Ich weiß, was du '68 getan hast –
Interview mit Bernd Hainmüller
Bernd Hainmüller
Am 11. Januar 2019 fand im kleinen Haus des Freiburger Theaters die Uraufführung des neuen Stückes der Theatergruppe „Die Methusalems“ statt: Ich weiß, was du ´68 getan hast. Für das Programmheft führte die Dramaturgin Tamina Theiß ein Gespräch mit mir über die Zeit. Hier der Wortlaut.
1968 in Freiburg – ein Interview mit Bernd Hainmüller
Dr. Bernd Hainmüller ist Soziologe, Erziehungswissenschaftler sowie Grund- und Hauptschullehrer, Lehrerausbilder und Stadthistoriker. Seit 2015 engagieren er und seine Frau Hiltrud sich aktiv in der Arbeit mit Flüchtlingsklassen. Zahlreiche Artikel zu den Fahrpreisprotesten 1968, der Rolle des SDS, zum Nationalsozialismus in Freiburg sowie Erfahrungsberichte über den (Ethik-)Unterricht und über Kunstprojekte in Flüchtlingsklassen finden sich auf seiner Homepage hainmueller.de.
Tamina Theiß: Herr Hainmüller, Sie haben das Jahr 1968, wie auch viele der Spieler_innen der methusalems, selber in Freiburg erlebt. – Was haben Sie persönlich 1968 getan?
Bernd Hainmüller: Ich habe mich an der Universität Freiburg im Wintersemester 1967 in den Magisterkurs für die Fächer Soziologie und Politische Wissenschaften eingeschrieben. Diese beiden Fächer haben mich am meisten interessiert, weil ich mit der politischen Situation in der Bundesrepublik mehr als unzufrieden war. Als am 2. Juni 1967, das war kurz vor meinem Abitur, Benno Ohnesorg in Berlin anlässlich des Besuchs des persischen Schahs von einem Polizisten erschossen wurde, war das Fass politischer Enthaltsamkeit für mich bereits am Überlaufen. Ich habe dann bei der Abiturfeier des Gymnasiums in Baden-Baden die öffentliche Hetze gegen die hauptsächlich studentische Opposition angeklagt. Das war meinen Eltern, den Geschwistern und der Schuldirektion mehr als unangenehm. Von daher war mein Studienwunsch, egal ob es da später Berufsaussichten gab oder nicht, ziemlich klar: Ich wollte mich einmischen, raus aus diesem unerträglichen Spießertum der Adenauer-Zeit, diesem Verdrängen der Fragen, was unsere Eltern im Dritten Reich getan haben, der verlogenen Sexualmoral und mit welchen Maßnahmen die Bundesrepublik den Vietnam-Krieg der Amerikaner unterstützt haben. Ich hätte damals fast alles studieren können, der Numerus Clausus für die meisten Fächer war praktisch nicht existent. Zum Ende des Wintersemesters 1967 waren dann die Fahrpreisproteste in Freiburg ab dem 1. Februar 1968 für mich das Ventil, diese Wut über die bestehenden Verhältnisse rauszulassen.
Tamina Theiß: Bei einem weltweiten Phänomen wie den Protestbewegungen von 1968 erscheint es ja schon fast pittoresk, auf eine Stadt wie Freiburg zu schauen ... Sie galt ja, damals wie heute, als eine eher beschauliche, wohlhabende und sehr lebenswerte deutsche Stadt. Und dann entstanden plötzlich, ausgelöst von eigentlich recht harmlosen Gruppierungen (der Sozialistischen Schülergewerkschaft – SSG – und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund – SDS) Aufstände, die bis in die internationalen Medien hinein für Schlagzeilen sorgten. Was war da, aus Ihrer Sicht, passiert in Freiburg? Gibt es Ihres Erachtens, spezielle regionale Gründe für das Ausmaß der Proteste – und der Reaktionen durch die Landesregierung?
