StartseitePublikationenBernd HainmüllerIst Sisyphos ein glücklicher Mensch?

Ist Sisyphos ein glücklicher Mensch?

Rehabilitation als Zukunftsaufgabe von Bildung

Bernd Hainmüller

Sehr verehrte Anwesende,

ich habe als europäischer Projektkoordinator eines Programms im Rahmen von LLP – der neuen Programmgeneration der Europäischen Kommission schon manchmal Brüsseler Wortungetüme gehört, bei denen ich nicht wußte, ob man lachen oder weinen sollte. Ich gebe Ihnen ein neues zur Kenntnis mit der Aussicht, dass sie bei richtiger Beantwortung bei Günter Jauch damit evtl. 1 Million Euro gewinnen könnten. Die Frage lautet: Was ist eine „Null-Status-Gruppe“? [1]

  1. eine Personengruppe mit der Blutgruppe Null?
  2. eine Personengruppe mit so vielen Nullen auf dem Bankkonto, dass sie steuerrechtlich nicht mehr erfassbar ist?
  3. eine neue Partei ?
  4. junge Leute, die weder eine Schule besuchen noch eine Ausbildung absolvieren oder einer Arbeit nachgehen?

Brauchen Sie einen Telefonjoker? Dann müssen Sie nur in Brüssel beim Amt für Statistik der EU anrufen…..Im englischen Sprachgebrauch wurde für diese Gruppe ein zumindest wertneutralerer Begriff gewählt: NEET's (Not in Education, Employment or Training). Umgangssprachlich gibt es weitere Labels: NEDS (No Educated Delinquents) oder HOODY's (wobei die Franziskanermönche des Mittelalters als Namensgeber für die Kapuzenmänner sicher kein Vorbild sind). Ich bin mir sicher, dass es in der Jugendsprache jedes der 27 EU-Länder Entsprechungen gibt. Ich bin überzeugt davon, dass alle hier heute Anwesenden auch deshalb hier sind, weil sie nicht wollen, dass ein solcher Sprachgebrauch für benachteiligte Personengruppen Usus wird.

Sisyphos und die NEETS

Die betreffende Personengruppe bis 25 Jahren gibt es nach der jüngsten Erhebung von CEDEFOP - dem europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung in Thessaloniki – im EU-Europa in unterschiedlicher Ausprägung[2]: Polen ist Spitzenreiter mit 36,9% Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung, dicht gefolgt von Frankreich mit 23% und man höre und staune Finnland mit 20% , die Bundesrepublik liegt auf einem Mittelplatz mit 15% - ein Großteil davon erfasst jene 10% Jugendliche, die das Schulsystem ohne Ausgangsqualifikation verlassen. Die Zahl der 15% begegnet uns übrigens häufiger – z. B. bei den deutschen PISA Ergebnissen in der Gruppe auf Kompetenzniveau 1 oder drunter. Es gibt hier klare Überschneidungen, die durch das duale System abgefedert werden, sonst würden wir durchaus sehr schnell sehr viel näher an die polnischen, französischen, finnischen oder spanischen Nachbarn heranrücken. Immerhin haben im Jahr 2004 rund 53% der deutschen Jugendlichen eine berufliche Ausbildung im Dualen System abgeschlossen, aber einige eben nur unter Mühen und mit tatkräftiger Hilfe. Lassen sie mich ihnen einige dieser Mühselig-Beladenen näher vor die Augen rücken.

Da ist Selver, deren Eltern aus der Türkei stammen, die sie später nachgeholt haben. Selver hat die Hauptschule am Ende Klasse 8 verlassen, weil sie nach Auskunft aller zu lernschwach ist, um den Hauptschulabschluß zu schaffen. Selver war jetzt zwei Jahre lang in meiner Kopperationsklasse Hauptschule-Berufsschule in der Bissierstrasse. Von 16 Schülern, mit denen wir 2005 die Klasse begonnen haben , sind 12 übriggeblieben, 10 von Ihnen haben den Abschluß geschafft und alle 10 haben Ende Juli 2007 mit einem Ausbildungsvertrag die Klasse verlassen; nur Selver hat den Hauptschulabschluß trotz aller Bemühungen am Ende nicht geschafft. Aber: Sie hat einen Anschluß in einer Reha-Maßnahme des IB. Auch das ist ein kleiner Sieg. No child left behind –

