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Familie als Thema der Politischen Bildung

Wo bleibt das Gemeinschaftliche im Fach Gemeinschaftskunde?

Bernd Hainmüller

Theorien der Politischen Bildung sind weder aus irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin, der Politik, der Erziehungswissenschaft, der Soziologie ableitbar, noch sind sie das bloße Anhängsel einer Wissenschaft.[1] Diese Tatsache erleichtert den Zugang zu dem von mir gewählten Thema nicht gerade, denn wenn von der Familie und Gemeinschaft als Thema in der politischen Bildung die Rede ist, sind mehr oder weniger alle Fachdisziplinen tangiert. Ich versuche dennoch, mein Thema in vier Schritten zu skizzieren. Als Überschriften sind mir dazu sportliche Bewegungsabläufe eingefallen, die das Wissenschaftliche etwas auflockern sollen. Teil 1 trägt die Überschrift: Vorwärtsrolle. Eine Gemeinschaft verändert sich - und keiner weiß in welche Richtung. Dies ist ein eher familiensoziologisch ausgerichteter Teil, der einen Aufriss dessen geben soll, wie sich die „Institution“ Familie verändert hat. Teil 2 trägt die Überschrift: Rückwärtsrolle. Die Politische Bildung verliert die Veränderungen der Familie aus dem Auge - und weiß nicht genau, wo sie suchen soll. Dies ist eine fachwissenschaftlich ausgerichtete Annäherung an das Thema. Teil 3 trägt die Überschrift: Spagat. und beschäftigt sich mit der Frage, welchen Niederschlag die Ratlosigkeit der Politischen Bildung in den Lehrplänen der Sekundarstufe I hervorruft. Teil 4 ist ein Ausblick, wie mit der Klammer des „Zusammenlebens“ individualisierte und pluralisierte Lebensformen in die Politische Bildung einfließen könnten.

Schritt 1: Vorwärtsrolle

Im Spiegel 9/95 ist die Lebensgeschichte des Solinger Brandstifters Christian R. abgedruckt.[2] Sie geht so: Bei seiner Geburt 1976 hatte sich sein Vater von Christian R. bereits abgesetzt. Seine Mutter wurde mit den Kind nicht fertig: Selbst auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit bei Männern wird der Sohn zum Störenfried. Er reagiert mit wachsender Aggression. Weil seine Mutter arbeiten muss, kommt er in Pflegefamilien, die ihn meist nach kurzer Zeit aufgeben. Das Kind schlägt, tritt immer häufiger um sich, die Ausbrüche werden immer unkontrollierter. Entnervt beantragt die Mutter 1984 - das Kind ist acht Jahre alt - für ihren Jungen Heimerziehung. Das Formular gibt sie im Jugendamt ab mit den Worten: „Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren“ Christian kommt in ein Heilpädagogisches Zentrum. Den Therapeuten gelingt es, Christian zu beruhigen, die Mutter wird in die Therapie einbezogen. Nach einem Jahr scheint auch hier der Kampf verloren. Seine Mutter, von ihrem neuen Freund aufgefordert, sich zwischen ihm und dem Sohn zu wählen, entscheidet sich gegen das Kind. Christian bleibt im Heim, er wechselt in eine Wohngruppe des Kinder - und Jugendheimes Oberbieber. Ein erfahrenes Pädagogen-Ehepaar mit eigenen Kindern betreut ihn und fünf weitere Pflegekinder. Nach fünf Wochen muss der Junge die Einrichtung verlassen. Im Abschlussbericht heißt es, der Junge habe kein Gewissen. Weder konsequentes Handeln noch Güte und Zuwendung bewirken bei ihm eine Verhaltensänderung. Mit zehn kommt er in das Kölner Projekt „Fram“ nach Schweden, wo er für 15 Monate erlebnispädagogisch betreut wird. Er macht Fortschritte und soll zu seiner Mutter zurück. Doch diese fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen und bat die Jugendbehörde, ihn weiter im Heim zu belassen. „Wenn die Wunde weh tut, musst du an mich denken“- ist einer der markigsten Aussprüche des nun Elfjährigen zu seiner Betreuerin, der er in den Rücken gebissen hat. Nach vier Jahren, 15jährig, wird der Junge zu seiner Mutter und ihrem inzwischen neuen Lebensgefährten entlassen. Doch kurz bevor der Junge das Dorf verlässt, gibt es einen herben Rückschlag. Zusammen mit zwei anderen prügelt und quält er einen jüngeren, schubst ihn in einen Gully und wirft brennendes Gras auf ihn. Erst als der Junge fast erstickt ist, lassen sie ihn frei. Ein halbes Jahr später, im Mai 1993 zündet er das ihm schräg gegenüberliegende Wohnhaus der türkischen Familie Genc an, in dem fünf Menschen ums Leben kommen. Viele fragten damals: Hat die politische Bildung in der Schule versagt? 16-17-18jährige zünden Asylantenwohnheime an, werfen Molotow-Cocktails in Hauseingänge etc. - die Blutspur ist genauso lang wie unsere Verunsicherung groß.

Die Familie ist laut Grundgesetz: Artikel 6 Abs. 1- 3 eine besonders geschützte Institution der Gesellschaft. Diese Institution Familie ist heute in der politischen Öffentlichkeit einen Dauerfeuer widerstreitender Interessen, Meinungen, politischer Aussagen und Entscheidungen ausgesetzt, was eine Gemengelage hervorgerufen hat, in der sich mehr oder weniger jeder zu einem Experten in Sachen Familie ausrufen kann. Verkündet einerseits die Illustrierte Stern, die neue Familie seien die Freunde, spricht andererseits der 5. Familienbericht der Bundesregierung von der Familie als Humanvermögen der Zukunft. Das Spektrum der Kontroversen um die Familie ist weit gestreut. Es reicht von Grabreden auf die Familie (so der Soziologe Gronemeyer[3]) über das Postulat der postmodernen Familie (so der Soziologe Lüscher[4]) bis hin zur Reanimation der vermeintlich Totgesagten. [5] Neben der meist im Vordergrund stehenden Diskussion über die Richtung des Wandels der Struktur von Familienformen geht es in zweiter Linie um die Familienfunktionen, bzw. die Frage, ob diese einen Funktionsverlust oder einen Funktionswandel erleben Nach Hettlage/Wagner [6] lassen sich - analytisch wenigstens - vier Bereiche unterscheiden, in denen die Familie für die individuelle und soziale Bedürfniserfüllung fundamental ist:

