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Erste Lehrer

Hiltrud Hainmüller

»Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: Das Recht, seine Wahrheit zu suchen.« (M. Bernard)

Nahezu jeder von uns erinnert sich an seinen ersten Lehrer, seine erste Lehrerin. Die Art und Weise, wie diese erste »offizielle Erwachsenenperson« sich uns genähert hat und mit uns umgegangen ist prägt häufig das Bild von Schule und hat manchmal direkte Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg. Folgen Lehrer einer Ethik der Achtsamkeit, ist ihre Arbeit geprägt von empathischer Zuwendung und fördernder Fürsorge, entwickeln sie ein Gespür für Begabungen, erkennen sie Leid, sehen sie Potenziale, zeigen sie moralisches Rückgrat und haben sie Mut zu außer­gewöhnlichen Maßnahmen, dann können sie Weichen für die Zukunft eines Schülers stellen. Aber sie können auch Wunden schlagen, die ein Leben lang immer wieder aufbrechen oder im schlimmsten Fall - wie in Hesses Roman »Unterm Rad« beschrieben - sogar zum Tod führen.

Als Lehrer stellt man sich selbst oft die Frage, welche Bedeutung man im Leben von Schülern hat und wie groß die eigene Verantwortung im Prozess der Erziehung ist. Lehrer wirken in die primäre Sozialisation hinein: Sie können wohltuende Ergänzung, absolutes Kontrastprogramm (anregend oder angsterregend) oder Ersatz für fehlende Bindung zu Hause sein. In zahlreichen autobiografischen Schriften bekannter Schriftsteller finden sich Charakterisierungen von Lehrerpersönlichkeiten, verbunden mit Erinnerungen an einschneidende Schulerlebnisse. Die Textauszüge können dazu anregen, sich das Lehrer-Schüler­ Verhältnis in seinen vielen Facetten näher anzuschauen. Der vaterlose Albert Camus erfährt durch seinen Lehrer väterliche Zuwendung und gezielte Förderung, für die er ihm ein Leben lang dankbar ist. Geheimnisvoll und fast ein wenig verklärt erscheint die zier­liche, fließende, freundliche, aufmunternde Miss Lancashire in der Erinnerung von Elias Canetti. Der Leser spürt die wohltuende Wirkung einer sanften Pädagogik. Ulla Hahn erfährt schon in der ersten Schulstunde, dass Lebenslernen und schulisches Lernen nach Meinung des Lehrers zwei getrennten Bereichen angehören. Elterliche Erziehung durch Stockhiebe korrespondiert mit schulischer Moralerziehung, während der Großvater Geborgenheit und tragenden Grund bietet. Ein für unsere heutigen Vorstellungen ungewöhnliches Lehrer-Schüler-Verhältnis beschreibt Tschingis Aitmatow in der Beziehung, die sich zwischen der ebenfalls verwaisten Altynai mit ihrem Lehrer Duischen zur Zeit der russischen Revolution entwickelt. Die anrührend beschriebene, enga­gierte Fürsorge des Lehrers ist jedoch gekoppelt an das politische Ziel, Altynais Fähigkeiten in den Dienst des sozialistischen (damals stalinistischen) Staates zu stellen. Diskussionswürdig bleibt, ob bei diesem zweifelsohne bewundernswerten Einsatz der Respekt vor »dein Heiligsten im Kinde« gewahrt wurde - dem Recht, seine eigene Wahrheit zu suchen.

Albert Camus: »Der erste Mensch«

Auszug aus: Albert Camus, Der erste Mensch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997.

Monsieur Bernard ist der Grundschullehrer von Albert Camus, dem der Autor (im Roman »Jacques Cormery« genannt) sein autobiografisches Werk »Der erste Mensch« widmete. Was ist er für ein Mensch?