Da ist Christian. Er schlief nachts im Flur auf einer Holzpalette, weil er kein Zimmer in der Wohnung seines alkoholkranken Vaters besaß. Wer als einziger in der Familie morgens aufsteht, um pünktlich in die Schule zu kommen, muß sich sehr bemühen, sich aus diesem Elend herauszubeißen. In der bisherigen Schule sah niemand seine Not, nur die immer schlechteren Noten und seine Apathie. Bei uns hat er sich an einem Ausbildungsplatz bei der VAG festgebissen und einen Realschüler als Konkurrenten aus dem Feld geschlagen, weil er die ganzen Weihnachtsferien über, bei den Weihnachtsfeiern und der Fasnet in der Kantine der VAG mitgearbeitet hat. Dem Chef hat das imponiert und er hat dem Vertrag bekommen, auch wenn er in der Berufsschule nicht zu den Besten zählen wird. Niemand darf beschämt werden, auch wenn die Familie zerbrochen ist.

Da ist Ricardo. Er kam 2006 in die neue Klasse, nachdem auch er am Ende von Klasse 8 nicht mehr „normal“ beschulbar war. Ricardo hat ein Jahr bei uns durchgehalten, bevor er das alte Gleis schlechter Gewohnheiten bequemer fand. Leider hatte er zu viele Lokomotiven auf diesen Gleisen, so dass wir ihn kurz nach Beginn des 2. Jahres ausschulen mussten. Als wir seiner Mutter erklärt haben, warum es keine weitere Chance für ihn bei uns gibt, hat sie gesagt: Vielleicht habe ich zu lange für ihn gelogen und die Oma hat ihm zuviel Geld zugesteckt……

Um ein Kind gut aufwachsen zu lassen, braucht es ein ganzes Dorf, nicht nur die Lehrer, auch die Eltern. Wir haben ihn in Kontakt mit dem IB gebracht - wir hoffen, es hilft, bevor er mit dem Sixpack am Stühlinger Kirchplatz sitzt. Wir glauben, dass sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IB-Bildungszentrums Freiburg durch ihre nunmehr 25jährige Erfahrung über genügend Expertise und Engagement verfügen, diesem Jungen eine Chance auf einen anerkannten Ausbildungsabschluss zu ermöglichen und so seine Chancen für das Erreichen eines anschließenden Arbeitsplatzes verbessern. Wir haben es nicht geschafft. Aber wir wissen mit Janusz Korczak: Auf jedem Misthaufen kann eine Rose erblühen.

Sie sehen an den Beispielen: Selbst wenn man die Abteilung „Reha-Ausbildung“ mit Fug und Recht als „Herzstück“ der inzwischen vielfältigen Angebote des Freiburger IB- Bildungszentrums bezeichnet kann, ein Herzkammerflimmern gibt bei jedem von uns: Resultat der unsäglichen Sisyphos-Arbeit, die hier versucht wird, denn jeder ist sich darüber im klaren, dass jede Person, der hier geholfen wird, sich vom Null-Status auf den Berg der Lebenschancen hinaufzuhieven, auch wieder hinabrollen, abstürzen kann. Albert Camus hingegen sagt: Man muß sich Sisyphos bei dieser Arbeit als einen “glücklichen Menschen” vorstellen. Ich komme auf diese sehr merkwürdige Aussage später zurück.

Wie alles anfing

Aus einem kleineren Modellprojekt der achtziger Jahre hat sich die Abteilung quantitativ und qualitativ zu einer anerkannten Facheinrichtung der wohnortnahen beruflichen Reha entwickelt, die in der regionalen Bildungslandschaft fest verankert ist. Wenngleich der offizielle Startschuß für die berufliche Bildungsmaßnahme September 1982 fiel, gab es Vorläufer-Modelle, an einem war ich direkt beteiligt. Rückblende: Freiburg - Kappel August 1975. Mißtrauische Blicke der gerade erst zu Freiburg eingemeindeten Kappeler Bürger, was sich da wohl in den leergeräumten Werkstätten der ehemaligen Möbelfabrik Feigle jetzt abspielte. Ein bunt zusammengewürftelter Haufen aus sechs arbeitslosen Meistern und drei Lehrern, kurzfristig engagiert um 80 jugendliche Arbeitslose im Auftrag des Arbeitsamtes in einem einjährigen Lehrgang zum Nachholen des Hauptschulabschlusses zu bewegen und i n Ausbildung und/oder Arbeit zu vermitteln. Für diesen „ersten Förderungslehrgangsgangs zur Erlangung der Berufsreife/ Lehrgang zur Verbesserung der Eingliederungsmöglichkeiten“ des IB in Freiburg hatten wir Erzieher – „keinen Plan“ und die Jugendliche ebenfalls nicht, außer vielleicht dem Plan, uns das Leben nicht wirklich leicht zu machen . Woher auch?