  1. Die Reproduktions-
  2. die Sozialisationsfunktion
  3. die Wirtschafts- und
  4. die Solidaritätsfunktion

Je nach dem spezifischen Gesichtspunkt der Akteure rückt die eine oder andere Funktion in den Vorder- oder Hintergrund. Für die staatliche Politik - und so ist z. B. der Familienbericht auch aufgebaut- steht die „Reproduktionsfunktion“ meist an erster Stelle. Geburtsziffern sagen ja auch etwas über den allgemeinen Zustand von Familien in der Gesellschaft aus, wie ihr drastischer Rückgang in den neuen Bundesländern schlaglichtartig offengelegt hat. Für das Bildungswesen hingegen spielt daneben die „Sozialisationsfunktion“ eine entscheidende Rolle. Bei der Wirtschaft steht die Familie als „Erwerbsgemeinschaft“ im Vordergrund, und unter Hinanstellung anderer Aspekte geht es dabei um das, was die Familienberichte immer wieder als „strukturelle Rücksichtslosigkeiten“ gegenüber der Familie bezeichnen, zu denen u. a. die Frage des Familieneinkommens, des Steuerrechts, des Familienlastenausgleichs etc. gehören. Die „Solidaritätsfunktion“ klagt den Generationenvertrag ein, der so brüchig ist wie nie zuvor. Dazwischen gibt es noch eine Vielzahl bekannter und unbekannter Schnittmengen, an denen sich die Funktionsbereiche überlappen, wie die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, die Rollenverteilung der Geschlechter (Familienarbeit ist immer noch überwiegende Frauenarbeit) und einige mehr. Eine erst allmählich in den Blick geratene Schnittmenge ist die der Armut und Armutsgefährdung von Familien, insbesondere die Ein-Eltern-Familie in Form alleinerziehender Mütter (Armut ist weiblich).

Wir konzentrieren in Hinblick auf die Pädagogik und die Politische Bildung auf zwei Bereiche, denen unser Hautaugenmerk gilt: Auf den Wandel von Familienformen und - damit zusammenhängend auf die Sozialisation in Familien.

Beim Wandel der Familienformen ist die Veränderung der Institution Familie am offensichtlichsten: Ich erspare Ihnen die statistischen Angaben, denn diese geben nur einen kleinen Widerschein dessen wieder, was unter unseren Augen vorgeht. Als das Land Baden-Württemberg gegründet wurde, war die lebenslange Ehe (mit Kindern) die grundlegende normative Vorstellung vom Leben als Familie. Der Auszug junger Erwachsener war nahezu regelmäßig mit der Eheschließung und der eigenen Familiengründung verbunden. Heute könnte der Lebensweg eines (einer) jugendlichen Erwachsenen etwa so aussehen: Nach dem Auszug aus dem Elternhaus wohnt er/sie zunächst alleine, später möglicherweise in einer amtlich nicht erfassten nichtehelichen Lebensgemeinschaft, heiratet möglicherweise seinen Partner/in, weil ein Kind unterwegs ist, trennt sich nach einigen Jahren vom Partner/in, erhält nach der Scheidung das Sorgerecht (85% Mütter/15% Väter) und bringt sein/ihr Kind in eine Ehe ein, in der ebenfalls Kindern aus einer ersten Ehe leben, etc. Jeder kennt in seinem Bekanntenkreis solche „patchwork-Familien“. Tatsache ist: Rund 50% der Haushalte leben bereits ohne Kinder. Ehepaare mit einem Kind bilden rund 20% der Familien, 17% haben 2 Kinder, 7% 3 Kinder und mehr (Kinderreiche), 12 % sind Ein-Eltern-familien und das Schlusslicht bilden 1, 3 % oder 356.000 Familien, in denen noch mehrere Generationen unter einem Dach leben. [7] Im Vergleich zur Situation in den fünfziger oder 60er Jahren ergibt sich daraus ein Trend, den Ulrich Beck mit dem Satz umrissen hat: Das biographische Paket zerfällt.[8] Aus der Normalbiographie ist eine Wahl- oder Bastelbiographie geworden: Familien sind nicht mehr aus einem Guss - sie schreiben ihre je eigene Biographie - sie leben ihr je eigenes Leben im Wortsinn. Was die Soziologie konstatiert, ist ein doppelt verschränkter Prozess: Die Familienformen vervielfältigen sich und gleichzeitig individualisieren sich die Lebensformen und Lebensstile. Auf der anderen Seite konserviert sich in den betroffenen staatlichen Institutionen ein qua Verfassung fortgeschriebenes Selbstbild der alten, unveränderten Institution, das der lebensweltlichen Realität nicht mehr entspricht.

Es gibt dann Dinge, die es gar nicht ge­ben darf: Da verklagte z. B. 1990 ein unverheiratet zusammenlebendes Paar mit zwei Kindern die Deutsche Bundesbahn auf Herausgabe des verweigerten Familienpasses und wurde in erster Instanz vom Amtsge­richt Freiburg abgewiesen. Dieses verwies auf Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz, das Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, was auf diese "Nicht-Familie" nicht zuträfe.[9] Der Konflikt zwischen der Institution Familie und einer Familienwirklichkeit, die nicht mehr in die Kategorien der Institutionen passt, dürfte in Zukunft eher zu- als abnehmen. Die Individualisierung und Pluralisierung sozialer Lebens- und Familienformen treffen nämlich auch auf institutionelle Haltestellen, die auf viele rechtliche Absicherungen bisheriger Familientatbestände (z. B. das Familienrecht) verweisen können, aber im praktischen Umgang tut man sich mit diesem Wandel schwer: "Die Institution Familie ist individuumabhängig geworden, sie wird dadurch historisch brüchig und widersprüchlich.[10] Dem widerspricht auch nicht die Schätzung der amtlichen Statistik, dass etwa 80% aller Kinder bis zu ihrem 18. Lebensjahr bei ihren Eltern oder Elternteilen leben. Aus der Familie sind Familien geworden, aus Leben in der Familie ist ein Zusammenleben in vielen Familienformen geworden. Die damit einhergehende Unübersichtlichkeit trifft in erster Linie die Schulen, die hinsichtlich der zweiten wichtigen Funktion der Familie, ihrer Sozialisierungs- und Erziehungsleistung mit ihr zusammenarbeiten müssen und sollen. Auch hier scheint sich das bisher zusammengeschnürte einheitliche Paket der wechselseitigen Sozialisierungsleistungen aufzulösen: (Erledigst du deine Aufgaben - erledige ich meine Aufgaben). Die Veränderung von Familienformen verändert nicht nur die Sozialisationsleistungen, Erziehungsmaßstäbe etc., sondern bringt auch eine Inkongruenz zwischen zwei Institutionen mit sich. Die Institutionen werden asymmetrisch zueinander. Der amerikanische Soziologe Peter L. Berger hat die möglichen Folgen resümiert, die sich für beide Institutionen daraus ergeben: Verlust eines gemeinsamen Sinnzusammenhanges, eines gemeinsamen Konsenses und gemeinsamer Wertorientierungen hinsichtlich gegenseitiger Aufgaben: Institutionen sind nicht zu überspringen, ohne auch hier den Preis der Überforderung und Selbstentfremdung zu zahlen[11]. Wir haben heute viele Wahlmöglichkeiten, aber der Preis der neuen Freiheit ist hoch“. Er lautet seit Emile Dürkheim: “Anomie“.

