StartseitePublikationenBernd HainmüllerHeiner Bieg – Eine Nazi-Karriere

Heiner Bieg

Eine Nazi-Karriere in Freiburg und in der Schweiz als Jugendverführer

Bernd Hainmüller

Heiner Bieg, Bannführer der Hitlerjugend Bann 113 als "Chef des Generalstabs" beim Kriegsspiel 1938.Abb. 1: Heiner Bieg, Bannführer der Hitlerjugend Bann 113 als "Chef des Generalstabs" beim Kriegsspiel 1938.

Kaum einer der Freiburger Funktionäre der Nationalsozialisten hat ähnliche Karrierehöhen erklommen wie er – und kaum einer hat so viele junge Menschen für den Krieg erzogen, geformt und dafür gesorgt, dass sie als sinnloses Kanonenfutter geopfert wurden. Das Besondere an der Person Bieg ist darüber hinaus, dass er diese Arbeit nicht nur in Freiburg, sondern auch in der neutralen Schweiz so effektiv wie möglich durchführte und nach Kriegsende relativ unbeschadet in das Zivilleben zurückkehrte. Wie war das möglich?

Ein Nazi der „frühen Stunde“

Heinrich Max Georg Bieg – Rufname Heiner – wurde am 1. April 1912 in Villingen geboren. In Villingen besuchte er die Volksschule. 1924 zog die Familie nach Freiburg, wo Bieg nach dem Besuch der höheren Handelsschule von 1927 bis 1930 eine kaufmännische Lehre in der »Freiburger Bücherstube« am Siegesdenkmal absolvierte. Er war in dieser Zeit zunächst bei der Bündischen Jugend, den »Fahrenden Gesellen« aktiv, wo er erste Erfahrungen mit Jugendarbeit sammelte. Mit dem Umzug der Eltern nach Bad Krozingen im Jahre 1930, wo diese einen Geflügelhof betrieben, begann sein politischer Aufstieg innerhalb der NSDAP, der ihn weit nach oben bringen sollte. Bieg war 1930 in Freiburg in die NSDAP eingetreten (Mitgliedsnummer 287964) und baute nun als »Parteisoldat« eigenständig die Ortsgruppe Bad Krozingen der HJ auf, zunächst als Scharführer.

Nach der »Machtergreifung«, jetzt schon im Range eines Gefolgschaftsführers, erhielt der arbeitslose Bieg – der Geflügelhof seiner Eltern war nach kurzer Zeit Pleite gegangen – nach einigen Aushilfstätigkeiten für seine Verdienste beim Aufbau der HJ in Bad Krozingen die Chance zu einer Karriere innerhalb der Partei als hauptamtlicher Funktionär, die er konsequent nutzte. Im Januar 1936 wurde er nach Karlsruhe als stellvertretender Personalamtsleiter der HJ, Gebietsführung Baden, berufen.

Eine seiner ersten Dienstreisen führte ihn nach Freiburg, wo er zuvor schon ehrenamtlich als Unterbannführer, zuständig für die Markgräfler HJ, tätig gewesen war. Der Grund dieser Dienstreise war delikater Natur: In der Freiburger HJ Führung hatte sich ein Personenkarussell in Gang gesetzt, bei dem sich die Bannführer in kurzen Zeitabständen ablösten. Einer war »wegen homosexueller Tendenzen« abgesetzt, der nächste nach Baden-Baden abberufen worden, der dritte gesundheitlich angeschlagen. Dadurch kam die von der Gauleitung geplante Einführung des „HJ-Streifendienstes“ in Freiburg nur zögerlich voran. Der „HJ-Streifendienst“ war eine Art Jugendpolizei und arbeitete dabei eng mit der SS und der Polizei zusammen.

Bieg erhielt den Auftrag, den „Streifendienst“ endlich in Gang zu setzen, was ihm gelang. Im April 1937 wurde er als Bannführer der 113er berufen, er kam so zurück in seinen alten Wirkungskreis. Kurz zuvor hatte Bieg erstmals an einer achtwöchigen Wehrmachtsübung teilgenommen. Hier entstand wohl in seinem Kopf die Idee, mit einem Großgeländespiel die Freiburger Jugend in ähnlicher Art und Weise auf den Krieg vorzubereiten, was er im Juli 1938 erstmals mit insgesamt über 1. 200 Freiburger HJ-Mitgliedern gegen rund 300 Baden-Badener HJ-Mitgliedern umsetzte. Geht man allein von dem nur spärlich überlieferten Schriftwechsel zwischen der Stadtverwaltung Freiburg und der HJ aus, zeigt sich ein unübersehbarer Unterschied zwischen der HJ-Führung vor und nach Biegs Amtsantritt: Der Ton gegenüber der Stadt – insbesondere gegenüber OB Kerber und dem Stadtkämmerer Schlatterer – wurde deutlich schärfer.