Jugendarbeitslosigkeit war für die nach 1945 Geborenen ein Fremdwort, aber plötzlich nach der Ölkrise Oktober 1973 eine reale Bedrohung: Vom September 1974 bis September 1975 stieg die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen um 233,0 % (gegenüber 154,2 % im Durchschnitt), wodurch sich der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtzahl der Arbeitslosen von 9,6 auf 12,5 % erhöhte, ein Vorgang, an dem Konjunkturflaute und das Nachrücken geburtenstarker Jahrgänge (Babyboom 1960) gleichermaßen beteiligt waren. Vergleichen sie die Zahlen mit dem heutigen Stand: Wer ruft wie damals „Skandal“?

Zwei Rufer sind im Freiburg des Jahres 1975 als Motoren dieser Entwicklung hin zu einer Beachteiligtenförderung untrennbar verbunden: der damalige Leiter des Sozial - und Jugendamts der Stadt Freiburg, Prof. Dr. Hans Peter Mehl und der Jugendrichter Karl Härringer vom JHW . (nachzulesen in: Karl Härringer "Eine Chance für Jeden", Rombach Verlag 1994) Diesen für damalige Verhältnisse sehr wenigen engagierten Streiter für die ausgegrenzten Jugendlichen der Stadt muß an dieser Stelle ausdrücklich gedankt werden. (Warum gibt es eigentlich noch keine Strassennamen für Sie?)

Auch ohne Plan und ohne die vielen Ingredienzien, die heute als integraler Bestandteil von erfolgreicher Reha-Arbeit gelten - Curriculum, Leitbild, EFQM, ausdifferenzierten Arbeitsfeldern, Sozialarbeitern, Psychologen, Heilpädagogen etc. waren wir ziemlich erfolgreich: Von den 80 arbeitslosen Jugendlichen schafften die meisten das Ziel nach einem Jahr. Unser konstanter Wechsel von Theorie und Praxis, die Ganztagesschule (ohne Mittagessen), die Betriebspraktika, unser Einsatz als Lehrer, Streitschlichter, Arbeitsvermittler, Berater, Erlebnispädagogen und einiges andere mehr könnte man im Rückblick als Versatzstücke professioneller Benachteiligten-Pädagogik bezeichnen – und mit dem Förderlehrgang des IB 1975 setzten wir einen Markstein für den Beweis der Tatsache, dass komplementäre außerschulische Angebote der Berufsorientierung hinsichtlich der Übergänge in die Arbeitswelt Angebote notwendig sind, um gerade bildungsfernen und lernschwachen Jugendlichen einen gelungenen Start in ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Der weitere Weg des IB bis zur stolzen Zahl von kurz in Stichworten:

Aus 25 Teilnehmer/innen, 2 Berufsfeldern und 5 pädagogischen Mitarbeiter/innen des Anfangsjahres 1982 sind im September 2007 am Standort Freiburg in der „Reha-Abteilung“ 165 Auszubildende in 11 Berufen geworden. Ihnen stehen einschließlich der Honorarlehrkräfte derzeit insgesamt 48 Pädagog/innen und ein Psychologe zur Seite, um sie auf dem Weg zum Ausbildungsabschluß und anschließenden Arbeitsplatz zu begleiten. Hinzu kommen weitere 92 Auszubildende in der zumeist kooperativ geführten „außerbetrieblichen Ausbildung“ des Bildungszentrums. Im Zeitraum 1982 – 2006 wurden mehr als 900 junge Menschen aus der Region Freiburg aufgenommen. Durchschnittlich erreichten 90% ihr Ausbildungsziel und bestanden die Abschlussprüfungen. Trotz des dauerhaft sehr schwierigen Arbeitsmarktes konnten durchschnittlich 50 – 70 % der Absolvent/innen innerhalb des Folgejahrs in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis vermittelt werden. In den drei Abschlussjahrgängen 2004 bis 2006 betrug die Eingliederungsquote 65%. 2007 ist es 78% der frischgebackenen Fachwerker- und Helfer/innen gelungen, im direkten Anschluß einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu erreichen (Stand: 30.09. 2007), nicht zuletzt aufgrund der guten Wirtschaftslage und der im IB-Jobbüro zu konstatierenden höheren Bereitschaft der Betriebe, auch teilqualifizierten Fachkräften eine Chance zu geben.

No child left behind im 21. Jahrhundert

Und die nächsten 25 Jahre? Was ist Bildung und Erziehung von heute für morgen?