„Jacques, den Monsieur Bernard offensichtlich sehr gern hatte, traf er genauso wie die anderen, und er traf ihn sogar an einem Tag, nachdem Monsieur Bernard ihm öffentlich seine Bevorzugung gezeigt hatte. Als Jacques an der Wandtafel stand und Monsieur Bernard ihm auf eine gute Antwort hin die Wange gestreichelt hatte, hatte in der Klasse eine Stimme »Liebling« gemurmelt; Monsieur Bernard hatte ihn an sich gezogen und mit einer Art Feierlichkeit gesagt: »Ja, ich ziehe Cormery vor, wie all jene von euch, die ihren Vater im Krieg verloren haben. Ich habe mit ihren Vätern den Krieg mitgemacht, und ich lebe. Ich versuche hier wenigstens, meine toten Kameraden zu ersetzen. Und wenn jetzt noch jemand meint, ich hätte >Lieblinge<, soll er es sagen! « Diese Standpauke wurde mit totalem Schweigen aufgenommen. Nach der Schule fragte Jacques, wer ihn »Liebling« genannt hatte. Eine solche Beleidigung ohne Reaktion hinzunehmen bedeutete nämlich, seine Ehre zu verlieren. »Ich«, sagte Munoz, ein ziemlich weichlicher und farbloser, blonder, großer Junge, der sich selten äußerte, aber schon immer seine Antipathie für Jacques gezeigt hatte. »Gut«, sagte Jacques, »dann ist deine Mutter eine Hure.« Auch das war eine rituelle Beleidigung, die sofort zum Kampf führte, da die Beleidigung der Mutter und der Toten an den Mittelmeerküsten von jeher die schlimmste war. Munoz zögerte jedoch. Aber Ritus ist Ritus, und die anderen redeten an seiner Stelle. »Los, aufs grüne Feld.« (Seite 132)

Jacques hatte die Hosen jedenfalls gehörig voll, nachdem er seine Mannespflicht getan hatte, indem er Munoz provoziert und ihn so zum Kampf herausgefordert hatte. Am Ende verlässt der unterlegene Munoz das grüne Feld mit einem blauen Auge. Jacques wird jedoch vor den Direktor der Schule zitiert und muss zur Strafe eine Woche lang während der Pausen in der Ecke stehen.

»Nun, Fantomas?« sagte Monsieur Bernard, als Jacques in die Klasse zurückkam. Jacques weinte. »Na, komm, ich höre.« Mit abgehackter Stimme berichtete das Kind zuerst von der Strafe, dann davon, daß Munoz' Eltern sich beschwert hätten, und gestand schließlich den Kampf. »Warum habt ihr gekämpft?« - »Er hat mich >Liebling< genannt.« - »Noch einmal?« - »Nein, hier in der Klasse.« »Ach, er war das! Und du hast gemeint, ich hätte dich nicht ausreichend verteidigt.« Jacques sah Monsieur Bernard inbrünstig an. »O doch! O doch! Sie...« Und er brach in aufrichtiges Schluchzen aus. »Setz dich«, sagte Monsieur Bernard. - »Das ist nicht gerecht«, sagte das Kind unter Tränen. »Doch«, sagte er sanft. Am nächsten Tag in der Pause stellte sich Jacques hinten auf dem Pausenhof in die Ecke, mit dem Rücken zum Hof, zum fröhlichen Geschrei der Mitschüler. Er wechselte das Standbein, er verging vor Lust, auch herumzulaufen. Ab und zu warf er einen Blick nach hinten und sah Monsieur Bernard, der in einer Ecke des Hofes mit seinen Kollegen promenierte, ohne ihn anzusehen. Aber am zweiten Tag, er sah ihn nicht hinter seinem Rücken ankommen, klopfte er ihm sanft auf den Nacken: »Mach nicht so ein Gesicht, Tiefflieger. Munoz steht auch in der Ecke. Komm, ich erlaube dir, hinzuschauen.« Auf der anderen Hofseite stand Munoz tatsächlich allein und mürrisch. »Deine Komplizen weigern sich die ganze Woche, wo du in der Ecke stehst, mit ihm zu spie­len.« Monsieur Bernard lachte. »Siehst du, ihr werdet alle beide bestraft. Das ist in Ordnung.« Und er beugte sich zu dem Kind, um ihm mit einem liebevollen Lachen, das eine Flut von Zärtlichkeit im Herzen des Verurteilten aufsteigen ließ, zu sagen: »Hör mal, du Knirps, wenn man dich sieht, sollte man nicht meinen; dass du so einen Schlag hast.« (Seite 137)