Die Dialektik der Bildung von Institutionen, ihre sich entwickelnde Eigendynamik, die wiederum ab einem bestimmten Zeitpunkt den mit jedem Wandel verbundenen Prozess der De- oder Re- Institutionalisierung schafft, trifft die Familie und die Schule gleichermaßen - das zumindest ist tröstlich. Das im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 erstmals rechtlich zusammengefügte Institutionengebilde Familie ist zweihundert Jahre später neu zu interpretieren: Das entscheidende Kennzeichen moderner Vorgaben ist, dass das Individuum, losgelöst von den Fesseln der Tradition, frei in seinen Entscheidungen, autonom in seinen Bindungen sich jetzt aktiv selbst darum bemühen muss, Familie herzustellen, wenn es diese Lebensform für erstrebenswert hält. Aus der „Notgemeinschaft Familie“ ist eine Wahlgemeinschaft geworden. Das besagt nicht, dass die Familie als Ort der privaten Beziehungen keinen intimen verfassungsrechtlich besonders geschützten Raum au­ßerhalb der öffentlichen Sphäre haben sollte, im Gegenteil: Gegenüber einer immer noch kinder- und familienfeindlichen Umwelt müssten die Sphären des Zusammenlebens in Familien sogar erheblich besser geschützt werden. Jedoch nicht, um den institutionellen Charakter herauszukehren, sondern um die "emotionale Qualität"[12], die in diesem Zusammenleben liegt, zu schützen. Hermann Gieseke[13] sieht die Familie heute treffend als „ sozialen Heimathafen“ der nur dann funktioniert, wenn jeder immer wieder gerne nach Hause kommt: Ein sozialer Stützpunkt, deren Sinn darin besteht, dass jedes Mitglied in seiner umfassenden Menschlichkeit akzeptiert wird, so wie er ist, mit seinen Stärken und Schwächen, im Glück und Unglück. In keiner anderen öffentlichen Institution ist dies sonst möglich.

Damit komme ich zu

Teil 2: Rückwärtsrolle – die Familie in der Politischen Bildung.

Wir zählen in den Bundestagsdrucksachen den x-ten Bericht zur Lage der Nation, den x-ten Bericht der Sachverständigen zur wirtschaftlichen Lage und – auf das „und“ kommt es an, grade mal den 8. Bericht zur Lage der Jugend und den 5. Familienbericht. Seit 1965 hat man sich quasi alle 6 Jahre mit der Lage der Familie befasst. Als Leitlinien des 5. Familienberichts durchziehen unter dem Stichwort „Familienorientierung des Bildungssystems“ drei zentrale Botschaften das Kapitel „Familie und Bildung“:

  1. Die Familienorientierung des Bildungssystems ist aus der Lebensperspektive von Eltern und Kindern eine herausragende politische Aufgabe, deren Erfüllung zur strukturellen Rücksichtnahme auf die Familie wesentlich beiträgt;
  2. Wegen der immer längeren Dauer der Erstausbildung eines ständig wachsenden Teils der jungen Frauen und Männer ist die Vereinbarkeit von Elternschaft und Ausbildung ein vordringlicher Handlungsansatz, der neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einen hohen bildungs- und familienpolitischen Rang hat;
  3. Das Gelingen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in Familien und Gesellschaft setzt Daseinskompetenzen voraus. Daher sollte die Vermittlung von Daseinskompetenzen ein wichtiger Ansatz der Familienorientierung des Bildungskonzepts sein.[14] Der Begriff Daseinskompetenzen scheint mir angesichts der geschilderten Ausgangslage von Familie und Schule richtig gewählt. Auf einer basalen Ebene gehören dazu Kompetenzen im Zusammenleben, sowohl in Familie wie in der Schule. Zu Daseinskompetenzen gehört auch die Ausbildung politischer Kompetenzen als zukünftiger Staatsbürger. Im 9. Jugendbericht von 1994 [15], der die Lage nach der Wende skizziert, zeigt sich, dass so gut wie keine Daseinskompetenzen bei Jugendlichen ausgeprägt sind, die sich auf politische Kompetenzen beziehen. Weder die Bereitschaft junger Menschen, sich in Staat und Gesellschaft zu engagieren, selbst bei Wahlen, ist nach Ansicht sowohl der Kommission als auch der Bundesregierung sehr verbreitet, noch hat sich eine Bindung an andere gesellschaftliche Organisationen und Institutionen entwickelt. Das betrifft gleichermaßen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände etc. Fazit des 9. Jugendberichts: Die Entwicklung eigenständiger jugendkultureller Milieus mit ihrer wachsenden Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt führt zu einer komplizierten, verzögerten und teilweise auch gestörten Integration in die Institutionen der Erwachsenwelt. Dies trifft insbesondere den Bereich von Staat und Politik, denn diese öffentlichen Institutionen und ihre Vertreter werden als die sichtbarsten und herausragenden Repräsentanten einer noch fremden Erwachsenenwelt betrachtet“[16] Ein Engagement, das sich auf die Institutionen der (Erwachsenen) Gesellschaft bezieht, wird sich in der Regel erst später, ab einem Alter von etwa Mitte Zwanzig, entwickeln. Schlechte Aussichten für die Politische Bildung? Ich meine nein, denn man muss nur den Zusammenhang zwischen diesen Befunden und dem Thema Familie herstellen, dann kann man die Chancen der Entwicklung von Daseinskompetenzen in Richtung auf politische Kompetenzen ausloten. Im Lebenskontinuum von Heranwachsenden stellen familiale Strukturen die einzig wirklich stabile oder instabile Größe dar, hier wird Dasein konkret und persönlich verhandelt, nicht in der Schule und auch nicht der peer group, die ganz andere Bedürfnisse befriedigen: Was in Familien als Prägekräften für soziales Lernen und politische Bildung vorhanden ist, ist zunächst einmal unabhängig davon, in welcher konkreten Familienform es sich abspielt. Die patriarchalische Kleinfamilie der fünfziger Jahre als Familienform und eine Art Scharnier, durch die individu­elle, soziale gesellschaftliche Stabilisierungsleistungen mit­einander verknüpft werden, gibt es so nicht mehr. Was es aber dennoch gibt, hat John Dewey    (dessen Hauptwerk „Erziehung zur Demokratie“ von 1911 jetzt Jürgen Oelkers nach Jahrzehnten der Vergessenheit wieder in deutscher Sprache zugänglich gemacht hat) so beschrieben: „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung. .. Da unsere Hauptaufgabe Ihnen (den Jungen) gegenüber darin besteht, sie zur Beteiligung an einem gemeinsamen Leben zu befähigen, können wir nicht umhin, zu erwägen, ob wir Kräfte bilden, die diese Fähigkeiten sicherstellen werden. Wenn die Menschheit einige Fortschritte gemacht hat in der Erkenntnis, dass der höchste Wert einer Institution ihre ausgesprochen menschliche Auswirkung - ihre Wirkung auf die bewusste Erfahrung ist, so dürfen wir annehmen, dass diese Lektion hauptsächlich bei der Behandlung der Jungen gelernt wird“.[17]