Der Quantensprung in Sachen Benachteiligtenförderung in 25 Jahren ist gedanklich nur möglich geworden, weil sich heutige Begriff[3] von Bildung mit dem von 1975 nicht mehr vergleichen läßt. Bildung war früher material ausgerichtet – auf die Summe der Bildungsgüter, die man erwirbt; (die einen etwas mehr, die anderen etwas weniger). Sie war formal ausgerichtet, auf die Gegenstände, die man lernt[4]; (die einen etwas mehr, die anderen etwas weniger). Erziehung war mehr oder weniger Sache des Elternhauses. Heute sprechen wir von Bildung und Erziehung und meinen - im Rückgriff – auf John Dewey und viele Reformpädagogen – eine möglichst individuell ausgerichtete –Persönlichkeitsbildung, die die bewusste aber auch kritische Integration in die Gesellschaft ermöglichen soll.[5] Hartmut von Hentig hat das mit dem Slogan: Die Menschen stärken und die Sachen klären treffend zusammengefasst. Menschen stärken bedeutet auch: sie zu sich selbst erziehen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand als “gebildet” gilt und gleichzeitig auch als “erzogen” – manchen Gebildeten würde ich manchmal wünschen, andere hätten mehr an ihnen erzogen, z. B. einem Herrn Ackermann ein wenig Charakterbildung anerzogen, wenn das überhaupt geht. Wir brauchen nicht den “homo disponibilis” – den allseits flexiblen und flexibilisierten Menschen – sondern den erzogenen und gebildeten Menschen, der selbstreflexiv genug ist, seine Begrenzungen zu sehen, ohne seine Träume zu verlieren. Mit reflexiv meine ich eine Fähigkeit zum Nachdenken, die nicht punktuell und abgeschlossen ist, die sich vielmehr durch Zeiten und Landschaften bewegt, dazu einen sinnvollen Ausgangspunkt braucht und einen Zielpunkt vor Augen hat. Ausgangpunkt eines solchen reflexiven Bildungswegs ist nicht die Vorstellung, dass Bildung der größtmögliche Konsum von Bildungsgütern sei und dass man am Ziel sei, wenn man diese Bildungsgüter konsumiert und schlecht oder recht verdaut hat. Erziehung wäre demnach vollendet, wenn man gute Eltern, Freunde, nette Lehrer hatte, aber das ist ja bekanntlich nicht immer so. Bildung und Erziehung als lebenslangem Prozess haftet leider die Mühsal an, mehr aus sich zu machen als die Summe der einzelnen Gegebenheiten.[6] Nur so bleiben wir zukunftsoffen. Nur so kann - in einem ganz traditionalistischen Sinne gedacht - das von uns an die kommenden Generationen weitergeben werden, was sich lohnt, zu behalten, um unser Zukunft willen. Von diesem und jenem haben wir uns verabschieden müssen und auch die Jungen werden genügend Gelegenheiten finden, Abschied nehmen zu müssen, ob Sie wollen oder nicht. Lassen sie mich das an den drei Protagonisten von vorhin verdeutlichen:

  • Selver lebt in einer globalisierten Welt; aber sie braucht eine Nische irgendwo darin in der sie ihr Leben einrichten kann. Sie wird keine Bahar der Gruppe "Monrose" werden, da bin ich ziemlich sicher
  • Christian lebt in einer Welt, in der Kindheit kein Schutz- und Sonderraum mit einer klaren Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt mehr ist, sondern ein mit allen Nöten und Vorteilen der Erwachsenenwelt vielfältig verwobener Bereich, der ihn zwingt, früh erwachsen zu sein oder zu mindest so zu wirken. Ob ihm der Abschied von einer nicht gelebten Kindheit schwer fällt? Ich glaube schon.
  • Ricardo lebt in einer Welt, in der der Wahn der Jugendlichkeit (alles ist so cool, Mann, life ist so easy) als ein gesellschaftlich extrem hoher Wert ihn eine Weile mitträgt, bis er an den Strand der harten Tatsachen gespült wird: dass ihn so keiner haben will. Seine Freiheit, alles tun und lassen zu können, ist zugleich der Boomerang, der früher oder später in Bezug auf die Unmöglichkeit der Planung und Gestaltung seiner Berufsbiografie auf ihn zurückfällt. Er muß sich verabschieden von dem Gedanken, dass die Erwachsenenwelt eine Spielwiese ist, auf der man ihm dieb Spielzeuge auch noch hinterher wirft. Ich hoffe nicht, dass er das erst in der JVA Adelsheim lernen muß.