Der Lehrer M. Bernard hat das Schicksal des Straßenkindes Camus tatsächlich geändert: Er hat Camus für die Aufnahme ins Lycee von Algier und für ein Stipendium vorgeschlagen - ein gewagter Schritt für einen Jungen aus dem Armenviertel. Dazu gab der Lehrer Camus und drei weiteren Schulkameraden unentgeltlich zusätzlichen Unterricht für die Aufnahmeprüfung und das Stipendium und begleitete sie zur Aufnahmeprüfung in ein vornehmes Stadtviertel Algiers:

„Sie waren eine gute halbe Stunde zu früh da; schweigend standen sie um ihren Lehrer gedrängt, dem nichts zu sagen einfiel und der sie plötzlich stehen ließ, nachdem er gesagt hatte, er käme wieder. Tatsächlich sahen sie ihn gleich darauf zurückkommen [...] »Hier sind die Croissants«, sagte Monsieur Bernard. »Eßt jetzt eins und hebt das andere bis zehn Uhr auf.« Sie bedankten sich und aßen, aber der gekaute, schwerverdauliche Teig rutschte schlecht durch die Kehle. »Verliert nicht den Kopf«, wiederholte der Lehrer. »Lest die Fragestellung und das Aufsatzthema gut durch. Lest sie mehrmals. Ihr habt Zeit.« Ja, sie würden mehrmals lesen, sie würden ihm gehorchen, ihm, der alles wußte und in dessen Nähe das Leben ohne Schwierigkeiten war, es genügte, sich von ihm führen zu lassen. [...] Ein Pedell hatte die Tür geöffnet und las eine Liste vor. Jacques Name wurde als einer der ersten aufgerufen. Er hielt die Hand seines Lehrers fest, er zögerte. »Geh, mein Sohn«, sagte M. Bernard. Jacques trat zitternd auf die Tür zu und drehte sich beim Eintreten nach seinem Lehrer um. Da stand er, groß, zuverlässig, er lächelte Jacques ruhig zu und nickte“. (Seite 150)

34 Jahre später erhielt dieser Junge - als einer der jüngsten Preisträger überhaupt, den Nobelpreis für Literatur. Wenige Tage vor der Preisverleihung, am 19. November 1957, schrieb er an den Lehrer:

„Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, daß Ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Albert Camus“. (Seite 282)

M. Bernard schrieb zurück:

„Mein lieber Kleiner,
Ich habe die ständig anwachsende Liste der Werke gesehen, die über Dich verfaßt werden oder Dich erwähnen. Und ich kann mit sehr großer Genugtuung feststellen, daß Dein Ruhm (es ist die volle Wahrheit) Dir nicht zu Kopf gestiegen ist. Du bist Camus geblieben. Bravo. [...] Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: Das Recht, seine Wahrheit zu suchen. Ich habe euch alle geliebt und glaube, mein Möglichstes getan zu haben, nicht meine Ideen zu äußern und so eure junge Intelligenz zu belasten“. (Seite 284)

Elias Canetti: »Die gerettete Zunge«

Auszug aus: Elias Canetti; Das autobiographische Werk, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2001.