Biegs Argumentation in der Korrespondenz: Die Rolle der HJ sei seitens der Partei-genossen in der Stadtverwaltung bisher nicht genügend gewürdigt worden. Es komme jetzt darauf an, die HJ in Freiburg zur Speerspitze der „Jugendrevolution“ zu machen, die die katholischen Jugendgruppen in die Knie zwingen werde. Er forderte deshalb von der Freiburger Stadtverwaltung eine intensivere Unterstützung in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Im Stadtbild war die HJ nun bei nahezu allen öffentlichen Auftritten wie Gedenktagen, Aufmärschen, Empfängen und Jugendbegegnungen immer häufiger präsent. Bieg selbst wird von damaligen Hitler-Jungen als «sympathisch» geschildert, er habe «zündend sprechen» können, «ein Herz für die Jugend gehabt», sei «kein Fanatiker» gewesen. Gegner des NS-Regimes hielten ihn allerdings für einen „bornierten Nazi“, als aufgeblasen, großspurig und hemdsärmelig.

Die Hitlerjugend zur Speerspitze der Jugend ausbauen

Sein Ziel in Freiburg war es, die Freiburger Jugend zur Speerspitze der nationalsozialistischen Bewegung zu machen. Eine seiner ersten Bewährungsproben davon legte Bieg ab, als die NSDAP-Kreisleitung eine Schmutzkampagne gegen die Katholische Kirche – im Sprachgebrauch »die Pfaffen« - inszenierte, die er mit der HJ durch Aufmärsche vor die Wohnungen des Domkapitels in der Herrenstraße lautstark unterstützte. Seine „Jungs“ schrien Beifall, als am 26. August 1938 bei einer Kundgebung vor dem Erzbischöflichen Palais am Münsterplatz der NSDAP- Kreisleiter Fritsch Erzbischof Gröber und Bischof Sproll (der aus der Diözese Rottenburg hatte fliehen müssen) öffentlich als »Schweinehunde« und »Lumpen« titulierte, die aus der Stadt entfernt werden müssten. Die öffentliche Krawall-Kultur der Hitlerjugend setzte auch die Freiburger Stadtverwaltung unter Druck, die nicht unter allen Umständen die in Freiburg stark verwurzelten Katholiken gegen sich einnehmen wollte. Darauf nahm Bieg keinerlei Rücksicht. Er hatte als Freiburger Bannführer des Bannes 113 vier klare Ziele:

  • Drastische Erhöhung der finanziellen Zuschüsse der Stadt für die HJ-Arbeit. Das erreichte er schnell. Gab die Stadt für die Zeltlager der HJ 1936/37 nur einen Zuschuss von 50 Pfennigen pro Teilnehmer (Kerber: »Das ist nicht Aufgabe der Stadt«), erhöhte sich dieser Zuschuss bis zum Geländespiel 1938 auf 1,50 Reichs-mark pro Person, d. h. dreimal so viel wie vorher.
  • Er drängte darauf, dass feste finanzielle Zuschüsse für die HJ-Heime gegeben werden und nicht nur »gönnerhafte« Entlastungen von den lästigen Nebenkosten wie Strom und Wasser.
  • Einführung der vormilitärischen Ausbildung in der HJ und dem Jungvolk. Mit einem Führer-Erlass im Rücken zwang Bieg OB Kerber, eine Aufstellung aller von ihm benötigten „Kleinigkeiten“ für die vormilitärische Ausbildung zu akzeptieren. Die Stadt gab nun der HJ im Unterschied zu früher aus Jugendpflegemitteln jährlich 12. 000 Reichsmark für die Anschaffung von Kleinkalibergewehren plus Munition, Pappkameraden, Wurfkeulen zum Üben des Handgranatenwerfens, Zielscheiben, Schießkästen etc. Diese »Jugendpflegemittel« aus dem Stadtsäckel erhöhten sich zwischen 1937 und 1940 von null auf hundert Prozent.
  • Konsequente Nutzung des „Sponsorings“ für die HJ. Er nutzte seine Beziehungen zur örtlichen Industrie und zum Handwerk, um zusätzliche Gelder und Material für seine Vorhaben einzutreiben. Beim Großgeländespiel im Juli 1938 brachte er die Sponsoren wie die Rhodiaceta, die Handwerksinnung und die IHK dazu, 10.000 Tafeln Schokolade, 10. 000 Pack Zwieback, große Mengen von Würsten, ganze Speckseiten und als krönenden Abschluss einen Ochsen mit 18 Zentnern Lebendgewicht zu spenden. Darüber hinaus gelang es ihm, hochrangige Industrielle zur Mitarbeit im »Hohen Generalstab« des Geländespiels zu aktivieren.