Macht es Sinn, dass wir auch ihn wie Sisyphos immer und wieder unterstützen, den Stein den Berg hinaufzurollen? Ja. Ich will es abschließend an vier wahrscheinlichen Szenarien belegen, die uns die nächsten 25 Jahre begleiten werden:

1. Wir wissen inzwischen, dass die Bildungskarriere von lernschwachen, lernbehinderten oder aus welchen Gründen auch immer benachteiligten Jugendlichen nicht mit 15 oder 16 Jahren am Ende der offiziellen Qualifikationslaufbahn, die nicht erreicht wird oder zu Scheitern droht, beginnt. Sie beginnt – wie die letzten beiden PISA – Studien zurecht festgestellt haben - an den Nahtstellen des Übergangs vom Primar- in den Sekundarbereich und setzt sich fort bis zur Feststellung der Lernbehinderung, bwz. Einmündung in BE Maßnahmen. Diese Jugendlichen haben nur dann eine Chance, wenn es von Anfang an enge Verzahnungen von schulischen und außerschulischen Bemühungen gibt, ein gelingendes Erwachsenenleben vorzubereiten, zu begleiten und gangbar zu machen. Unsere Jugendlichen hat es schon immer gegeben und es wird sie immer geben. Es wäre einmal an der Zeit, dass über die unsäglichen politischen Debatten über die Änderungen von Schulstrukturen hinweg der Blick auf diese Personengruppe focussiert wird, deren Potentiale in ihnen selbst schlummern und die gehoben werden können, wenn man statt Bildungspolitik endlich wieder die Betroffenen in den Blick nehmen würde.

Diese Wächterfunktion bleibt eine Zukunftsaufgabe für alle verantwortlichen Bildungsträger, seien sie staatlicher oder verbandlicher Natur. Als Koordinator eines europaweiten Projekts der Europäischen Kommission im Rahmen des Life long Learning Programmes kann ich ihnen versichern, dass gerade die hochgelobten Skandinavier nicht verstehen, warum wir unsere Erfolge im nachschulischen und berufsbildenden Bereich, denen sie großes Lob zollen, nicht stärker betonen, denn in der nachschulischen Weiterqualifizierung würden sie gerne viel von uns lernen, wie mir sehr freimütig in Gesprächen eingeräumt wird.

2. Wenn durch die Längsschnittstudien der Shell-Studien im letzten Jahrzehnt erwiesenermaßen das Schreckgespenst drohender Arbeitslosigkeit für heranwachsende Jugendliche als das vorrangige Thema der Befürchtungen für die eigene Zukunftsbewältigung rangiert, erwächst uns hier eine Aufgabe, die nicht durch vorübergehende Konjunkturbelebungen verschwinden wird. 1975 glaubten wir noch, die Jugendarbeitslosigkeit sei mit einem weiteren Anwerfen der Industrie-Schornsteine zu bannen. Wir wissen heute, dass wir auf einem Sockel von strukturell und technologisch bedingter Arbeitslosigkeit sitzen, der sich leicht als flüssiger Vulkankegel entpuppen kann, wenn nicht rechtzeitig Dämme errichtet werden gegen die Übergangsprobleme Jugendlicher. Sollen wir darauf warten, bis dieser Stuhl verdammt heiß ist – wollen wir auf die unkalkulierbaren Ausbrüche von Jugendgewalt nur warten oder sie aussitzen? Das beste Mittel gegen die irgendwann , irgendwo in Europa, „gefühlte“ strukturelle Benachteiligung Jugendlicher kann nicht nur im verstärkten Einsatz der Staatsgewalt bestehen, sondern im konsequenten Bemühen und konsequentem Eintreten für gesellschaftliche Teilhabe, Partizipationsrechte und Eingliederung benachteiligter Jugendlicher in die Gesellschaft. Man braucht dazu nur die Menschenrechtskonvention der UN Wirklichkeit werden zu lassen.