Demokratisches Verhalten ist nicht lehrbar, aber erlernbar. Es rieselt nicht von oben herab nach einem funktionalistischen Trichtermodell der Sozialisation in die Menschen hinein, sondern muss von unten herauf gewonnen, erstritten, erfunden, ausgehandelt werden. Die Scharnierfunktion oder Scharnierleistung von Familien selbst bleibt notwendig, wie auch immer sie sich ausprägt und wir sie dann in Schule und Gesellschaft wiederfinden: als unpolitischer Ego-Trip, als politische oder unpolitische Anpassung an Vorgegebenes, als politisches Einmischen, als politische Apathie, als ehrenamtliches Engagement oder was immer. Je nachdem, ob man das Scharnier in seinem Entlastungs- oder Belastungscha­rakter für andere Institutionen sieht, kommt man zu einer anderen Betonung der in Familien eingeschlossenen Sinnelemente. Es spricht meiner Ansicht nach nichts dagegen, anderen Formen der Sozialibilität (z. B. die Wohngemeinschaft, der Kibbuz etc). größeren Einfluss auf das Prägen von gemeinschaftlichen Strukturen im Zusammenleben zuzusprechen, denn für bestimmte Lebensabschnitte werden in Zukunft gleichzeitig mehrere Optionen des Zusammenlebens offenstehen.

Was bedeutet das für ein Fach wie „Gemeinschaftskunde“?

Theorien der Politischen Sozialisation, die in Deutschland, im Unterschied zu ihrem Ursprungsland USA eine andere Richtungen eingeschlagen haben, könnten dazu verhelfen, das Fach wieder so einzusetzen, wie es einmal gedacht war: Als Bindemittel zwischen Individuum und Gesellschaft. Schon Dewey hat in Democracy and Education immer wieder einen Zusammenhang zwischen Familie und Gesellschaft hinsichtlich der Frage ihrer Prägekraft für politische Werte und Einstellungen hergestellt. Anstatt sich aber zu fragen, woraus eigentlich die Unterschiede z. B. zwischen deutschen Familie und amerikanischen Familien hinsichtlich eines Nationalstolzes resultieren, glaubte man in Deutschland - in einer - wie ich meine - falschen Rezeption der Arbeiten der Frankfurter Schule - den autoritären sozialisatorischen Charakter der Familie in den Vordergrund stellen zu müssen und zog sich auf eine für politische Bildung ertragreiche Sozialisationsagentur - die Schule zurück. Tatsache ist aber, dass gerade die Kritische Theorie nicht in erster Linie die angeblich verheerenden politisch negativen Sozialisationsleistungen untersucht hat, sondern das in ihr befindliche Spannungspotential, d. h. inwieweit die Familie als zweite sozio-kulturelle Geburt, wie Rene´ König sie genannt hat, als intentionaler Vermittler politischer Bildung eine positive oder negative Rolle spielt. Die Studien des von Adorno und Max Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung über „Autorität und Familie“, im Exil 1936 erschienen; die Folgeprojekte in den USA über den „autoritären“ Charakter, an denen u. a. Bruno Bettelheim, Else Frenkel-Brunswick, Marie Jahoda und Erich Fromm teilnahmen, belegen die Breite der politischen Sozialisationseinflüsse der Familie zwischen „autoritären Charakter“ und „mündiger Person“. Dass diese Arbeiten, im US-Exil konzipiert, sich vor allem auf die Frage der Entstehung der einen Seite, des „autoritären Charakters“ konzentrierten, seine Vorbilder in den Blick nahm und die Herkunft seiner Vorurteilsstrukturen analysierten, ist angesichts der verhängnisvollen Rolle, die autoritär geprägte Personen im Nationalsozialismus spielten, nur allzu verständlich und hat eigentlich wenig damit zu tun, was im Namen der Kritischen Theorie daraus Anfang der siebziger Jahren als Notwendigkeit der emanzipatorisch- politischen Bildung und der Konfliktdidaktik daraus gemacht wurde. Ich zitiere dazu aus einem eine Woche vor Adornos Tod am 16. Juli 1969 aufgezeichneten Gespräch zwischen ihm und Hellmut Becker zum Thema „Erziehung zur Mündigkeit[18]“:

„Die Art, in der man zu einem autonomen, also mündigen Menschen wird, ist nicht einfach das Aufmucken gegen jede Art von Autorität. (…) Der Prozess ist doch der, dass Kinder - Freud hat das als die normale Entwicklung bezeichnet - im allgemeinen mit einer Vaterfigur, also mit einer Autorität sich identifizieren, sie verinnerlichen, sie sich zu eigen machen und dann in einem schmerzhaften und nie ohne Narben gelingendem Prozess erfahren, dass der Vater, die Vaterfigur dem Ich-Ideal, das sie von ihm gelernt haben, nicht entspricht, dadurch sich davon ablösen und erst auf diese Weise überhaupt zum mündigen Menschen werden. Das Moment der Autorität ist, meine ich, als ein genetisches Moment von dem Prozess der Mündigwerdung vorausgesetzt. Das aber wiederum darf um keinen Preis dazu missbraucht werden, nun diese Stufe zu verherrlichen und festzuhalten, sondern wenn es dabei bleibt, dann resultieren nicht nur psychologische Verkrüppelungen, sondern eben jene Phänomene der Unmündigkeit im Sinne der synthetischen Verdummung, die wir heute an allen Ecken und Enden zu konstatieren haben.“

Als einer der ganz wenigen hat sich übrigens Klaus Mollenhauer, dessen Buch „Erziehung und Emanzipation“ den Boom sozialisationstheoretisch fundierter Veröffentlichungen auslöste, 1986 rückblickend einer selbstkritischen Betrachtung unterzogen: „So wie Adorno konnte man ja sowieso nicht schreiben, aber man konnte doch wenigstens versuchen, wie Habermas zu schreiben (…) davon ging eine große Suggestion aus (...) Heute finde ich, dass das der schlimmste Fehler gewesen ist, weil mit der Veränderung der Sprache zugleich Probleme zum Verschwinden gebracht wurden. Man muss sich nur überlegen, was mit dem Auswechseln des Begriffs Bildung durch Lernen oder Sozialisation an Problemen zum Verschwinden gebracht worden ist - das fiel uns damals gar nicht auf. Wir dachten im Gegenteil, es sei ein Fortschritt und man könnte jetzt mit einer terminologisch gereinigten Redeweise die Phänomene genauer fassen.[19]