Bernd Hainmüller: Freiburg war für mich damals zunächst einmal weit genug weg von Baden-Baden – diesem Ort der Millionäre, der Spielbank, des Kurhauses und der gefeierten Besuche der saudischen Königsfamilie. Aber hineingeraten in die Proteste bin ich durch Zufall, als ich das Flugblatt der Schüler mit der Aufforderung las, um 13 Uhr zum Bertoldsbrunnen zu kommen. Freiburg wurde damit wirklich aus seiner Ruhe aufgeschreckt. Wir wussten am Anfang ja nicht einmal, was zu tun war: Vielleicht 1.000 Schüler_innen und Studierende standen am Bertoldsbrunnen herum, bis einzelne anfingen, sich zuerst auf die Straße zu setzen und dann bei Grün über die vier Ampeln zu laufen, immer im Kreis herum, bis weder Autos noch die Straßenbahn die Kaiser- Joseph-Straße mehr passieren konnten. Durch diesen ersten friedlichen Protest zeigten wir der Stadt, dass es um mehr als 10 Pfennig Erhöhung der Fahrpreise ging.
Das hat die Stadtverwaltung erst spät begriffen, nachdem alle Reden des Bürgermeisters Eugen Keidel und des ASTA- Vorsitzenden zum Heimgehen nicht gefruchtet hatten. Am nächsten Tag um 13 Uhr waren noch mehr Leute da, spontan und unorganisiert, die einfach auf der Straße saßen. Am vierten Tag verlor die Stadt dann die Geduld und setzte auf Härte im Umgang mit uns. Zuvor hatte man den als „liberal“ geltenden Polizeipräsidenten Albert Maier abgesetzt und einen Hardliner aus Konstanz eingesetzt. Dies geschah vermutlich auf Druck der Landesregierung des Alt-Nazis Hans Filbinger, die das Freiburger „Spektakel“ wie sie es im Dritten Reich gelernt hatten, endgültig beenden wollte. Jetzt gab es erste Verhaftungen und als Höhepunkt dann den ersten Einsatz von Wasserwerfern in Baden- Württemberg, untermalt von einer Schlagstockorgie der Polizei mit vielen Verletzten.
Anschließend wurde behauptet, wir hätten Schaufensterscheiben entlang der Kaiser- Joseph-Straße eingeschlagen, obwohl es die Wasserwerfer waren, mit denen die Besatzung nicht hatte üben können, weil sie frisch vom Daimler-Benz-Werk in Gaggenau geliefert worden waren. Für mich und viele Demonstranten war es unglaublich und unvorstellbar, wie man die Proteste beenden wollte: mit nackter Gewalt. Das hatten wir nicht erwartet und das machte uns noch wütender als vorher. Welche Arroganz der Staatsmacht! Das Mäntelchen der „demokratischen“ Bundesrepublik war wie weggeflogen und die alte Fratze der Nazidiktatur, über die nicht gesprochen werden durfte, wieder präsent.
Tamina Theiß: Würden Sie sagen, dass man Freiburg als ein exemplarisches Beispiel für die Umwälzungen der 68er-Bewegung verstehen kann?
Bernd Hainmüller: Exemplarisch für die Stadt Freiburg sicherlich, für die Bundesrepublik aber nicht. Es hatte Demonstrationen und Blockaden gegen Fahrpreiserhöhungen ja auch schon vorher in Bremen gegeben. Im Unterschied zu Berlin, Frankfurt oder Heidelberg lag die Freiburger Universität in einem politischen Tiefschlaf. Der SDS, in diesen Städten eine Triebfeder der Proteste 1967/68, war in Freiburg ein Trupp von ca. 20 Personen, die überwiegend über Alternativen diskutierten, theoretisch, aber nie praktisch. Das war vielen nun nicht mehr genug. Erst durch die Wut auf die Reaktionen der Stadt und der Landesregierung bei den Fahrpreisprotesten kamen viele junge Leute in den „Jour fixe“ des SDS montags in die Alte Uni oder trafen sich im Republikanischen Club am Bahnhof.