»Bald nach unserer Ankunft in Manchester kam ich in die Schule. Sie befand sich in der Barlowmore Road, etwa zehn Minuten von unserem Haus entfernt. Die Leiterin hieß Miss Lancashire, und da die Grafschaft, in der Manchester lag, auch so hieß, staunte ich über den Namen. Es war eine Schule für Knaben und Mädchen, ich fand mich unter lauter englischen Kindern. Miss Lancashire war gerecht und behandelte alle Kinder gleichmäßig freundlich. Sie munterte mich auf, wenn ich auf englisch etwas fließend erzählte, denn darin war ich am Anfang den anderen Kindern unterlegen. Aber lesen und schreiben lernte ich sehr bald, und als ich zuhause die Bücher zu lesen begann, die mir der Vater brachte, merkte ich, daß sie davon nichts hören wollte. Ihr Bemühen ging dahin, daß alle Kinder sich wohlfühlen sollten; um eilige Fortschritte war es ihr nie zu tun. Ich sah sie kein einziges Mal gereizt oder zornig, und sie verstand ihre Sache so gut, daß sie nie Schwierigkeiten mit den Kindern hatte. Ihre Bewegungen waren sicher, aber nicht sportlich, ihre Stimme war gleichmäßig und nie zu ein­ dringlich. Ich kann mich an keinen Befehl von ihr erinnern. Es gab manches, was man nicht durfte; da es nicht immer wiederholt wurde, fügte man sich gern. Vom ersten Tag an liebte ich die Schule. Miss Lancashire hatte nicht das Spitzige unserer Gouvernante und vor allem hatte sie keine spitze Nase. Sie war klein und zierlich, mit einem schönen, runden Gesicht, ihr brauner Kittel reichte bis an den Boden, und da ich ihre Schuhe nicht sah, fragte ich die Eltern, ob sie welche habe. Ich war für Spott sehr empfindlich, und als die Mutter laut über meine Frage herauslachte, nahm ich mir vor, die unsichtbaren Schuhe der Miss Lancashire zu finden. Ich paßte scharf auf, bis ich sie schließlich ent­ deckte, und berichtete, ein wenig gekränkt, darüber zu Hause.

Ulla Hahn: »Das verborgene Wort«

Auszug aus: Ulla Hahn, Das verborgene Wort, Stuttgart/München: OVA 2001.

Die Tante schenkte mir zum ersten Schultag einen Bleistift mit Radiergummi; die Großmutter ein Bildchen der heiligen Hildegard, zuständig für Gelehrsamkeit. Ich schenkte dem Bruder einen Kringel aus meiner Schultüte. [...] Kurz vorm Schlafengehen nahm mich der Großvater beiseite und drückte mir etwas in die Hand. Dabei sah er mich an wie seine älteste Tochter, wenn die wieder wegfuhr. Es war der schönste Buchstein. Blendend weiß mit roten Linien, Schlingen und Schleifen, Kringeln und Krähenfüßen auf der einen, goldenen auf der anderen Seite. Da drauf, sagte der Großvater, stehen wunderbare Jeschischten. Immer neue. Solang de lävs. Solange du lebst. Der nächste Schulmorgen begann mit einem >Vater unser<. Im Stehen. Alle Kinder aus dem Kindergarten beteten lauthals mit, und der Lehrer machte hinter unsere Namen mit schwarzer Tinte einen Punkt. Schwarze Punkte, erklärte er, waren gute Punkte. Rote schlechte. Auch der liebe Gott, wußte ich von der Großmutter, führte Buch über gute und schlechte Taten. [...] Wer von euch kann denn schon, Lehrer Mohren zog die Augenbrauen hoch, zwei Rundungen mehr in seinem runden Gesicht - wer von euch kann denn schon bis zehn zählen? Kurtchen Küppers ratterte bis zwanzig und über dreißig hinaus, bis Mohren abwinkte. Kurtchen Küppers bekam einen zweiten schwarzen Punkt. Und wer kann - wieder ließ der Lehrer seine runden Augen über unsere Köpfe rollen -, und wer von euch kann schon lesen? Niemand? Da hob ich den Finger. Den zweiten schwarzen Punkt vor Augen.
Steh auf, sagte Mohren.
Ich zog meinen neuen Buchstein aus dem Tornister und las in einem Zuge die Geschichte von der grünen Vase vor. Jo, rief Kurtchen Küppers einmal aufgeregt dazwischen, dat stimmt. Die Jeschischte von der Frau un dem Huhn hat die Schwester jenau so verzählt!
Denn wem dat Häz schwer es, dem is alles schwer. Un wem et leischt is, dem is alles leischt, schloß ich und sah den Lehrer erwartungsvoll an.
So, sagte Mohren. Das hast du also gelesen. Das steht alles auf diesem Stein da? Ja, sagte ich, dat is ene Boochsteen. Ein Buchstein? Ja, sagte ich. In der Klasse wurde es unruhig. Ruhe, donnerte Mohren. Setzen. Einen schwarzen Punkt gab es nicht.
Nach der Stunde hielt mich der Lehrer zurück, betrachtete mich und den Stein, kopfschüttelnd, schnaufend. Viele Buchsteine habe ich noch zu Hause, am Rhein könne man sie finden, mein Schutzengel habe sie beschrieben, und diesen besonders schönen habe mir gestern der Großvater geschenkt.
Lehrer Mohren räusperte sich. Nun, sagte er, es gibt viele Arten zu lesen. Steine werden anders gelesen als das, was auf dem Papier steht. In der Schule, mein Kind, wird nur gelesen, was auf dem Papier steht. Mit dem Großvater kannst du weiter von deinen Buchsteinen lesen. Mohren gab mir den Stein des Großvaters zurück und strich mir über den Kopf. Auch dies mußte wohl an dem herrlichen Stein liegen.