Die Politik-Didaktik hat sich in den letzten Jahren primär mit der Frage beschäftigt, ob der Vermittlung von gegebenen Inhalten (z. B. der Lehrpläne) der Vorzug gegeben werden soll, oder ob zuerst Verfahren für die Auswahl, die Gewichtung, die Begründung von Zielen und Inhalten entwickelt werden müssten. Soweit ich sehe, ist die Auffassung von der zweiten Funktion der Didaktik heute vorherrschend. Diese damit einhergehende „Pluralisierung“ der Politikdidaktik markiert eine „pragmatische Wende“ gegenüber den Auseinandersetzungsmustern der siebziger Jahre. Das Zurücktreten der reinen Theoriediskussion zugunsten einer Wende zur Praxis sowie zugunsten der Aufarbeitung und Klärung von praxisnahen Problemen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, was jeweils als epochales Schlüsselproblem für den Politikunterricht angesehen wird, auch eine subjektive Einschätzung desjenigen beinhaltet, der die Problemlage beurteilt. Nehmen wir als Beispiel die Auswahl von Wolfgang Klafki: Er benennt als sein fünftes Schlüsselproblem, bei dem die Subjektivität des einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehung ins Zentrum der Betrachtung rücken: die Erfahrung der Liebe, der Sexualität, des Verhältnisses zwischen den Geschlech­tern oder aber gleichgeschlechtlicher Beziehungen - jeweils in der Spannung zwischen individuellem Glücksanspruch, zwischenmensch­licher Verantwortung und der Anerkennung des bzw. der jeweils Anderen.

Es ist schon erstaunlich, dass hier die Familie als wesentlicher Ort, an dem die genannten Phänomene zutage treten und verhandelt werden müssen, gar nicht erwähnt wird. Auch in der Benennung von Kardinaltugenden als mögliche Erziehungsziele politischer Bildung durch Bernhard Sutor taucht die Familie als ein möglicher Handlungsrahmen für das Einüben solcher Maßstäbe nicht auf. Ein Grund für dieses Ausblenden liegt für Sutor, aber sicher nicht nur für ihn, darin, auf einer Trennung zwischen Politischem und Sozialen zu beharren: „Denn Politik ist nicht identisch mit dem Sozialen schlechthin, sondern sie ist ein spezifischer Modus des Sozialen. Nicht alles Gesellschaftliche ist einfachhin politisch, wenn auch immer politisch relevant[20]“ Die feine Unterscheidung zwischen „politisch“ und „politisch relevant“ kann freilich auf dünnes Eis hinausführen. Die Entwicklung der Frauenemanzipation z. B. wurde durch die Tatsache angestoßen, dass man im Privaten das eigentlich Politische erkannte. Politische Freiheit und Gleichheit ja, aber bitte nicht in der Privatsphäre der Familie. Die jahrzehntealte Gleichung von politisch = öffentlich und privat = unpolitisch ging nicht mehr auf: Fragen wie die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, die Geschlechterbeziehungen, Partnerschaft, Aufteilung der Hausarbeit, Gewalt in der Partnerschaft, Gewalt gegen Kinder etc. bedingen heute geradezu einen mitzudenkenden Rahmen von Familie als einen mitgestaltenden Schirm, der seinen Schatten auf die Probleme wirft.

Den Theoretikern der Politischen Bildung, so scheint es, ist nicht nur „ der Schüler, der empirische Mensch verlorengegangen“, wie Fischer[21] meint, sondern auch der „familiale Rahmen, indem er eine beträchtliche Zeitspanne seines Lebens ständig verbringt und der- zumindest bis zur Ablösung durch andere Gesellungsformen wie die peer group, für ihn Prägekraft hat. Unsere Fachdidaktik hat in den letzten zehn Jahren nicht nur keine Fortschritte erzielt; sie hat Schaden genommen.“

Die Gründe für das Außer-Acht-Lassen der Familie in der Politischen Bildung sind vielfältig. Betrachten wir zunächst, wie sich eine Institution - mit oder ohne phänomenologischen Betrachtungen durch die Politische Bildung in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.

Teil 3: Spagat? Wie beschäftigen sich die Lehrpläne mit dem Thema Familie?

Das Thema Familie im Gemeinschaftskunde - Unterricht kann nicht als Institutionenkunde wie das parlamentarische oder Rechtssystem didaktisch bearbeitet werden. Aufgrund seiner verfassungsmäßig geschützten Anteile von Privatheit und Intimität z. B. hinsichtlich der Familienkonstellation sind hohe Schwellen hinsichtlich der Achtung der Persönlichkeitsrechte, der Informationsweitergabe, des Datenschutzes etc. gesetzt, die den richtigen didaktischen Zugang zu diesem Thema immer wieder zu einem Balanceakt werden lassen. Andererseits muss (müsste) in den Schulen über Familien gesprochen werden, und nicht nur dann, wenn Disziplin- oder Leistungsprobleme von Schülerinnen und Schülern ein Zusammenwirken von Schule und Elternhaus erforderlich machen. Im baden-württembergischen Lehrplan von 1994 für das Fach Gemeinschaftskunde an Hauptschulen gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zum Lehrplan zehn Jahre davor (1984). Im Lehrplan von 1994 heißt es:

„Die Hauptschule gibt in eigenständiger Weise Hilfen für das individuelle Lernen und bereitet sie für das Leben in Familie, Gemeinschaften, Gesellschaft, Beruf und Freizeit vor“[22]. Dieser Satz war auch 1984 enthalten. Neu ist aber der Zusatz: „In einer integrierten Familien und Geschlechtserziehung wird die Förderung der Persönlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung von Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche angestrebt.“ Gestrichen wurde der Satz von der Hauptschule als die mit dem Gemeindeleben verbundene familiennahe Schule.

Wie soll die integrierte Familien- und Geschlechtserziehung ausgestaltet sein? Dazu ebenfalls neu unter dem Stichwort: Sicherung grundlegender Schulleistungen, Wertungen und Haltungen: „Dazu gehört auch, dass die Schülerinnen und Schüler ihre geschlechtliche Identität finden. Im Unterricht müssen sich Jungen und Mädchen bei aller Verschiedenheit als gleichberechtigt und gleichwertig wahrnehmen, indem ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Interessen und Bedürfnisse ernst genommen werden und sie zu kooperativem Umgang miteinander angehalten werden“.

