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Krankheiten

Der Kampf um das eigene Leben

Hiltrud Hainmüller

»In der Kunst des Lebens ist der Mensch beides; er ist der Künstler und gleichzeitig der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Marmor, der Arzt und der Patient.« 

(E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 1947)

Anlässlich eines Besuchs in der Freiburger Klinikschule erhielt ich Einblick in Lebenslagen, die für alle Beteiligten eine große Herausforderung darstellen. In dieser Schule werden erkrankte Kinder und Jugendliche während der Zeit ihres Klinikaufenthaltes unterrichtet. Die Schulstunden werden zum Teil am Krankenbett oder - wenn das der Zustand des Patienten erlaubt - im klinikeigenen Schulhaus gehalten. Der Gang durchs Schulhaus überrascht. Hier finden sich Klassenzimmer, von denen man im Schulalltag nur träumen kann: In einem großen, gemütlichen Raum sind Arbeitsinseln mit PCs, Lernkarteien, Landkarten, Anschauungsmaterial aus der Biologie, Pflanzen, Tiere, ein Aquarium, ein Kicker, eine Bühne mit Klavier, Schlagzeug und quadratischen Samtkissen verteilt; die Wände sind geschmückt mit Exponaten aus der eigenen Werkstatt: selbst gemalten Bildern, Collagen, Fotografien.

Die betreuenden Lehrer stimmen Lehrplan und Lernpensum individuell mit dem einzelnen Schüler ab. Für viele Betroffene bedeutet die Erkrankung einen gewaltigen Einschnitt in ihr Leben und fordert gravierende Veränderungen. Die Lehrer unterstützen die Patienten dabei in vielfältiger Art und Weise: Sie tragen dafür Sorge, dass die Kinder und Jugendlichen den Anschluss nicht verlieren, helfen dabei, die körperlichen und seelischen Verletzungen zu verarbeiten, und sie kümmern sich um weiterführende Ausbildungswege und berufliche Eingliederungsmöglichkeiten. Doch den Löwenanteil der Arbeit müssen die Patienten selbst leisten.

Ganz so, wie Erich Fromm in dem Aphorismus es formuliert: Indem sie Arzt und Patient zugleich sind, an sich selbst arbeiten und den Kampf mit der Krankheit aufnehmen, kann es gelingen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und zu meistern. Die folgenden Berichte legen davon ein Zeugnis ab. Die inzwischen jungen Erwachsenen haben darin ihre Erfahrungen formuliert, verbunden mit dem ausdrücklichen Ziel, so vielleicht anderen Menschen Mut machen zu können.

Sergei Repp

Anfangs bin ich lange Zeiten im Krankenhaus gewesen und nur selten zu Hause. Damals, nach einem Tumor, bekam ich eine Knieprothese und musste meine bisherigen Lebensgewohnheiten gänzlich umstellen. Mein Leben durfte ich nicht mehr so aktiv gestalten, neue Sportarten mussten her; beinahe jede Tätigkeit, wie etwa das Gehen, musste erst einmal neu erlernt werden. Schon während des Krankenhausaufenthaltes habe ich mein Leben komplett umgestellt und wurde ein neuer Mensch. Ich habe viel an meiner Persönlichkeitsentwicklung gearbeitet, an neuen Essgewohnheiten, und mir viel überlegt, was mir wichtig ist.

Früher war ich ein Tropfen im Fluss, heute bin ich eine Person. Ich habe mir sehr viel vorgenommen, etwa was ich alles unternehmen werde, sobald ich aus der Klinik wieder raus komme. Auch habe ich mir versprochen, weise zu werden, Geschichten zu schreiben, einen Beruf zu erlernen, in dem ich die Menschheit ein Stück voranbringe, und am wichtigsten: immer glücklich zu sein. Sobald ich mich wieder im Alltag befand, war alles viel schwieriger, als ich mir es vorgestellt habe, zu Hause die üblichen Probleme und überall Einschränkungen und Schwierigkeiten. Zielstrebiger als je zuvor habe ich die Aufgaben erledigt und die Abiturprüfungen geschrieben. Danach bin ich quer durch Deutschland gereist und habe meine Freunde besucht. Ich fing an, manche Menschen mit ganz anderen Augen zu sehen als früher, mir sind Dinge aufgefallen, die ich früher gar nicht bemerkt habe.

Jetzt studiere ich Chemie in der schönsten Stadt Deutschlands, Freiburg, und reise in den Ferien je nach Möglichkeit durch Europa, genieße jeden Tag, Atemzug und Herzschlag. An allem gibt es etwas Wundervolles. Wenn man es sieht und fühlen will, kann man einfach nicht mehr deprimiert sein. Man weiß, dass man ein Teil davon ist, deswegen kann man etwas bewegen, und dass man immer von jemandem geliebt wird.

Das, woran du glaubst, ist für dich besonders wichtig und richtig. zweifle nicht daran, deine Entscheidungen nach deinem Herzen zu treffen. Erfolgserlebnisse sind ganz wichtig, dabei ist zu beachten, dass man Ziele wählt, die machbar sind; viele kleine, persönliche Ziele. Ich habe als mein erstes Ziel eine wochenlange Fahrradtour unternommen, danach hatte ich das Gefühl, alle Berge und Täler überwinden zu können. Die Berge erschienen mir flach, und ich lernte es, Sumpfgebiete zu meiden.