Sie bildeten den harten Kern von allem, was dann folgte: Rektoratsbesetzung, Uni-Streiks, Blockaden und Sprengungen von Lehrveranstaltungen, Störungen der Grundordnungsversammlung und so fort. Besonders an der Situation in Freiburg war vielleicht, dass sich unter diesem harten Kern auch viele Lehrlinge aus Gewerkschaftsgruppen befanden, die ihren Protest in die Betriebe tragen wollten. Um den SDS herum – der nie mehr als eine kleine, feine Minderheit auch im Studentenparlament war – bildeten sich auch viele Subkulturen wie die Leute vom „Libro Libre“, dem ersten linken Buchladen in Freiburg (später und heute noch Jos Fritz-Buchhandlung), die ersten Wohngemeinschaften am Schlossbergring und in der Immentalstrasse 11, die ersten Frauengruppen und Kinderläden – insgesamt eine sehr bunte politische Mischung, die weit über die selbsternannten Führungsansprüche des SDS hinausreichte.
Diese Mischung war die entscheidende Grundlage für die späteren bundesweit bekannt gewordenen Hausbesetzungen, die Kämpfe um ein autonomes Jugendzentrum (Crash) und die Kämpfe gegen das Kernkraftwerk in Wyhl, aus denen dann die Grünen hervorgingen. Der SDS, der sich schon im März 1970 selbst aufgelöst hatte, war da bereits Geschichte und wurde abgelöst von den diversen kommunistischen Gruppen, die es in Freiburg in derselben Konstellation wie im Rest der Republik gab. Das „rote Jahrzehnt“ der K-Gruppen als Fortsetzung der 68er Proteste hatte aber außer vielfältiger Sektiererei keinen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung (außer solchen Erscheinungen wie die, dass auch der jetzige Ministerpräsident von Baden Württemberg einmal Mitglied einer K-Gruppe war).
Tamina Theiß: Gab es bei den Protestbewegungen in Freiburg Verbindungen in die nahegelegene Schweiz oder nach Frankreich, bzw. einen Austausch mit anderen Städten?
Bernd Hainmüller: Außer im Mai 1968, als es in Frankreich zu einer landesweiten Protestbewegung kam, die fast den Sturz des Staatspräsidenten General de Gaulle herbeigeführt hätte, gab es wenige Verbindungen zu ausländischen Organisationen. Im Mai 68 gab es aber starke Solidaritätsbekundungen mit Paris und in abgemilderter Form auch Solidarität mit dem Prager Frühling im Frühjahr 1968, als die Truppen des Warschauer Paktes die dortige Reformregierung von Alexander Dub?ek niederwalzten.
Und immerhin führten wir anlässlich der Rektoratsbesetzung 1969 auf Kosten des Rektors ein Telefonat mit Studentenvertretern des amerikanischen SDS an der Universität Berkeley, Kalifornien. Die Schweiz kam erst sehr viel später bei den Protesten gegen die Atomkraftwerke (Beznau, Gösgen, Fessenheim, Wyhl) in den Blick. Eine Besonderheit in Freiburg bildeten vielleicht die Gruppierungen der Palästinenser, die für die Befreiung ihres Landes kämpften. Der internationale Aspekt der Proteste war aber 1968/1969 in Freiburg noch wenig präsent, abgesehen von einigen Hilfestellungen für amerikanische GIs, die sich auf dem Weg nach Vietnam von der Rhein-Main-Airbase in Frankfurt abgesetzt hatten und die wir ins neutrale Schweden begleiteten.
Tamina Theiß: Was, würden Sie aus heutiger Perspektive sagen, waren die entscheidendsten Veränderungen, die die Protestbewegung in Freiburg für die Stadt und ihre Gesellschaft bewirkt haben? Und wie bewerten Sie diese, gerade vor dem Hintergrund von Willkommenskultur, Umweltschutz und Integration heute?