Für die praktische Umsetzung ist vorgesehen, eine Integration von Themen mit besonderer gesellschaftlicher und erzieherischer Relevanz fächerübergreifend vorzunehmen: Drei davon sind unmittelbar im Kreis unseres Themas angesiedelt:

  • Entwicklung und Veränderung der Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft und die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau.
  • Das Verhältnis der Generationen zueinander und das Zusammenleben mit hilfsbedürftigen Menschen;
  • Die Fähigkeit zum Umgang mit Freizeit und zur sinnvollen Nutzung der Medien.

Flankierend: Suchtprävention

Das eigentliche Fach Gemeinschaftskunde beginnt in Klasse 6 als Geschichte/ Gemeinschaftskunde. Die frühere Koppelung mit dem Fach Wirtschaftslehre wurde gekappt; Wirtschaftslehre ist jetzt mit Informatik zusammen. Was ist der Erziehungs- und Bildungsauftrag des Faches? Da die Schüler laut Landesverfassung zu Verantwortlichkeit, beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher Gesinnung zu erziehen sind, leistet das Fach einen Beitrag durch:

  • solide Kenntnisse und Einsichten in gesellschaftliche und politische Sachverhalte und Zusammenhänge;
  • verdeutlicht Rechte und Pflichten;
  • befähigt sie zu selbständig denkenden und handelnden Staatsbürger/innen.
  • Verständnis der Werte- und Rechtsnormen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Didaktisch gesehen soll dies durch lebensnahe Lernsituationen vermittelt werden.

Im Unterschied zum alten Lehrplan, der stark auf die bloße Identifikation mit dem Staatwesen, bzw. seinen Grundlagen ausgerichtet war, („der Unterricht muss die Möglichkeit der Identifikation im Aufbau innerer Bindungen an die Grundwerte der Verfassung eröffnen“ und den Schüler über den Aufbau einer eigenen Werthaltung zu Einsatz und Handlungsbereitschaft für die Gemeinschaft aus eigener Überzeugung zu gewinnen versuchen“ wird der Schwerpunkt jetzt auf die Akzeptanz politischer Entscheidungen gelegt, d. h. dem Abwägen zwischen Gemein- und Einzelinteresse sowie Toleranz. Man geht auch nicht mehr vom Prinzip der „starren Demokratie“ aus im Sinne von einmal getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren (Zitat: „Der Schüler erkennt, zwischen Wünschenswertem und Erreichbaren zu unterscheiden und akzeptiert einmal getroffene Entscheidungen“) sondern sagt jetzt: Durch das Kennenlernen von Regeln für das rationale Austragen politischer Konflikte werden Handlungsspielräume und Sachzwänge deutlich, an denen man die Vielschichtigkeit politischer Probleme erkennen kann - es werden keine politischen Lösungsmuster mehr vorgegeben, sondern „Demokratie ist im Fluss“. Weiter sollen die Schüler/innen sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen ein sachgerechtes und begründetes Urteil bilden können. Den Rahmen bilden Regeln für ein rationales Austragen von politischen Konflikten, zu dem gehört:

  • Meinungsvielfalt;
  • Achtung Andersdenkender;
  • Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen.

Das Zusammenleben in der Klassen- und Schulgemeinschaft bietet Möglichkeiten, diese Regeln einzuüben und anzuwenden. Dieselbe Möglichkeit bietet eigentlich die Familie auch, aber sie wurde hier vergessen! Der Grund: Man sieht Familie immer noch als statische Einheit, und nicht im Fluss, was sie tatsächlich ist. Wenn man sie unter dem Stichwort: Zusammenleben in Familien aufgreifen würde, könnte diese Statik überwunden werden. Das eigentliche Fach Gemeinschaftskunde beginnt in Klasse 7. Eine Lehrplaneinheit GK in Klasse 7 lautet: Die Lebenswelten der Jugendlichen. Als Ziel wird formuliert: den Schülern wird ihr Verhalten in unterschiedlichen Lebensbereichen bewusst. Sie lernen, dass Rücksichtnahme, insbesondere in der Familie, Mitwirkung in der Schule und sinnvolle Gestaltung der Freizeit bedeutsam für ihr Leben sind. Sie erfahren, dass das Zusammenleben mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Generationen die eigenen Erfahrungen erweitern. Es findet sich kein Hinweis auf veränderte Familienkonstellationen.

In der Realschule beginnt Gemeinschaftskunde in Klasse 7 mit „Jugendliche in der Schule“. Danach folgt Lehrplaneinheit „Jugendliche in der Familie“: Die Schüler erfahren die grundlegende Bedeutung der Familie für die Entwicklung des Kindes. Väter und Mutter tragen Verantwortung für ihre Kinder. Sie begreifen deren Lebenserfahrung als Hilfe zur eigenen Selbstfindung - ein Gedanke, der in der Hauptschule völlig fehlt. Ziel ist: Familienleben mitgestalten. In dieser Einheit taucht auch die Frage nach den Veränderungen im Familienbild auf unter Stichworten wie: Alleinerziehende, Geschlechterrollen, Berufstätigkeit- ziemlich neutral formulierte Problemfelder. Die darauffolgende LP 4 baut konsequent auf den Durchgang auf: Schule-Familie-Gemeinschaft mit dem Titel: Jugendliche in der Gemeinschaft. Inhalt der Einheit ist der Jugendliche im Spannungsfeld zwischen persönlicher Unabhängigkeit und Gruppenzugehörigkeit (Cliquen, Jugendgruppen; Gruppenzwang). Auch veränderte Lebenswelten (Gewalt, Drogen, Aids, Sekten) werden thematisiert. Ebenso Jugendliche und Medien und Rechtsordnungen, die für Kinder und Jugendliche wichtig sind. Dieser Ansatz ist deutlich durchdachter als der Lehrplan der Hauptschule. Im Zentrum des Politikfeldes Hauptschule stehen: Das System der parlamentarischen Demokratie, die EU, Friedenssicherung (BUNDESWEHR) und als quasi Anhängsel: Familie in unserer Zeit. Der Schwerpunkt hier: Schüler erkennen die Bedeutung der Familie und erfahren, dass sich Familienstrukturen wandeln. Ihnen wird bewusst, dass die Familie unter dem besonderen Schutz des Staates steht und dass der Staat besondere Leistungen für die Familie erbringt. Im Einzelnen wird dann behandelt:

  • Leistungen der Familie: Erziehung der Jugend; Zukunftssicherung.
  • Familie im Wandel: Familienstrukturen: Kernfamilie - unvollständige Familie; Scheidungsrate, Geburtenrate durch Auswertung von Statistiken.
  • Rolle der Familie: Erziehungsverantwortung der Mütter und Väter.
  • Staatlicher Schutz der Familie
  • Hilfen des Staates.

