entweder Annehmlichkeit oder Nutzen oder beides?
Polos: Jawohl.
Sokrates: Und wenn denn unter zwei hässlichen Dingen das eine hässlicher ist, so wird es das sein, weil entweder ein Schmerz oder ein Übel bei ihm überwiegt. Oder ist das nicht notwendig?
Polos: Ja.
Sokrates: Wohlan, wie sagten wir eben doch in betreff des Unrechttuns und Unrechtleidens? Meintest du nicht, das Unrechtleiden sei ein größeres Übel, das Unrechttun aber hässlicher?
Polos: Jawohl.
Sokrates: Nicht wahr, wenn das Unrechttun hässlicher ist als das Unrechtleiden, so ist es entweder schmerz- voller, und der Schmerz überwiegt bei ihm, oder es ist es durch ein Übel, oder beides? Ist das nicht auch notwendig?
Polos: Allerdings.
Sokrates: Lass uns denn zuerst überlegen, ob mit dem Unrechttun mehr Schmerz sich verknüpft als mit dem Unrechtleiden, und ob die Unrechttuenden größere Schmerzen haben als die Unrechtleidenden?
Polos: Das keineswegs, mein Sokrates.
Sokrates: Also der Schmerz überwiegt nicht?
Polos: Nein.
Sokrates: Wenn der Schmerz nicht überwiegt, so doch auch nicht mehr beide.
Polos: Offenbar nicht.
Sokrates: Also bleibt nur das andere noch übrig.
Polos: Ja.
Sokrates: Das Übel.
Polos: So scheint es.
Sokrates: Wenn nun beim Unrechttun das Übel über- wiegt, so möchte es doch ein größeres Übel sein als das Unrechtleiden.
Polos: Offenbar.
Sokrates: Nicht wahr, von den meisten Menschen und von dir wurde uns vorhin zugestanden, dass das Unrechttun hässlicher sei als das Unrechtleiden?
Polos: Ja. Sokrates: Jetzt stellt es sich daher als ein größeres Übel dar.
Polos: So scheint´s.
Sokrates: Würdest du nun das größere Übel und das hässlichere dem geringeren vorziehen? Antworte unbedenklich, mein Polos — denn es wird dir nichts schaden —, sondern gib dich der Untersuchung hin wie einem Arzte und antworte mit Ja oder Nein auf meine Frage!
Polos: Nein denn, Sokrates.
Sokrates: Oder sonst wohl ein Mensch?
Polos: Ich glaube nicht; nach dieser Untersuchung wenigstens.
Sokrates: Also hatte ich recht zu behaupten, dass weder ich noch du noch sonst ein Mensch das Unrechttun dem Unrechtleiden vorziehen würde. Denn es ist ja ein größeres Übel.
Polos: Offenbar.
Quelle: http://www.e-text.org/text/Platon%20-%20Gorgias.pdf, S. 63 f.
Fragen zum Text:
- Wie könnte ein Gespräch zwischen Kohlhaas und Sokrates verlaufen?
- Mit welchen Argumenten würde Sokrates (im Unterschied zu Martin Luther) Kohlhaas klarmachen, dass seine Handlungen moralisch fragwürdig sind und dem »Rechtsgefühl« widersprechen?
- Und soll Kohlhaas nach dieser Erkenntnis klein beigeben?
Dazu ließe sich der Dialog Gorgias in der Originalfassung mit den Schülern noch ein Stück weiterlesen, denn es findet noch eine weitere Auseinandersetzung um das Problem der Strafe statt, die von Sokrates als unbedingt moralisch erforderlich angesehen wird. Wie könnte eine gerechte Lösung des Konflikts aussehen? Zur Beantwortung dieser Fragen kann wiederum der Text von Sponville unter folgender Fragestellung herangezogen werden:
- An welchen Stellen zeigt sich in der Novelle, dass »die Gerechtigkeit« keine Antwort gibt? Wie könnte trotzdem im Falle des Kohlhaas ein gerechter Maßstab aussehen?
- Wer müsste dazu seine Haltung ändern?
- Mit welcher Begründung könnte zum Beispiel eine Begnadigung ausgesprochen werden?
Die Schülerinnen und Schüler können im Anschluss an die Erarbeitung der Texte zwischen zwei Arbeitsaufgaben wählen:
- Sie entwerfen einen fiktiven Dialog zwischen Sokrates und Kohlhaas. In das Gespräch können sich auch andere am Geschehen beteiligte Personen einmischen, zum Beispiel Luther (wobei die Unterschiede und Berührungspunkte zwischen einem christlichen und einem sokratischen Ansatz herausgearbeitet werden können) oder die Wahrsagerin (die Kohlhaas Alternativen eröffnet).
- Oder sie nehmen ein Beispiel aus der eigenen Lebenssituation (Schule, Familie), wo es um den Umgang mit erlittenem Unrecht geht, und entwickeln dazu einen sokratischen Dialog. Falls spontan keine konkreten Beispiele präsent sind, enthält der Text von Sponville genügend Anregungen, die sich direkt auf Schülererfahrungen beziehen lassen.
Schlussbemerkung
Wer sich auf die Suche nach dem Weg zu einem gelungenen Leben begibt, wird verschiedene Zugänge finden. Folgt er antiken Konzepten zur Lebenskunst, bekommt er gute Trainingshinweise für »Seelensport «. Jedoch bleiben jedem Menschen auch Erfahrungen nicht erspart, bei denen der Seelenwagen völlig außer Kontrolle gerät, bei denen möglicherweise der Karren in den Dreck fährt oder zu Bruch geht. In einer gebrechlichen Welt, die voller unauflöslicher Widersprüche und Dilemmata ist, lässt sich Widerspruchsfreiheit schwerlich herstellen. Ist deshalb die Seelengymnastik nach antikem Vorbild überflüssig? Nein, aber sie muss ergänzt werden um die Fähigkeit, die Widersprüche selbst anzunehmen, einen produktiven Umgang mit ihnen zu gewinnen und dabei ohne Angst vor Kontrollverlust auf den Prozess, auf die Zeit und nicht zuletzt auf fähige Mitmenschen zu vertrauen.
[1] Zschirnt, Christiane,Keine Sorge, wird schon schiefgehen. Von der Erfahrung des Scheiterns - und der Kunst damit umzugehen,München 2007.