Bernd Hainmüller: Bei Fragen der Ökologie war Freiburg zweifellos ein bundesweiter Vorreiter. Das ÖKO-Institut ist hier gegründet worden, die ersten Solaranlagen Deutschlands wurden hier installiert, es gab durch den einzig erfolgreichen Aufstand gegen die Atomindustrie beim geplanten AKW in Wyhl viele Leuchttürme einer gesellschaftspolitischen Erneuerung in Sachen Energie. Das war vielleicht die folgenreichste Frucht der Proteste von 1968 in Freiburg.
Die Fortschritte der Frauenemanzipation seither kann man sicher nicht dazurechnen. Der SDS war ein „Männerverein“, in dem Frauen das Kaffeekochen beherrschen mussten. Die anti-autoritären Kinderläden Freiburgs kann man vielleicht als den Versuch sehen, aus dem staatsbürokratischen Bildungswesen auszusteigen, was letztlich aber zu einem enormen Anwachsen von Privatschulinitiativen führte, die zwar den Staatsschulen viele Schüler_innen entführte, aber letztlich nicht eine Reformation der staatlichen Schulpolitik zur Folge hatte, wie es anfangs gedacht war. Insofern sind die durch die 68er Proteste ausgelösten Veränderungen der Gesellschaft deutlich geringer ausgefallen, als wir uns das damals erhofft hatten. Geschuldet ist dies wohl der Tatsache, dass Freiburg immer ein Verwaltungszentrum war, ohne große herkömmliche Industrieanteile, aber mit einem verhältnismäßig hohen Anteil von Studierenden und Akademikern in Freiburg. Wo sonst – außer in Freiburg – hätte man einen ersten grünen Oberbürgermeister direkt gewählt? Und diesen dann wieder bewusst abgewählt?
Man kann daher zusammenfassend Freiburg durchaus als „offene Stadt“ bezeichnen, die durch die 68er Proteste eine Türbreite offener und liberaler geworden ist. Eine Nachwirkung der durch die Proteste 1968 einsetzenden insgesamt (noch) liberalen Stimmung in der Stadt zeigt sich bis heute im Umgang mit der Flüchtlingsfrage, die trotz furchtbarer Ereignisse nicht dazu geführt hat, dass rechtspopulistische und rechtsradikale Aufwiegler hier ein Betätigungsfeld finden. Meine Frau und ich haben in den letzten Jahren Flüchtlingsklassen unterrichtet. Viele, vor allem jesidische Schüler aus dem Nordirak haben in Freiburg die Vorzüge einer offenen Stadt kennen und schätzen gelernt. Insofern schließt sich der Kreis des Engagements von 1968 für mich. Ich finde gerade die Gründung einer Stiftung für ausländische Studierende durch die Familie Ladenburger, die ihre Tochter auf schreckliche Weise durch einen Flüchtling verloren hat, ein starkes „Freiburger“ Signal, dass es auch anders geht, als Flüchtlinge durch die Straßen zu jagen. Hoffen wir, dass es so bleibt. Dann hätten die Proteste von 1968 wenigstens hier einen fortwirkenden politischen Tiefgang ausgelöst, den man der bundesdeutschen Politik insgesamt nur wünschen kann.
Originalaufnahmen (private Bilder) des Protests gegen die Fahrpreise 1968 von Rainer Lehmann
2018 hat sich die Studentenbewegung von ’68 zum fünfzigsten Mal gejährt. In einem von Prof. Dr. Ulrich Bröckling (Institut für Soziologie) und Prof. Dr. Sylvia Paletschek (Historisches Seminar) geleiteten Lehrforschungsprojekt haben Studierende die Protestereignisse in Freiburg, ihre nationalen und internationalen Kontexte, die Ziele, Organisationsformen und Dynamiken der Studentenbewegung, deren Vorstellungen zum Umbau von Universität und Gesellschaft sowie das Erbe von ’68 in der politischen Kultur der Bundesrepublik untersucht. Auf der Grundlage von Archivrecherchen, der Auseinandersetzung mit Filmen, aber auch zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeug*innen präsentiert die vorliegende Dokumentation ein umfassendes Bild jener Zeit des Umbruchs in Freiburg.
Link: https://unicross-crossmedia.uni-freiburg.de/index.php/68er-crossmedia-seminar/