Das war schon alles. Neue Formen des Zusammenlebens, daraus resultierende Veränderungen für den Alltag, das Aufwachsen etc. werden nicht mal berührt, geschweige denn thematisiert. Immerhin hat man einige Veränderungen registriert: Im Lehrplan 1984 hatte das Thema noch geheißen: Die Bedeutung der Familie. Der Schüler sollte dort die Familie „ als eine Gemeinschaft besonderer Art“ kennenlernen: „Er begreift die Bedeutung der Familie für die geistige, seelische und körperliche Entwicklung des Kindes. Er bejaht Aufgabenverteilungen innerhalb der Familie und lernt Leistungen des Staates kennen“. Diese Einheit war der Beitrag des Faches Gemeinschaftskunde zur fächerübergreifenden Lehrplaneinheit „Kinder in der Familie“ gemeinsam mit Bio und HWT. Unter dem Stichwort „Sozialer Wandel“ wurde hier die alte Mär vom Wandel der Groß- zur Kleinfamilie wiedergegeben.

Dazu der zarte, diskriminierende Hinweis: “Auf Kinder aus Ein-Eltern-Familien Rücksicht nehmen!“ Die Einheit hatte als fächerübergreifenden Zusammenhang: Bio: Fortpflanzung - Kinderkriegen. HWT: Die werdende Mutter und ihre Gesunderhaltung. Sie ist es, die Fürsorge, Zuwendung und Förderung gibt. Vor- und Nachteile der Erwerbstätigkeit beider Elternteile werden ausgelotet, v. a. in Hinsicht auf mögliche Auswirkungen auf Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung. Von Partnerschaft vor, während und nach der Geburt, bei der Kinderpflege etc. keine Spur. Die gröb-sten Schnitzer sind zwar im Lehrplan 1994 ausgebügelt worden, aber nach wie vor stellt die neue Lehrplaneinheit keinen Bezug zur Lebensrealität von Familien heute dar (wie z. B. die im 6. Familienbericht beklagte strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber der Familie). Man hat hier die gesamte Flexibilisierungsdiskussion, die ja auch aus familienpolitischen Gründen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, gründlich ignoriert. Ein Blick auf die Heirats- und Geburtenstatistik der neuen Bundesländer hätte sehr schnell gezeigt, wie sensibel gerade junge Menschen auf den immer noch negativen Zusammenhang zwischen beruflichen Perspektiven und Familiengründung plus Kindern heute reagieren, wenn staatlicherseits keine flankierenden Maßnahmen getroffen werden, Arbeitszeiten zu flexibilisieren wie Kinderbetreuungseinrichtungen auch von Betrieben, Ganztagesangebote für Kinderbetreuung etc.

Warum tun sich die Lehrplankommissionen so schwer, den veränderten FamilienKonstellationen im Gemeinschaftskunde-Lehrplan Rechnung zu tragen. Ein Grund dürfte darin zu suchen sein, dass für die unterrichtenden Lehrer - und Lehrerinnen die Behandlung des Themas Familie schwer handhabbar ist. Zum einen sind die Lehrer selbst in irgendeiner Form Teil einer bestimmten Familienkonstellation, die sie als ihr Bild von Familie in den Unterricht einbringen. Umgekehrt tun das die Schüler auch. Die damit in Verbindung stehenden Wertungen und Werturteile sind aber nur kleine Aussichtsfenster dessen, was wir oder was andere als Familie wahrnehmen und im Falle des unterrichtenden Erwachsenen noch dazu geschichtlich Gewordene. Selbst ein Satz wie: Ich habe drei Kinder und bin seit 20 Jahren verheiratet birgt erhebliche Diskriminierungspotentiale gegenüber Schülern, ganz zu schweigen von Begriffen wie „sozial schwache Familie" oder „unvollständige Familie“. Die im Beutelsbacher Konsens diskutierten Minimalprinzipien politischer Bildung in Form des Überwältigungsverbots, des Prinzips kontroverse Fragestellungen im Unterricht kontrovers zu behandeln sowie der Forderung nach Berücksichtigung von Interessenslagen der Schüler kann sich in Sachen Familie deshalb als besonders heikel herausstellen, insbesondere für Referendare und Lehramtsstudentinnen und Studenten.

Teil 4: Ausblick - Von der „Familienpolitik“ zu einer Theorie des „Zusammen-Lebens“.

„In Deutschland ist es Mode, auf den politischen Unterricht zu schimpfen, und sicherlich könnte er besser sein, aber der Bildungssoziologie liegen schon jetzt Daten vor, die darauf hinweisen, dass der politische Unterricht, wo er überhaupt mit Ernst und nicht als lästige Pflicht betrieben wird, mehr Gutes stiftet, als man ihm gemeinhin zutraut“. [23] Man kann hinzufügen: Wenn er denn nicht zentrale Bereiche des Zusammenlebens ausklammert. Ob schulisches Handeln und Lernen Erfahrungen vermitteln kann, die sich auf Einstellungen auswirken, hängt in hohem Maße von zwei Voraussetzungen ab:

im Unterricht müssen Schüler Gelegenheit erhalten zum Benennen, des sich Mitteilens, des Argumentierens; dazu zusammen mit anderen „das Wort als Vehikel des Gedankens zu verinnerlichen“ wie Bruner[24] den Prozess nennt und: Die Schule muss zum Modell einer menschenwürdigen, demokratischen Gesellschaft werden; sie muss Gelegenheiten bereitstellen, den Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Handeln im Alltag zu erfahren, d. h. Denken als Ordnen des Tuns zu erleben. Im Schulleben muss sich das Intakt-Sein gegenseitiger Beziehungen trotz bestehender Konflikte abbilden. Dazu gehört ein wohlbedachtes Verhältnis von Empathie für den Schüler und Konsequenz bei der Vertretung begründbarer Anforderungen. Wünschenswerte und rechtfertigungsfähige Einstellungen und Verhaltensweisen als Ergebnis von Unterricht und Erziehung können überhaupt nur erwartet werden, wenn alle Dimensionen des didaktisch/politischen Feldes in ihren Wechselbeziehungen das schulische Verhalten und Handeln bestimmen. Erfolge bei der Erziehung hängen nicht von einem klar definierten Faktor ab, sondern von einer Kombination von Faktoren, die einander entgegengesetzt zu sein scheinen: engere und zugleich distanziertere Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden; offene und geschlossen- stringente Lernsituationen; Verhaltenssicherheit und Gelegenheit zur Infrage-Stellung der Sicherheit gebenden Normen. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, hängt das Schülerinteresse am politischen Unterricht von den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen ab. Das Schülerinteresse ist in gewissem Maße eine Funktion der allgemeinen gesellschaftlichen Politisierung oder De-Politisierung[25]. Gerade sozialisatorisch entstandene Differenzen der Geschlechter könnten eine Chance für Politische Bildung sein. Alle gesellschaftlichen Bereiche unserer Kultur werden vom „Anderssein der Geschlechter geprägt“. Mehr oder weniger deutlich wird „männlich“ und „weiblich“ durch ein oppositionelles wechselseitig exklusiv aufeinander verweisendes Kategorienpaar vermittelt, welches Deutungsschemata beeinflusst, d. h. Interpretationen der Wirklichkeit leitet. Problematisch hieran ist der Umstand, dass die Zuordnung zu einem Geschlecht zur Unterstellung von Eigenschaften und Verhaltensweisen führt, die gekoppelt mit historisch entstandenen Ordnungsvorstellungen zum Beispiel weibliche Diskriminierung begründen. Da sowohl die Differenzen der Geschlechter als auch diese Diskriminierungen die politische Kultur prägen, sollten sie als Faktum gesellschaftlicher Praxis Gegenstand politischer Theorie und Bildung sein und in der Koedukation ihren angemessenen thematischen Platz finden[26].