3. Vor wenigen Tagen hat Kultusminister Rau nach einer Kabinettsentscheidung vom Juni 2007 bei einer Schulleiterfortbildung in Herbolzheim öffentlich angekündigt, dass die bisher 51 Standorte von Kooperationsklassen Hauptschule-Berufsschule für Baden-Württemberg flächendeckend bis zu Ende des Schuljahrs 2009 auf 171 Standorte ausgebaut werden, so dass sich ab da jede Gewerbliche Schule in Baden-Württemberg in einem Kooperationsverbund mit einer oder mehreren örtlichen Hauptschulen befindet. Dass laut einer mehrjährigen Untersuchung des Landesinstituts für Unterricht und Bildung diese 51 Standorte von KOOP-Klassen schon jetzt landesweit einen Wirkungsgrad von fast 80% erreichen, was den Übergang von im Scheitern begriffenen Hauptschülern am Ende von Klasse 8 nach einem zweijährigen “Brückenkurs” in die Berufs- und Arbeitswelt anbelangt – haben wir im schulischen Bereich in nicht unmaßgeblichem Maße der konzeptionellen und praktischen Fortentwicklung der ausdifferenzierten Angebotspalette an Maßnahmen der freien Berufsbildungsträger wie dem IB zu verdanken. Die Haupt- und Förderschulen (hier gibt es ähnliche Kooperationen) haben hier – mit einigen systembedingten Verzögerungen – nachvollzogen, was an Pionierarbeit der freien Träger im außerschulischen Bereich seit 25 Jahren mit Erfolg geleistet wird. Vor einem Jahr haben wir in den drei Ausbildungsseminaren für Grund- und Hauptschullehrer in Lörrach, Offenburg und Rottweil begonnen, speziell ausgesuchten Referendare eine Zusatzqualifizierung im Rahmen ihrer Lehrerausbildung anzubieten, die zum Ziel hat, sie in diesen Kooperationsklassen und darüber hinaus in Hauptschulen “mit besonderem pädagogischen Förderbedarf” in Zukunft einzusetzen. Ich verstehe diese Schritte um Förder- und Hauptschulbereich als einen weiteren Baustein in einem längst überfälligen Brückenschlag zu den ausserschulischen Trägern der beruflichen Bildung.

4. Erfolgsgeschichten schreibt niemand alleine: das Zauberwort der Zukunft heißt Kooperation, deren Ausbau unerlässlich bleiben wird. Ich greife nur zwei Beispiele der hier in den letzten 25 Jahren gelebten Kooperationen heraus, der noch viele zündende Ideen folgen müssen:

Erstes Beispiel: Kooperation mit der Berufs- und Arbeitswelt

Ohne den kontinuierlichen Austausch mit den Partner/innen in Betrieben und Unternehmen, bei Innungen, Berufverbänden und Kammern wäre die Ausbildung beim Träger unverbundene „Elfenbeinturm-Pädagogik“! Das Bestehen der Abschlussprüfungen ist nämlich nur die die eine Seite der Medaille. (Hier hilft das Training in den IB-Werkstätten – wie die IB-Erfolgsstatistik mit 90 % zeigt - bestens.) Mit dem Produktions- und Leistungsdruck des Arbeitslebens umzugehen, Fähigkeiten zu entwickeln, die den betrieblichen Anforderungen entsprechen, sich für einen künftigen Arbeitsplatz zu empfehlen, …das gelingt den Azubis meist nur über Betriebspraktika und betriebliche Ausbildungsabschnitte. …und erfordert die Bereitschaft der betrieblichen Ausbilder/innen und ihrer Chefs zur Kooperation, nicht zuletzt aber auch ihr Wissen um die IB-Zielgruppen. Dass dazu die Brücken geschlagen werden, dafür sorgen IB-Ausbilder/innen seit vielen Jahren vielfach als Mitglieder von Innungen und Prüfungsausschüssen, ebenso wie das Bildungszentrum als Veranstalter von Fachgesprächen zu Fragen der arbeitsweltbezogenen Ausrichtung der Reha-Ausbildung – nicht zuletzt auch als Initiator für bedarfsorientierte Modelle der Ausbildungskooperation mit Industrie und Handwerk.

So wurde 2005 im Austausch mit der IHK und einer Reihe regionaler Betriebe für die Zielgruppe bildungsschwächerer Schulabgänger/innen das Verbundmodell „Ausbildung zum/zur Maschinen- und Anlagenführerin“ entwickelt, bei dem der Träger neben der Gesamtorganisation die Durchführung der in kleineren Betrieben nicht machbaren berufspraktischen Grundbildung übernimmt sowie in Kooperation mit der Georg-Kerschensteiner-Schule Müllheim durch zusätzlichen Stütz- und Förderunterricht für die erfolgreiche Vermittlung der theoretischen Inhalte sorgt.

In enger Abstimmung und mit Unterstützung der IHK konnten seit Projektbeginn bis jetzt 64 Azubis aus insgesamt 31 Firmen zum Maschinen-Anlagenführer ausgebildet werden, bzw. sind noch in Ausbildung.

Zweites Beispiel: Grenzüberschreitende Kooperation mit französischen Partnern der Bildungs- und Integrationsarbeit

Dass der Blick zum (europäischen) Nachbarn nicht nur Visionen des anders und evtl. besser Machbaren eröffnen kann ( Stichwort „Good practice“ ), sondern über die zielgerichtete Kooperation Potenziale zur gemeinsamen Entwicklung neuer Modelle und Ideen auszulösen vermag, zeigt das seit 2 Jahren laufende von der EU geförderte Interreg-Projekt DemeTHer (nach der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit), in das der IB Freiburg als eine von fünf Partnerorganisationen involviert ist.