Tschingis Aitmatow: »Der erste Lehrer«

Auszug aus: Tschingis Aitmatow, Der erste Lehrer, München, 1989.

Die kirgisische Steppe im Jahre 1924. Im Dorf Kurkureu gibt es keine Schule und soll es nach dem Willen der Bewohner auch keine geben, da wichtigere Aufgaben zu erledigen waren, als in die Schule zu gehen: Tiere versorgen, Heizmaterial für die harten Winter besorgen, in der kärglichen Landwirt­ schaft mithelfen. Die Oktoberrevolution Lenins hat dieses Dorf jedoch auch erreicht in Form des Komsomolzen (Kommunistischer Jugendverband der Bolschewiki) Düischen, der wild entschlossen ist, im Auftrag der Partei der erste Lehrer für diese Kinder zu werden, auch für die Waise Altynai.

»Nun also, mich hat der Komsomol hergeschickt, ich soll eure Kinder unterrichten! Dazu brauchen wir einen Raum. Ich denke, wir bauen, mit eurer Hilfe natürlich, aus diesem alten Pferdestall auf dem Hügel die Schule. Was meint ihr dazu, Landsleute?« [...] Das Schweigen brach Satymkul der Streitsüchtige [...] »Wart mal Bursche«, sagte er, die Augen verkneifend, als ob er ziele, »erklär uns lieber, wozu wir sie brauchen, die Schule!« »Wozu?«, fragte Düischen verdutzt. »Ja, wirklich, wozu?«, meldete sich noch jemand aus der Menge. Sofort lösten sich die Zungen, Lärm brach los. »Seit alters her leben wir von unserer Bauernarbeit, uns ernährt die Hacke. Und unsere Kinder werden ebenso leben wie wir, was zum Teufel, soll ihnen die Schule? Lesen und schreiben ist gut für die Oberen, wir sind einfache Leute, verdreh uns nicht den Kopf.« [...]

»Die Schule ist nichts für Waisen, andere Kinder haben Vater und Mutter und lernen auch nicht. Da hast du dir ja schon die ganze Herde zusammengeholt, treib sie in die Schule, hier hast du nichts zu suchen.« Düischen sprang auf. »Überlegen Sie sich, was Sie sagen! Ist sie denn schuld daran, daß sie keine Eltern hat! Oder gibt es ein Gesetz, daß Waisenkinder nicht lernen dürfen?« »Was scheren mich deine Gesetze? Ich leb nach meinen eigenen, und du hast mir gar nichts vorzuschreiben.« »Wir haben alle dieselben Gesetze. Wenn Sie das Mädchen nicht brauchen, wir brauchen sie, die Sowjetmacht braucht sie. Und sind Sie gegen uns, dann werden wir Sie zurechtweisen!«