Zwei Dinge habe ich in der politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen gelernt:

  1. Ohne Bodenpflege - sprich dem Aufbau eines Beziehungsgeflechts zwischen Lehrenden und Lernenden wächst kein noch so zartes Pflänzchen im Sinne eines Citoyen, eines politisch bewusst handelnden Individuums.
  2. Der Dünger für diesen Boden, auf dem die Saat politischer Bildung aufgehen soll, muss so bemessen sein, dass die Pflanze beim Wachsen auch mitkommt.

Dies hat mich dazu geführt, von jeglicher Gewaltsamkeit in der Pädagogik allgemein, und speziell in Sachen politische Bildung Abstand zu nehmen - eine Auffassung, die ich als eine Grundkonstante abendländischer Pädagogik von Comenius über Rousseau bis hin zu Adolf Reichwein bestätigt fand - im Übrigen allesamt Pädagogen und politische Denker zugleich. Mein Thema beschäftigt sich deshalb auch mit den kleinen Problemen des Faches, mit dem was nach Goethes Faust das schwerste von allem ist: „Mit den Augen zu sehen, was vor deinen Augen liegt“. Die Pluralisierung von Familienformen und ihre möglichen Rückwirkungen auf die Politische Bildung an Haupt- und Realschulen ist in meinen Augen ein solches Thema.

Die primären Lebenswelten der Lernenden, wie sie sich in Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft widerspiegeln, sind auch Schulen der Demokratie - oder sie sind es eben nicht: „Zu den exemplarischen Figuren des Erziehungsversagens in unserer Zeit gehört nicht nur der Konrad aus dem Struwwelpeter, den die Mutter allein lässt und damit er gehorsam bleibt, mit schrecklichen Strafen bedroht, die der Schneider alsbald ausführt. ...Symbolfigur ist heute nicht das bedrohte und bestrafte Kind, sondern eben auch das vernachlässigte oder - symbolisiert im Kaspar Hauser - das ganz sich selbst überlassene Kind. ...Die Verletzung durch falsche Erziehung - und die verweigerte Erziehung: in beidem liegt ein charakteristisches Versagen unserer Zeit“. [27]


Anmerkungen

[1] K. G. Fischer :Theoriebildung in der Politischen Didaktik in: Borelli (1994) S. 97ff.
[2] Der Brandanschlag von Solingen war ein am 29. Mai 1993 in Solingen (Nordrhein-Westfalen) verübtes Verbrechen, dem fünf Menschen zum Opfer fielen. Die auch als Mordanschlag von Solingen bezeichnete Tat hatte einen rechtsextremen Hintergrund. Christian R. erhielt dafür eine Jugendstrafe von zehn Jahren.
[3] Gronemeyer, Reimer (1989): Die Entfernung vom Wolfsrudel. Über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten. Düsseldorf: Classen
[4] Franz Schultheis/Michael Wehrspaun (Hrsg. 1988): Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit, Konstanzer Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Bd. 3, Konstanz: Universitätsverlag.
[5] Von den Vereinten Nationen (UNO) ausgerufene Internationale Jahre waren u. a. 1994 das internationale Jahr der Familie
[6] Hettlage Robert/Wagner Susanne (1998) Familienreport: Eine Lebensform im Umbruch, München
[7] Zahlen aus Rerrich, 1990, S. 15 und Statistisches Bundesamt, 1990, laut FAZ vom 13. 9. 90.
[8] Ulrich Beck (Herausgeber), Elisabeth Beck-Gernsheim (Herausgeber)Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt
[9] Badische Zeitung Freiburg vom 12.10.1990
[10] Beck, FAZ, 19.10.90 S. 35
[11] Peter L. Berger/Brigitte Berger (1982): Individuum und Co. Soziologie beginnt beim Nachbarn, München S. 39.
[12] Rerrich, Maria S. (1990), Balanceakt Familie. Zwischen alten Leitbildern und neuen Lebensformen, S. 36
[13] Giesecke, Hermann (1993): Politische Bildung: Didaktik und Methodik für Schule und Jugendarbeit, München S. 97.
[14] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1994), S. 201
[15] Deutscher Bundestag (1994).: Neunter Jugendbericht. Die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Drucksache 13/70. Bonn
[16] ebda, S. XI
[17] Jürgen Oelkers, John Dewey und Gudrun u. Harald Hylla (2011) Demokratie und Erziehung: Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik S. 22)
[18] Scheuerl, Hans (1992): Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München S. 374
[19] ebda, S. 429
[20] Bernhard Sutor: in: Kuhn/Massing/Skuhr: Politische Bildung in Deutschland, 2. Auflage 1993, S. 324
[21] Kurt Gerhard Fischer: Warum Reformkonzepte zwischen Legitimationssucht und Machtpolitik nicht praktisch wurden, in: V. Briese u. a. (1981) Entpolitisierung der Politikdidaktik Weinheim Basel S. 58.
[22] Lehrplan für die GHS 1994, S. 11
[23] Th. W. Adorno, 1965: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe - Neun kritische Modelle, Frankfurt, S. 141.
[24] Jerome Bruner (1974): Entwurf einer Unterrichtstheorie („Toward a theory instruction“), Berlin, S. 111
[25] Dagmar Richter (1989) in: Claußen, Bernhard: Texte zur politischen Bildung Band 3: Lernfelder. Themenbereiche und Vermittlungswege in sozialwissenschaftlich- fachdidaktischer Perspektive, Frankfurt, S. 134.
[26] Carol Hagemann-White (1984): Sozialisation: Weiblich - Männlich? Alltag und Biografie German Edition, S. 342.
[27] Andreas Flitner: in Scheuerl, a. a. O. S. 447.