Ziel ist auch hier die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe, genauer: Durch ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen auf beiden Seiten des Rheins sollen Jugendliche und Erwachsene mit Vermittlungshemmnissen wie Langzeitarbeitslosigkeit, Behinderung oder anderen Handicaps dabei zu unterstützt werden, Arbeitsplätze in Unternehmen des Landwirtschafts- und Gartenbaubereichs zu erreichen. Insbesondere den Workshops der am Austausch beteiligten pädagogischen Fachkräfte sowie der Unterstützung durch die Fachverbände sowie die zuständigen Genehmigungsbehörden ist es zu verdanken, dass diese binationaler Kooperation innerhalb erstaunlich kurzer Zeit eine Reihe vorzeigbarer Ergebnisse realisieren konnte:

So sind auf der Basis ausgewählter Inhalte von Ausbildungsberufen der Felder Gartenbau und Landwirtschaft standardisierte Curricula der beruflichen Teilqualifizierung entwickelt und erprobt worden, die zu offiziellen deutsch-französischen Abschlussprüfungen und -zertifikaten führen.

Über30 Teilnehmende haben inzwischen Lehrgänge wie „Umgehen mit der Motorsense“, „Verlegen von Betonpflastersteinen“ und „Arbeiten mit Sitzrasenmähern“ besucht und erfolgreich abgeschlossen, unter ihnen geistig behinderte Mitarbeiter/innen des Projekts „Grüne Hand“ der Albert-Schweitzer-Werkstätten Offenburg.

Zur zielgruppenspezifischen Stoffvermittlung sind dabei für jeden der Lehrgänge digitale Unterrichtshilfen entstanden, die mit hohem Bildanteil die relevanten Arbeitsschritte erläutern.

Für Jugendliche und Erwachsene, die einer Regelausbildung – auch auf der Fachwerker-Ebene - nicht gewachsen wären, eröffnen diese „Qualifizierungsbausteine“ - insbesondere im Rahmen berufsvorbereitender Bildungsmaßnahmen – gute Chancen, berufliche Fähigkeiten zu erwerben, die in Gartenbau und Landwirtschaft gebraucht werden.

Auf der anderen Seite sind die Absolvent/innen allerdings auch auf Betriebe angewiesen, die ihnen diese Chancen bieten. Hier ist nach wie vor Sensibilisierung und politisches Handeln gefragt.

Einen erfolgversprechenden politischen Weg zur Integration zeigt die Struktur der öffentlichen Auftragsvergabe beim französischen Nachbarn, die Unternehmen bevorzugt, die nachweislich Menschen mit Benachteiligungen beschäftigen. Hierüber sollten wir auch in Deutschland genauer nachdenken.

Die Aufzählung der Kooperationen des IB-Bildungszentrums, ihrer Partner und Ergebnisse ließe sich mit Stichworten wie „Netzwerk Schule-Ausbildung“, „Koordinationskreis Jugendberufshilfe“, „Konzeptentwicklung und Fachkräfteaustausch im Rahmen von Trägergemeinschaften“ etc. fortsetzen. Diese gelebten Kooperationen müssen verstärkt und mit vielen innovativen Ideen angereichert werden.

Gibt es einen Dank für Sisyphos' Arbeit?

Wenn wir diese vier absehbaren, politisch unstrittigen Zukunftsaufgaben Ernst nehmen, ist die Antwort auf die Eingangsfrage: Was also ist Bildung und Erziehung für morgen? relativ einfach. Die Philosophin Martha Nussbaum sagt: Education is cultivating humanity[7]. Humanity bedeutet beides: die Menschheit und Menschlichkeit; cultivating hat einen klaren landwirtschaftlichen Beiklang: wie ein guter Wein gepflegt wird, so soll das mit den jungen Menschen geschehen. Das einfache, aber um mit Bertold Brecht zu sprechen, schwer zu machende Ziel: Entfaltung menschliches Gedeihens. Das Wort Rehabilitation, abgeleitet aus dem Lateinischen habilis passend, tauglich, fähig und habitare lat. Wohnen, häuslich werden, sich niederlassen stellt eine gelungene Klammer zweier Leitbegriffe des Gedeihens dar, um die es geht: Nur der, dem die Werkzeuge an die Hand gegeben werden, aus seinen Befähigungen, seinen Potentialen, seinen Kompetenzen, seinen Träumen und seinen Hoffnungen etwas für sich Passendes machen zu können, kann in sich wohnen, häuslich werden und sich in der menschlichen Gesellschaft niederlassen. Er kann nur dann zum tätig werdenden Mitglied einer Globalgesellschaft werden, wenn er sich als Teil einer solidarischen Welt erfahren hat, die ihm zur Seite gesprungen ist, als er in Not war. Nur dann wird er die Leuchtkraft einer Human- und Zivilgesellschaft weitertragen.