OB Kerber hatte diesem massiven Druck wenig entgegenzusetzen – außer dass er sich bei den jetzt fast wöchentlich stattfindenden Aufmärschen, Appellen und Sportfesten, die Bieg organisierte, fast nie persönlich sehen ließ, sondern durch Bürgermeister Hofner oder Stadtkämmerer Schlatterer vertreten wurde. Am 2. September 1939 rückte auch Heinrich Bieg zur Wehrmacht ein. Einen Tag zuvor, am Beginn des Zweiten Weltkrieges, hatte er Hildegard Aschenbrenner geheiratet, eine Führerin im Bund deutscher Mädel (BdM). Es war die erste Kriegstrauung in Freiburg. Als Unteroffizier nahm Bieg 1940 am Frankreich-Feldzug teil. Im April 1941 wurde er auf eigenen Antrag beurlaubt, um den Freiburger HJ-Bann weiterzuführen.

Bereits im November dieses Jahres entsandte ihn dann die Reichsjugendführung in die Schweiz. Mit einem Diplomatenpass ausgestattet sollte er dort «jugendpolitisch dringende Aufgaben» wahrnehmen: Er wurde Oberbannführer der HJ und Landesjugendführer der Reichsdeutschen Jugend (RDJ) in der Schweiz, der dortigen HJ-Auslandsorganisation. Wer war diese Nazi-Organisation in der neutralen Schweiz?

„Hitlers Fünfte Kolonne – die Auslandsorganisation der NSDAP“

So nennt Historiker Volker Koop diesen bisher wenig beachteten Ableger der Nationalsozialisten in aller Welt. Die Gründung einer eigenen Auslands-Organisation innerhalb der NSDAP resultierte einerseits aus dem Anspruch der Nationalsozialisten quasi eine „Weltorganisation“ aller nationalsozialistisch gesinnten Menschen zu sein, andererseits aus der persönlichen tiefen Abneigung Hitlers gegen Diplomaten und Auswärtigem Amt. Ableger der NSDAP im Ausland gab es zwar schon ab 1928 in Brasilien, aber das waren mehr oder weniger „Stützpunkte“ überzeugter Nationalsozialisten im Ausland. Nach der Machtergreifung hingegen wurde das Stützpunktprinzip ausgeweitet auf alle Auslandsdeutschen, um diese lückenlos zu erfassen und für die nationalsozialistischen Ideen zu gewinnen.

Ab diesem Zeitpunkt gab es kaum eine Dienststelle der NSDAP oder ihrer Untergliederungen, die keine Verbindungen zu den ausserhalb des Reiches lebenden „Blutsbrüdern“ und Sympathisanten unterhielten. 1934 erhielt die Organisation ein festes Gerüst als „Auslandsorganisation der NSDAP – AO“ mit einem eigenen Gauleiter – Ernst Wilhelm Bohle – an ihrer Spitze. Im Dezember 1938 umfasste dieser „Auslandsgau“ über 580 Ortsgruppen in 82 Ländern mit ca. 51.000 Mitgliedern. Praktischerweise waren diese Ortsgruppen meistens unter dem Dach der Diplomatischen Botschaften des Deutschen Reiches im jeweiligen Gastland untergebracht und fungierten dort quasi als Vollstrecker des nationalsozialistischen Willens im jeweiligen Land gegenüber den dort lebenden Auslandsdeutschen. Wer seinen Pass verlängern wollte, musste zwar zur deutschen Botschaft, aber die Entscheidung darüber, ob er verlängert wurde, hatten letztlich die dortigen Ortsgruppenleiter der NSDAP. Sie wiederum waren die „Augen und Ohren der Partei“ im Ausland und verfügten über ein dichtes Netz von Spitzeln, Spionen und Informanten, die Berichte über eventuell missliebiges Verhalten der Auslandsdeutschen in die Heimat zurückmeldeten und entsprechende Konsequenzen veranlassen konnten (z. B. Nicht-Verlängerung der Pässe etc.).

