Jeder von uns ist ein Glückspilz
Bernd Hainmüller
Die eigene Motivation ist entscheidend: Hauptschülerinnen und -schüler in Kooperationsklassen haben gute Chancen auf einen Abschluss und eine Lehrstelle.
Neulich stand eine Klassenfahrt nach Berlin an. Für die 14 Schülerinnen und Schüler der Kooperationsklasse I am Berufsschulzentrum in der Bissierstraße wäre das eigentlich eine Gelegenheit gewesen, der berüchtigten Rütli-Schule zu zeigen, was alles geht mit Hauptschülern. Die vierzehn aus Freiburg jedenfalls sind auf einem guten Weg. Und den verdanken sie einem guten Konzept: In den Kooperationsklassen gehen Haupt- und Berufsschule eine heilsame Verbindung ein. Jugendliche, die längst abgeschrieben waren,machen ihren Hauptschulabschluss und finden zum großen Teil sogar Lehrstellen. Das sollen Hauptschüler sein? Mucksmäuschenstill sitzen sie im Stuhlkreis, hören mit großer Ernsthaftigkeit zu, lassen einander ausreden. "Jeder von uns ist ein Glückspilz" , behauptet Esther. Sie weiß nicht, was ohne diese Klasse aus ihr geworden wäre. "In meine alte Schule habe ich irgendwie nicht richtig reingepasst." Alle im Stuhlkreis berichten von Problemen mit Lehrern und Mitschülern. Verena ist sogarschon zweimal von einer Freiburger Hauptschule geflogen. Schule schwänzen, miserable Noten, Sprachschwierigkeiten, das Gefühl, ein schwarzes Schaf zu sein und die Aussicht, es ohnehin zu nichts zu bringen, ist allen vertraut. Und dann sagt Esther diesen Satz: "Ich habe gemerkt, dass ich aus meinem Leben was machen muss." Hotelfachfrau will sie mal werden. Es besteht kein Anlass zu zweifeln, dass sie das schaffen wird. Die Nachfrage nach einem Platz in einer Kooperationsklasse ist groß. 28 haben sich fürs neue Schuljahr beworben, nur 16 werden genommen. "Die Einstellung entscheidet" , sagt Bernd Hainmüller, der "Vater" der Freiburger Kooperationsklassen. "Die Bewerber müssen wirklich wollen." Zwei haben in der jetzigen "Koop I" die Probezeit nicht überstanden: zu unpünktlich waren sie, haben sich an keine der vereinbarten Regeln gehalten, andere provoziert, ein völlig unrealistisches Selbstbild gehabt. Da waren´ s nur noch vierzehn. Einer der Ausgeschiedenen, wissen sie, lebt jetzt auf der Straße. Das soll ihnen auf keinen Fall passieren. Nach der achten Klasse Hauptschule haben sich die Schülerinnen und Schüler für zwei Jahre auf den Unterricht in einer Kooperationsklasse eingelassen. Die neunte Klasse Hauptschule und das Berufsvorbereitungsjahr wurden darin zu einer neuen Art von Unterricht verknüpft. In den Werkstätten des Berufsschulzentrums etwa lernen sie ein bis zwei Tage pro Woche neue Berufsfelder kennen. Marco weiß jetzt, wie man Wurst und Fleischkäse herstellt. Und er hat in der Metallwerkstatt den Umgang mit Flex, Bohr- und Schleifmaschinen gelernt. Er genießt es, dass die Meister "viel Zeit" für ihn haben und dass die Gruppen mit maximal acht Teilnehmern klein sind. Dass es den 15-Jährigen aber nicht zu den Metzgern, sondern ins Fitnessstudio zieht als Sport- und Fitnesskaufmann, verdankt er einem Praktikum. Zwei Mal zwei Wochen pro Schuljahr sind dafür vorgesehen, und die Schüler müssen — wie im richtigen Leben — durchhalten. Daniel, der in einem Kfz-Betrieb war, hat es zwar "nicht so Spaß gemacht" . Aber er ist drangeblieben und hat sogar eine Eins gekriegt. Auch Marco hat beste Rückmeldungen bekommen und wurde aufgefordert, seine Bewerbungsunterlagen zu schicken. "Das Beste aus den Jugendlichen rausholen" will Klassenlehrerin Annegret Fetzer von der Albert-Schweitzer-Hauptschule, die mit den Kooperationsklassen eine Art Außenstelle am Berufsschulzentrum hat. Gemeinsam mit den Jugendlichen, ihren Eltern — zu denen auch mit Hausbesuchen der Kontakt gehalten wird — und den beteiligten Kollegen wird nach Stärken und Schwächen gefahndet. Die schulische Bildung kommt dabei nicht zu kurz. Doch wird die Wissensvermittlung bevorzugt mit lebensnahen Themen verknüpft. Im Deutschunterricht etwa werden Bewerbungsschreiben und Praktikumsberichte besprochen. Und in Mathe werden die Rezeptzutaten von Gerichten, die bei Klassenfahrten gekocht werden sollen, von vier auf zwanzig Personen hochgerechnet. Klassenfahrten selbst fallen in die Kategorie "Überlebenstraining" . Gemeinsam verbrachte Freizeit stärkt Vertrauen, Teamgeist und fördert die Sozialkompetenz. "Die persönliche Beziehung" , weiß Annegret Fetzer, "ist das A und O." Die Lehrer sind tagsüber jederzeit per Handy ansprechbar. Zu den wichtigen Bezugspersonen gehört Sozialarbeiter Markus Walter, der im Rahmen der Ausbildungs- und Beschäftigungsinitiative vom Arbeitgeberverband Südwest-Metall finanziert wird. Ihm hat Ilja zu verdanken, dass er eine Lehrstelle hat: Walter hat ihn sofort informiert, als er die Anzeige in der Zeitung sah. Sie stammte von einer Heizungsbaufirma, bei der Ilja — er kam erst vor fünf Jahren aus Weißrussland, ohne ein Wort Deutsch zu können — ein Praktikum gemacht hatte. Sie haben ihn sofort genommen. Im September geht´ s los.
Anita Rüffer, Badische Zeitung vom 5. Juli 2006