Roman Oleksyuk: Über das Leben mit einem »neuen Herzen«

»Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.« Heute ist ein wunderschöner sonniger Morgen. Die warmen Sonnenstrahlen schauen durch das Fensterglas zu mir ins Zimmer, so, als ob sie sagen wollten: »Wach auf, es ist Zeit aufzustehen.« Aber ich verberge meinen Kopf unter der warmen Decke und habe die Hoffnung, meinen süßen Traum zu Ende zu schauen, in welchem ich in mein erstes Heimatland, die Ukraine, zurückkehre. Aber war es nur ein Traum? Die Wirklichkeit vermischt sich mit den Träumen so eng, dass es manchmal schwer zu erkennen ist, wo der dünne Strich verläuft, wenn die Träume aufhören und die Wirklichkeit beginnt. Während einer Routineuntersuchung im Jahre 2002 wurde bei mir eine lebensbedrohliche Herzerkrankung diagnostiziert, was für uns wie ein schreckliches Urteil klang. Die Medizin war machtlos. Aber ich wollte so sehr leben!

Im November 2002 brachte man mich nach einem schweren Herzanfall in die Kardiologieabteilung eines ukrainischen Bezirkskrankenhauses. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass mein Herz schon kleinste Belastungen nicht mehr vertragen konnte. Aber ich glaubte: Ich werde leben! Am 10. Dezember 2002 wurde ich aus der Ukraine in die Kinderklinik der Stadt Freiburg gebracht. In der Kinderklinik wurde mir am 12. Dezember 2002 ein Herzkatheter eingesetzt. Leider waren die Ergebnisse nicht erfreulich. Ich bekam viele Infusionen und fühlte mich bis zum 19. Dezember besser. Aber mein Herz war inzwischen viel zu groß und konnte nicht normal funktionieren.

Meine Nieren versagten und deswegen wurde ich an eine Dialyse-Maschine angeschlossen, die rund um die Uhr arbeitete. Ich redete inzwischen nichts mehr, sondern schlief nur noch und kann mich heute an diese Tage kaum erinnern. Meine Mama erzählt, dass die Ärzte am 30. Dezember sagten, eine Operation sei dringend notwendig. Ich könnte nur mit einem Kunstherz weiter leben. Heute will ich sagen, dass Mama immer geglaubt hatte, dass Gott mich retten würde. Sie fand in der Bibel den Psalm 91, lernte ihn auswendig und wiederholte ihn Tag und Nacht. Darin fand sie Hoffnung und Versprechen: »Ich will ihn erretten. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und ich will ihm zeigen mein Heil.«

Am 31. Dezember 2002 wurde ich zum ersten Mal operiert. Während der Operation gab es eine sehr starke Blutung, deswegen wurde die Wunde nicht zugenäht, sondern mit dem Pflaster zugeklebt. Erst drei Tage später holte man mich wieder in den Operationssaal und nähte mir die Wunde zu. Ich konnte selber nicht atmen, deswegen wurde mir eine Tracheotomie gemacht und für mich atmete nun die »Maschine«. Das war eine schwere Zeit, aber ich lebte. In diesen Tagen erfuhr ich eine sehr große Liebe und Unterstützung von bekannten und unbekannten Menschen. Ich habe gelernt, das Leben zu schätzen und dafür zu kämpfen. Ich weiß, dass man den Weg nur dann beschreiten kann, wenn man selbst den ersten Schritt macht und dabei nicht stehen bleibt. Am 22. Februar 2003, gegen 18 Uhr, sagte der Arzt zu meinen Eltern, dass es für mich ein Spenderherz gibt.

Um 21 Uhr holte man mich in den Operationssaal. Mama erzählt: »Um 6 Uhr morgens erlaubte man mir und meinem Mann für ein paar Minuten ins postoperative Krankenzimmer hinein zu gehen. Roman schlief. Wir kamen näher und sagten leise: >Söhnchen! Du hast schon alles hinter dir. Wir lieben dich so sehr.Plötzlich kam aus der Ecke seines rechten Auges eine riesige Träne und floss über die Wange.« Es gab wieder Tage des Kampfes. Jeder wollte mir helfen, so als ob man das Fenster öffnen und die Sonne in mein Leben lassen wollte. Ein Krankenpfleger aus De la Camp schrieb mir: »Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.«

Fünf Monate nach der ersten Operation machte ich meine ersten Schritte. Ich lernte wieder zu gehen. Es scheint mir, dass ich die Liebe, die mir Ärzte, Krankenschwestern, Pflege-Personal schenkten, zusammen mit der Luft atmete. Und diese Liebe gab mir Kraft. Einmal, während eines Arztbesuches, als ich noch dermaßen krank war, dass ich nicht mal die Hand hochheben konnte, sagte der Arzt ganz angenehm: »Er wird noch Fußball spielen.« Solche aufmunternde Worte lassen die Hoffnung in den Herzen der Menschen entflammen. Auf unserer wunderbaren Erde bin ich zweimal geboren. Gott schenkte mir die Möglichkeit, zwei Heimatländer zu haben.

Die Ukraine ist das Land, in dem ich das Wiegenlied zum ersten Mal hörte, das mir Mama sang; in dem mein Papa, mich an der Hand haltend, mir die ersten Schritte beibrachte; in dem meine ältere Schwester mir sagte: »Ich bin so glücklich, dass ich dich habe.« Mein zweites Heimatland ist das in Blumen und Grün gekleidete Deutschland. Hier, mit fünfzehneinhalb Jahren, kam ich zum zweiten Mal zur Welt. Dieses Land gab mir die Möglichkeit, das Leben wieder zu genießen. Hier brachte man mir bei, die Krankheit als ein misslungenes Buch zu betrachten, welches ich lesen musste.

Mir wurde gesagt: »Man muss mit diesem Buch nicht verwachsen, weil das nicht die einzige Geschichte des Lebens ist. Man soll dieses Buch weit hinwerfen und ein anderes nehmen.« Jetzt mache ich eine Ausbildung zum Medizinischen Fachangestellten und bin sehr glücklich. Jetzt will ich anderen Menschen helfen und ihnen Mut machen.