Der neutralen Schweiz galt das ganz besondere Interesse der NSDAP-AO. Die Entsendung Biegs von Freiburg aus war insofern nahe liegend, als die HJ-Gebiete Baden, Württemberg und Tirol-Vorarlberg «Kameradschaftsländer» der Schweiz waren. In die Reichsdeutsche Jugend (RDJ) Schweiz konnten Jugendliche aufgenommen werden, die mit ihren Eltern als Auslandsdeutsche in der Schweiz lebten. Da etwa 72 000 deutsche Staatsangehörige mit ihren Kindern in der deutschsprachigen Schweiz lebten, war Biegs Aufgabenfeld klar umrissen: Möglichst viele wehrfähige Jugendliche, die aufgrund ihres Auslandsstatus nicht zur Wehrmacht eingezogen werden konnten, in möglichst großer Zahl zum freiwilligen Eintritt in die Wehrmacht zu gewinnen. Die RDJ hatte 1939 lediglich 584 Mitglieder - bei Kriegsende betrug die Mitgliederzahl rund 2.000 Jungen und Mädchen – mehr als das Dreifache. Insofern hatte Bieg seinen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit erfüllt, der Kriegsmaschinerie junge Soldaten zuzuführen - aus der neutralen Schweiz.

Unter den Augen der Schweizer Behörden wird für den Krieg geprobt

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die vielfältigen Aktivitäten Heiner Biegs als Oberbannführer der HJ und Landesjugendführer der Reichsdeutschen Jugend (RDJ) in der Schweiz zwischen 1942 und dem Kriegsende in allen Einzelheiten zu schildern – in seinem Beitrag in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte, Sonderdruck Vol. 59/2009 Basel hat der Historiker Heiko Haumann (Universität Basel) unter dem Titel: „Heinrich Bieg — ein deutscher Nazi in der Schweiz“ diese ausführlich dargelegt. Hier nur in Kürze die Ergebnisse: Bieg hatte den Aufbau der RDJ gestrafft – nicht unähnlich seiner Arbeit der Straffung der Hitlerjugend Bann 113 in Freiburg. 47 «Standortführer» waren ihm in der Schweiz unterstellt — und mit diesen organisierte er viele öffentliche Auftritte, darunter Sportveranstaltungen und «Geländespiele».

Heimabende, Ausflüge und besondere Schulungslager. Hans Kaufmann, ein aus Freiburg 1938 emigrierter junger Jude, der sich in Basel ein Jahr lang verstecken musste, um nicht aus der Schweiz in die Hände der Gestapo ausgeliefert zu werden, hat einige öffentliche Auftritte der RDJ miterlebt (Hainmüller, 1990, S. 134) und sah die jungen Burschen und Mädchen noch Jahre danach vor sich: die Uniform — schwarze Hose und weißes Hemd bei den Jungen, dazu der schwarze Leibgurt, das Koppelschloss mit der Aufschrift «Blut und Ehre» und die Hakenkreuzbinde am Arm (die in geschlossenen Räumen erlaubt war - nur öffentlich getragen werden durfte sie eigentlich nicht; sie wurde aber bei Großveranstaltungen dennoch angelegt).

Dazu die Landsknechtstrommeln, Hakenkreuz- und HJ-Fahnen – Inszenierungen wie in der „Heimat“. All dies in der „neutralen Schweiz“, deren Polizeiorgane Biegs Aktivitäten zwar beobachteten und protokollierten, aber aus Staatsräson nicht einschritten, um den „großen Bruder“ nicht zu verärgern. Dabei waren Heiner Biegs Aktivitäten keineswegs harmlos. Am 4./5. April 1942, den Osterfeiertagen, fand ein Treffen der RDJ Basel auf der Jugendburg Rotberg statt, an dem 65 Teilnehmer unter der Leitung der Gruppenführer Dieter Christlein und Hans Müller «militärische Geländeübungen» durchführten. Sie pirschten sich «an feindliche Stellungen» an und kundschafteten «feindliche Standorte» aus. Neben ihren üblichen Uniformen trugen die Jugendlichen bei den Übungen noch ein kleines Messer wie ein Seitengewehr.