Viele von uns in diesem Feld fragen sich: Und wo bleibt der gesellschaftliche Dank für diese Kärrner-Arbeit? Dazu komme ich zurück auf den Satz von Albert Camus in “Der Mythos von Sisyphos”: “Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“.[8] Ich sagte, ich fand diesen Satz merkwürdig, bis mir vor einigen Jahren die Autobiographie der algerischen Kindheit Albert Camus Camus in die Hände fiel, die man als Manuskript im zertrümmerten Fahrzeug fand, in dem er 1960 bei einem Autounfall in Frankreich starb. Erst 1994 wagte seine Witwe, das Manuskript der Öffentlichkeit preiszugeben. Es handelt sich um ein bewegendes, intimes Selbstzeugnis des ansonsten eher diskreten und publikumsscheuen Autors mit dem Titel: „Der erste Mensch“. (9) Der erste Mensch war für Camus ein Erzieher, Mr. Bernard, der in einem bestimmten Moment sein ganzes Gewicht (auch als Mann) einsetzte, um das Schicksal dieses Straßenkindes zu ändern und er hat es tatsächlich geändert. Er hatte den jungen Camus nämlich gegen den erklärten Willen der Großmutter und der Mutter für die Aufnahme ins Lycee von Algier und für ein Stipendium vorgeschlagen, ein gewagter Schritt für einen Jungen aus dem Armenviertel. 34 Jahre später erhielt dieser Junge - als einer der jüngsten Preisträger überhaupt, den Nobelpreis für Literatur. Wenige Tage vor der Preisverleihung, am 19. November 1957, schrieb Camus an Germain Louis (der Mr. Bernard im Roman):

„Ohne Sie, ohne ihre liebevolle Hand, die sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne ihre Unterweisung und ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, ihnen zu sagen, was sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme sie von ganzem Herzen. Albert Camus“. (S. 376)

Germain Louis schrieb am 30. 4. 1959 zurück:

„Mein lieber Kleiner,
Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: Das Recht, seine Wahrheit zu suchen. Ich habe euch alle geliebt und glaube mein Möglichstes getan zu haben, nicht meine Ideen zu äußern, und so eure junge Intelligenz zu belasten, sondern euch selbst werden zu lassen.... Ich habe die ständig anwachsende Liste deiner Werke gesehen, und ich kann mit großer Genugtuung feststellen, dass dein Ruhm dir nicht zu Kopf gestiegen ist. Du bist Camus geblieben. Bravo.“(S. 379)

Ich wünsche Ihnen allen hier Tätigen von ganzem Herzen, dass sie in den nächsten 25 Jahren einmal einen solchen Briefwechsel führen dürfen.


 Anmerkungen

[1]  Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung: Thematische Studie über politische Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche, Bericht unter: http://ec.europa.eu/employment_social/social_inclusion/docs/youth_leaflet_de.pdf 
[2]  Blickpunkt Berufsbildung Deutschland, CEDEFOP 2007 
[3]  Hildegard Macha: Bildung. In: Werner Wiater (Hrsg.): Kompetenzerwerb in der Schule von morgen. Fachdidaktische und erziehungswissenschaftliche Aspekte eines nachhaltigen Lernens, Donauwörth 2001, S. 188-206; 188. 
[4]   „Bildung im weitesten Sinn (Unterricht wie Erziehung in sich begreifend) ist Formung der Seele durch die Mittel der umgebenden objektiven Kultur." G. Kerschensteiner: Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgen für die Schulorganisation (1917), hrsg. v. Manfred Eckert, Heinsberg 1999, S. 47. 
[5]  Vgl. dazu Hartmut v. Hentig: Bildung. Ein Essay, Weinheim und Basel 1999, S. 17f. 
[6]   Vgl. Macha, a.a.O., S. 190 
[7]  Vgl. M. Nussbaum: Cultivating Humanity, 1997. 
[8]  Unter dem Zeichen der Freiheit, ro-ro-ro 1997, S. 84 
[9]  Albert Camus: Der erste Mensch, Hamburg 1995