Durch ein Machtwort des Onkels erreicht Düischen, dass Altynai in die Schule gehen darf. Ihr erster Lehrer ist der einzige, den es gibt, und noch dazu im einsamen Kampf gegen die dörfliche Beschränktheit. Sie, die später Professorin für Philosophie und Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften wurde, beschreibt in einer Zusammenfassung diesen ersten, entscheidenden Lehrer so:

„Wenn ich heute zurückdenke, kann ich mich nicht genug wundern, daß dieser kaum lese- und schreibkundige Bursche, der selbst nur mühsam die Worte zusammenbuchstabierte, der kein Lehrbuch, nicht mal eine elementare Fibel zur Hand hatte, daß er es wagte, ein so großes Werk in Angriff zu nehmen. Es ist nicht leicht, Kinder zu unterrichten, deren Eltern und Vorfahren Analphabeten waren. Düischen hatte natürlich nicht die geringste Vorstellung von Lehrplänen, von Unterrichtsmethodik. Richtiger gesagt, er ahnte nicht einmal, daß es so etwas gab. Düischen unter­ richtete uns so, wie er es verstand und intuitiv für richtig hielt. Ich bin zutiefst überzeugt, daß die treuherzige Begeisterung, mit der er an seine Arbeit heranging, ihre Früchte trug. Ohne sich dessen bewußt zu sein, vollbrachte er eine Heldentat. Ja, das war es, denn uns kirgisischen Kindern, die nie aus ihrem Ail herausgekommen waren, eröffnete die Schule - wenn man sie so nennen konnte, die Lehmhütte, durch deren Spalten die Schneegipfel der Berge zu sehen waren - plötzlich eine neue, nie gesehene, ungeahnte Welt“.

Aber diese Öffnung zur Welt ist nur ein kleiner Ausschnitt der »Pädagogik« Düischens. Im Winter trägt er die Kinder einzeln durch den Fluß, weil die Dorfbewohner sich weigern, ihm einige Balken für eine Brücke zu geben. Und als Altynai von der Tante und dem Onkel mit einem reichen Bauern verkuppelt, sprich: gegen ihren Willen verheiratet werden soll, kommt es zum offenen Kampf zwischen dem Lehrer und der »Verheiratungstradition« der Kirgisen:

Da aber wurde die Tür lärmend aufgerissen, und auf der Schwelle stand meine Tante, ein schadenfrohes, böses Lächeln im Gesicht. Düischen ging auf sie zu. »Was wollen Sie hier?« »Was ich will, geht dich nichts an. Mein Mädel will ich heute verheiraten. He, du obdachlose Waise!« Die Tante wollte sich auf mich stürzen, aber Düischen vertrat ihr den Weg. »Hier sind nur Schülerinnen, und keine von ihnen ist heiratsfähig«, sagte Düischen fest und ruhig. »Das wollen wir mal sehen. He, Männer, packt sie und schleift sie raus, das Luder! « Die Tante winkte einen der Reiter herbei. Nach ihm sprangen noch zwei andere vom Pferd, dicke Knüppel in den Händen. Der Lehrer wich nicht von der Stelle. »Was, du herrenloser Hund willst über fremde Mädel wie über deine Weiber bestim­ men? Na los, rück ab!« Wie ein Bär ging der Rotgesichtige auf Düischen los. »Sie haben kein Recht, in die Schule einzudringen«, sagte Düischen, sich am Türrahmen festhaltend. »Ich spuck auf deine Schule!«, brüllte der Rotgesichtige und schwang seinen Stock. Aber Düischen kam ihm zuvor und versetzte ihm einen heftigen Fußtritt in den Leib, so daß er stöhnend niedersank. In diesem Augenblick stürzten sich die beiden anderen mit ihren Knüppeln auf den Lehrer.