Das Uniformverbot wurde somit nur leicht getarnt umgangen. Die Jungsozialisten von Basel hatten das Treffen stören wollen. Dies war verhindert worden, aber um Zwischenfälle zu vermeiden, durften Schweizer Besucher während des RDJ-Treffens die Burg nicht besichtigen. Empörte Reaktionen waren die Folge. Anscheinend gab es Beschwerden, auch von Touristen und Pilgern zum Kloster Mariastein, die den Abmarsch der Deutschen «in Marschkolonne von Rotberg nach Flüh» erlebten und hören mussten, dass dabei «deutsche Marschlieder» gesungen wurden. Die Basler Polizei fasste am 9. April ihr Urteil so zusammen: „Wir sind der Meinung, dass diesem Getue nun endlich Einhalt geboten werden sollte und regen eine entsprechende Intervention des Politischen Departements bei der Deutschen Gesandtschaft an“, heißt es in einem Brief des Polizeidepartements Basel - Stadt (zitiert nach Haumann, S. 306). Landesjugend-führer Bieg musste danach einen Erlass herausgegeben, nach dem «das Singen von deutschen Kampfliedern beim Marschieren in geschlossener Formation in Ortschaften und Städten verboten» sei'' (Heiko Haumann, Seite 305/306).

Freiburg 1942 und 1944 – der Aufmarschplatz für die zukünftigen Rekruten aus der Schweiz

Der Lagereingang zum Wilhelm-Gustloff-Gedächtnislager in FreiburgAbb. 2: Der Lagereingang zum Wilhelm-Gustloff-Gedächtnislager in Freiburg

Zu dieser Zeit beschäftigte die schweizerischen Behörden bereits eine weitere Aktion Heinrich Biegs, die für ihn einen ganz besonderen Stellenwert hatte, weil sie ihn an seine frühere Wirkungsstätte zurückführte. Es handelte sich um die Organisation des «Wilhelm-Gustloff-Gedächtnislagers» vom 19. bis 30. Juli 1942 in Freiburg i. Br. Der Vorgang ist in der Freiburger NS-Geschichte bisher eher wenig beachtet worden. Bieg konnte bei der Durchführung dieses Lagers nicht nur auf seine alten Kontakte zu Freiburg zurückgreifen, sondern nutzte auch seine Erfahrungen, die er mit ähnlichen Unternehmungen seines damaligen Bannes 113 gewonnen hatte. An dem Lager im Universitätsstadion und auf den Dreisamwiesen nahmen 1275 reichsdeutsche Jugendlichen aus der Schweiz teil, allein aus Basel waren 300 Mitglieder angereist. Es war das größte Lager der auslandsdeutschen HJ im dritten Kriegsjahr. Der Name des Lagers war passend gewählt: Wilhelm Gustloff war 1936 in Davos im „Braunen Haus“ – einem der Hauptquartiere der Nationalsozialisten in der Schweiz – von dem jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter ermordet worden und galt seither als „Märtyrer“ der Bewegung. Sein «Gedächtnislager» in Freiburg war eine propagandistische Veranstaltung der Mobilisierung der deutschen Jugendlichen in der Schweiz für den bevorstehenden „Endsieg“.

Oberbannführer Bieg kündigte in einer Werbe-Broschüre den «Kameradinnen und Kameraden» an, dass viele von ihnen «zum ersten Mal den Boden ihres Vaterlandes» betreten würden. «Die Vorbereitungen, die getroffen werden, bieten die Gewähr dafür, dass dieses Lager ein gewaltiges, unvergessliches Erlebnis für jeden Teilnehmer werden wird.» Die Jugendlichen sollten in Freiburg erfahren, wie begeistert die Bevölkerung hinter dem Krieg und hinter dem Führer stand, damit sie diesen Eindruck in der Schweiz vermitteln konnten, selbst von dieser Begeisterung erfasst wurden und sich für den Kriegsdienst in der Heimat zur Verfügung stellten. Die Teilnahme war für alle RDJ-Jugendliche ab elf Jahren kostenlos, und auch das in der Broschüre vorgestellte Programm, das ein einzigartiges Gemeinschaftserlebnis versprach, dürfte als attraktiv empfunden worden sein: «ein 'freies' Leben (...) in mustergültiger Ordnung».

Schöne Fotos von früheren HJ-Lagern, von Freiburg und seiner Umgebung sowie von zerschossenen französischen Bunkern am «Westwall» verstärkten diese Wirkung. Den Eltern wurde zugesichert, dass sie sich keine Sorgen machen müssten. «Deutscher Junge und deutsches Mädel! Wer von Euch wollte zu Hause sitzen bleiben, wenn Euch die Möglichkeit geboten wird, ein Stück Eurer Heimat zu erleben und einige Tage im Lager in froher Kameradschaft zu verbringen! Jeder Junge und jedes Mädel der RDJ gehört in das Sommerlager 1942!“. Ein Merkblatt für die Ausrüstung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Sommerlager, in dem bis zum «Zahnputzzeug» alles aufgelistet war, sowie zwei «hektographierte Blätter mit Versen deutscher Lieder» zeigt die Akribie, mit der Bieg in gewohnter Weise zu Werke ging.

Die Lieder verherrlichten den Einsatz der deutschen „Legion Condor“ im Spanischen Bürgerkrieg, den Rommelfeldzug in Afrika und den Überfall auf die Sowjetunion mit großem Pathos: «Wir standen für Deutschland auf Posten und hielten die grosse Wacht. / Nun hebt sich die Sonne im Osten und ruft die Millionen zur Schlacht. / Von Finnland bis zum schwarzen Meer, / vorwärts, vorwärts! / Vorwärts nach Osten du stürmend Heer! / Freiheit das Ziel, Sieg das Panier! / Führer befiehl, wir folgen Dir! / Führer befiehl, wir folgen Dir!»

Dass diese Lieder während der Zugfahrt von der Schweiz nach Freiburg gesungen wurden, darf angenommen werden. Vor Ort in Freiburg ließ Bieg die gesamte angereiste Führungsebene der NSDAP-Auslandsorganisation die Parade der Jugendlichen im Universitätsstadion abnehmen und danach festlich bewirten - die Stadt Freiburg musste zähneknirschend bezahlen (das kennen wir schon von Bieg) — zu einer Zeit, als die Bürger sich mit rationierten Lebensmitteln zufrieden geben mussten. Das Gustloff-Lager erregte national wie international Aufsehen. Im Ausland wurde erstaunt vermerkt, dass es in der «neutralen Schweiz» eine Hitler-Jugend gab, die zu einer Zeit, als die Schweizer Grenze für Flüchtlinge hermetisch geschlossen war, im Sonderzug nach Deutschland reiste. Allerdings war dies nicht ganz reibungslos von statten gegangen. Nachdem die deutsche Seite das Aus- und Wiedereinreise-Gesuch für die RDJ-Jugendlichen gestellt hatte, verlangte die schweizerische Regierung, dass eine ähnlich große Zahl von Schweizer Jugendlichen, die im Ausland lebten, über Deutschland in die Schweiz einreisen durfte.

Dies lehnte das deutsche Auswärtige Amt ab, während die Reichsjugendführung zustimmte. Schließlich kam es zu einem Kompromiss: Die Schweiz bewilligte das deutsche Gesuch, obwohl Deutschland nur einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Schweizer Jugendlichen die Ausreise genehmigte. Für die Schweizer Seite, namentlich für den Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung Heinrich Rothmund (1888-1961), war die mögliche Einreise von 200 bis 300 jungen Schweizern, die in Deutschland wohnten, ausschlaggebend für die Genehmigung der Ausreise und Wiedereinreise der RDJler. Mit diesem Argument hatte er den Wunsch der Basler Politischen Polizei zurückgewiesen, die Aktion zu verhindern. Diese hatte befürchtet, dass «Jugendliche, die mit Schweizerkindern in die gleiche Schule gingen, in einem Sonderlager mitten in Deutschland für ihren Kampf gegen die Demokratie usw. gestählt» würden.

"Erntedankfest" für den Endsieg

Für Bieg war nach dem Ende des Lagers die erreichte Mobilisierung der deutschen Jugendlichen in der Schweiz nicht durchschlagend genug. Im - nur für den Dienstgebrauch bestimmten - «Befehlsblatt der Reichsdeutschen Jugend in der Schweiz» vom 17. September 1942 verlangte er für die Monate Oktober und November eine Werbeaktion, bei der alle Jugendliche, die noch nicht Mitglied seien, erfasst werden sollten. Zu melden seien auch diejenigen, die «der Aufforderung zum Beitritt zur RDJ keine Folge leisteten». Gleichzeitig dankte er für die «Opferspende der Auslandsdeutschen Jugend 1942» — aus der Schweiz waren 5536.55 Franken für den Endsieg überwiesen worden! — und eine neue Form der Monatsberichte vorgestellt. Großer Wert wurde auf «einen sauberen und kurzen Haarschnitt» gelegt.

Dies sei ein Zeichen «der soldatischen Haltung der Hitlerjugend» und lasse gerade im Gastland, wo ein solcher Haarschnitt nicht üblich sei, die «Deutsche Reichszugehörigkeit» zutage treten. Im Übrigen sei «das Tragen von langen Haaren (...) ein äußerliches Merkmal marxistischer Jugendverbände gewesen». Wegen der Kriegszeit dürfe kein RDJ-Mitglied «Tanzlustbarkeiten» besuchen, ausgenommen sei reiner Tanzunterricht ab vollendetem 15. Lebensjahr für Mädel und 16. für Jungen. In anderen Rundschreiben wurde genau vorgeschrieben, wie Filmabende organisiert werden müssten und wie sie den kantonalen Behörden mitzuteilen seien. In der im September 1942 versandten Oktober-Ausgabe der Broschüre «Führerdienst. Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz» verlangte Heinrich Bieg, die Schulungs-arbeit wieder aufzunehmen und beim «Dienstappell» auf die Sauberkeit des Dienstanzuges und auf den Haarschnitt zu achten.

Außerdem sei das «Kriegstagebuch der RDJ über den Dienstbetrieb des Standortes in den Monaten April—September 1942» zu verlesen sowie ein «Unterricht über die Höflichkeit der Jugend» zu erteilen. Die Kombination eines attraktiven Angebotes an Jugendspielen mit der Einübung von Symbolen der Reichszugehörigkeit sowie der Werbung für den Krieg traf zumindest 1942 noch auf fruchtbaren Boden bei den Auslandsdeutschen in der Schweiz. Das zeigte sich beim „Erntedankfest der Deutschen Kolonie“ am Sonntag, den 4. Oktober 1942, in der großen Radrennhalle in Zürich-Oerlikon. Mit 12. 000 Teilnehmern wurde es die größte Kundgebung des Auslandsdeutschtums in Europa in diesem Jahr.

Je schlechter die Kriegslage für das Deutsche Reich in den darauffolgenden Jahren wurde, desto unerbittlicher ging es Bieg jetzt darum, das Vertrauen in die nationalsozialistische Führung trotz aller Niederlagen zu erhalten. Immer häufiger stand nun die „Treue zum Führer“ im Mittelpunkt der RDJ-Veranstaltungen. Der Durchhaltewillen musste gestärkt werden. Gleichzeitig ging die Schweizer Politik jetzt zunehmend gegen die nationalsozialistischen Umtriebe vor. Als im August 1944 erneut ein Ferienlager in Freiburg i. Br organisiert werden sollte, gab es bei der Rekrutierung der Jugendlichen im Unterschied zu 1942 erste Unstimmigkeiten zwischen den Eltern und Bieg über den „Zwangscharakter“ der Sommerlager, auf die die Behörden reagierten. Einige Jugendliche wurden von ihren Eltern oder der Polizei aus dem Zug geholt. Schließlich beteiligten sich etwa 400 Jungen am Sommerlager im Schwarzwald und 200 Mädchen an einem Lager im Elsass. Der eigentliche Gegenschlag der Schweiz – besser gesagt der erste ernstzunehmende Schlag gegen Naziumtriebe überhaupt – geschah allerdings erst kurz vor Kriegsende.

Der Karrierist kommt glimpflich davon

Am 1. Mai 1945 entschloss sich der Schweizer Bundesrat endlich, die NSDAP-Landesgruppe Schweiz und die ihr angeschlossenen Organisationen aufzulösen. Es folgten Durchsuchungs- und Fahndungsaktionen sowie eine großangelegte «politische Säuberung». Am 15. Mai 1945, eine Woche nach der deutschen Kapitulation, wurde in den Räumen der RDJ eine Hausdurchsuchung durchgeführt und Bieg durch die Sicherheitspolizei Bern verhört. Bei einer Durchsicht der Effekten im Heim der Deutschen, Thunstrasse 5 in Bern, waren tausende von Achselklappen sowie weitere Uniformstücke der HJ gefunden worden, über die Bieg habe verfügen können. Erst jetzt keimte in den Schweizer Behörden der Verdacht auf, dass die Reichsdeutsche Jugend doch nicht so harmlos war, wie sie gedacht hatten.

Bei einem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Schweiz hätte die RDJ unter der Leitung von Bieg eine führende Rolle eingenommen, was die Uniformstücke der HJ deutlich belegten. Infolge dieses Verdachtes, im Falle eines Überfalls auf die Schweiz eine herausragende Rolle gehabt und diese vorbereitet zu haben, wurde Bieg aus der Schweiz ausgewiesen und am 10. Juli 1945 über die Grenze Basel-Riehen den französischen Besatzungsbehörden über-geben. Er entging einer Anklage wegen Spionage und Umsturzvorbereitungen wohl nur dadurch, dass sich keine weiteren Unterlagen der RDJ fanden. Bieg hatte sie verbrennen und in einer Papiermühle einstampfen lassen. In der Ausweisungs-Begründung heißt es lapidar: «Fanatischer Nazi, hatte Sondervollmachten aus Berlin.

Durch die gefundenen Uniformteile musste er als der Organisator und Betreuer der sogenannten 5. Kolonne angesehen werden“. Bieg war er einer von 3307 Deutschen, die bis Ende 1946 ausgewiesen und mit einem lebenslangem Betretungsverbot der Schweiz belegt wurden. Seine Ersparnisse konnte er freilich mitnehmen: Auf seinem Sparkonto befanden sich zu diesem Zeitpunkt 15. 500 Schweizer Franken –die er sich in drei Jahren Schweiz »erspart« haben wollte. Die Vermutung, dass in seinem nicht zu öffnenden Diplomatengepäck öfters neben HJ-Uniformteilen auch Nazi-Raubgold von Juden oder geraubte Kunstgegenstände befanden, die unter seiner Vermittlung Schweizer Besitzer fanden und eine ordentliche Provision abwarfen, drängt sich geradezu auf, läßt sich aber nicht belegen.

Seine Frau wurde mit den beiden Kindern und mit weiteren Mitgliedern der deutschen Kolonie im Heim »Bellevue-Speer« in Weesen/SG interniert, ihr ausgewiesener Mann hingegen in Freiburg in dem rasch errichteten Internierungs-lager in der Idingerstraße in Freiburg inhaftiert. Das Lager Idingerstrasse hieß nicht zuletzt wegen der inhaftierten hohen Nazigrößen im Volksmund bald »Fasanen-garten«. Biegs Zellenkamerad war zeitweise Hanns-Martin Schleyer (geboren 1915, ermordet 1977), der 1931 der Hitler-Jugend und noch vor Aufnahme seines Studiums in Heidelberg der SS beigetreten war, in der er bis zum Hauptsturmführer aufstieg. Er blieb ihm laut Aussagen seiner Frau Hildegard ein „lebenslanger“ Freund. Bieg saß bis circa Ende 1948 im Internierungslager. Das wissen wir aus einem Brief von Hildegard Bieg am 9. November 1948 aus Offenburg, wo sie jetzt wohnte, in dem sie sich beklagte: «Mein Mann ist noch der einzige, der aus der Schweiz ausgewiesen wurde und heute noch interniert ist.»

Da sie völlig mittellos war, griff ihr nach eigenen Angaben die katholische Familie Aschenbrenner unter die Arme – so u. a. der Onkel, Domkapitular Thomas Aschenbrenner, der ihr als Vorsitzender des katholischen Familienheimstättenverbandes eine Wohnung besorgte. Nach seiner Freilassung arbeitete Bieg dann in der Firma seines Schwiegervaters Aschenbrenner. Um 1950 herum stieg Bieg in die Firma des Schwiegervaters in Sasbach ein und fungierte von da an als Geschäftsführer der Holz- und Baustofffirma Aschenbrenner und Bieg. Am 30. August 1987 starb Bieg beim Reinigen seiner Waffe, seine Frau Hildegard Bieg am 6.Dezember 2012 in Freiburg-Littenweiler.

Die Zerstörung Freiburgs und das Verbluten seiner „Jungs“ noch in den letzten Kriegstagen hat Bieg von der sicheren Schweiz aus beobachtet. Ob er je ein Wort des Bedauerns darüber fand, wissen wir nicht.

Weitere Informationen zur Freiburger Hitlerjugend und Interviews mit Freiburger Hitlerjungen finden sich in dem Buch: Bernd Hainmüller (1998): Erst die Fehde – dann der Krieg – Jugend unterm Hakenkreuz. In den Begleitkatalog der Ausstellung zum Nationalsozialismus in Freiburg ist ein Beitrag über Heiner Bieg aufgenommen worden.

Band 6 der Reihe  "Täter-Helfer-Trittbrettfahrer" - NS-Belastete in Südbaden, hrsg. von Wolfgang Proske, der im März 2017 erscheint, enthält ebenfalls einen Artikel über Bieg. Eine öffentliche Vorführung des Bandes mit Vorträgen von Autoren (u.a. zu Bieg) findet am 7. März 2017 um 19 Uhr 30 in der Landeszentrale für politische Bildung Freiburg statt.