StartseitePublikationenBernd HainmüllerErste Lehrer - Am Beispiel Albert Camus

Erste Lehrer - Am Beispiel Albert Camus

Erste Lehrer und was man von ihnen lernen kann.

Bernd Hainmüller

Abb. 1:  Albert Camus, 1957

Bilder von „ersten Lehrern“ scheinen für spätere Literaten (und nicht nur für diese) von besonderer Bedeutung für ihre Erziehung und Bildung gewesen zu sein. So auch für den französischen Schriftsteller Albert Camus. Dieser wurde als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers, der nach dem Krieg 1871 in die Kolonie Algerien auswanderte, 1913 in Mondovi, nahe Algier geboren. Der Vater starb bereits nach einem Jahr im 1. Weltkrieg, so dass Camus unter kärglichsten Bedingungen in der Kasbah von Algier von seiner Mutter und Großmutter aufgezogen wurde. Camus starb 1960 bei einem Autounfall in Frankreich. Im zertrümmerten Fahrzeug fand man seine Mappe mit einem Manuskript, an dem er bis zu seinem Tod gearbeitet hatte. Es bestand aus 144 mit der Hand heruntergeschriebenen Seiten, manche ohne Punkt und Komma, es wurde also nie überarbeitet. Nur der Titel war klar: Der erste Mensch. Erst 1994 wagte seine Witwe, das Manuskript der Öffentlichkeit preiszugeben. Jetzt wissen wir, dass es sich um eine bewegende Autobiographie der algerischen Kindheit Albert Camus handelt, das intimste Selbstzeugnis, das der sonst diskrete und publikumsscheue Autor der Nachwelt unbeabsichtigt überlassen hat. Ein Kapitel von „Der erste Mensch“ trägt die Überschrift: Die Schule. In ihm schildert der Junge Jacques, unschwer als Camus identifizierbar, wie dort auf den „ersten Menschen“ traf: den Volksschullehrer Germain Louis, im Buch Monsieur Bernard genannt: „Mr. Bernard, sein Lehrer der letzten Volksschulklasse, hatte in einem bestimmten Moment sein ganzes Gewicht als Mann eingesetzt, um das Schicksal dieses Kindes zu ändern und er hatte es tatsächlich geändert“. (S. 119).

Abb. 2:  Camus Erster Lehrer - Louis Germain 


Er hatte den jungen Camus nämlich für die Aufnahme ins Lycee von Algier und für ein Stipendium vorgeschlagen, ein gewagter Schritt für einen Jungen aus dem Armenviertel, wo, wie Camus schreibt: „ Armut und Unwissenheit das Leben noch härter, trüber, wie in sich selbst gekehrt machten“, wo das Elend „wie eine Festung ohne Zugbrücke“ herrschte. Dazu musste der Lehrer zunächst den Jungen von dieser Chance, aufs Lycee zu gehen, überzeugen:

„Als die anderen Kandidaten hinausgegangen waren, setzte sich Mr. Bernard auf seinen Sessel und zog Jacques an sich: „Nun?“ „Meine Großmutter sagt, wir wären zu arm und ich müsste nächstes Jahr arbeiten“. „Und deine Mutter?“ „Meine Großmutter gibt die Befehle“. „Ich weiß“, sagte Mr. Bernard. „Hör zu, du musst sie verstehen. Das Leben ist schwierig für sie. Die beiden haben euch großgezogen, deinen Bruder und dich. Deshalb haben sie Angst, das ist normal. Trotz des Stipendiums müssen sie dich noch ein bisschen unterstützen und in jedem Fall wirst du sechs Jahre lang kein Geld nach Hause bringen. Verstehst du sie?“ Jacques nickte, ohne den Lehrer anzusehen. „Nimm deinen Ranzen, ich gehe mit dir!“ „Nach Hause?“- sagte Jacques. „Ja, klar, ich freue mich darauf, deine Mutter und Großmutter wiederzusehen“. Einen Moment später klopfte Mr. Bernard vor Jacques verdutzten Augen an seine Haustüre.

Lehrer Bernard überzeugte nicht nur die Großmutter, er gab dem jungen Camus unentgeltlich zusätzlichen Unterricht für die Aufnahmeprüfung und das Stipendium und begleitete ihn zur Prüfung in einem vornehmen Stadtviertel Algiers:

„Ein Pedell hatte die Tür geöffnet und las eine Liste vor. Jacques Name wurde als einer der ersten aufgerufen. Er hielt die Hand seines Lehrers fest, er zögerte. „Geh, mein Sohn“, sagte Mr. Bernard. Jacques trat zitternd auf die Tür zu und drehte sich beim Eintreten nach seinem Lehrer um. Da stand er, groß, zuverlässig, er lächelte Jacques ruhig zu und nickte“.

Abb. 3:  Albert Camus als Schüler in Algier


34 Jahre später erhielt dieser Junge - als einer der jüngsten Preisträger überhaupt, den Nobelpreis für Literatur. Am Tag der Preisverleihung, am 19. November 1957, schrieb er an den Lehrer:

„Ohne Sie, ohne ihre liebevolle Hand, die sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne ihre Unterweisung und ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, ihnen zu sagen, was sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme sie von ganzem Herzen. Albert Camus“. (S. 282)

Germain Louis (Mr. Bernard) schrieb zurück:

„Mein lieber Kleiner, 
Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: Das Recht, seine Wahrheit zu suchen. Ich habe euch alle geliebt und glaube mein Möglichstes getan zu haben, nicht meine Ideen zu äußern, und so eure junge Intelligenz zu belasten.... Ich habe die ständig anwachsende Liste deiner Werke gesehen, und ich kann mit großer Genugtuung feststellen, dass dein Ruhm dir nicht zu Kopf gestiegen ist. Du bist Camus geblieben. Bravo.“

Unterricht - so sagen viele, ist wie Sisyphosarbeit. Wie die Götter Sysyphos dazu verurteilt hatten, unablässig einen Felsblock den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel er selbst wieder hinunterrollte, versuchen wir Lehrer, den Stein, der in den Abgrund zu rollen scheint, aufzuhalten, hochzuwuchten auf den Berg, und für manche nimmt er immer wieder seinen Lauf. Manche glauben, es gäbe keine fürchterliche Strafe als eine solche unnütze und aussichtslose Arbeit und trauen sich nicht, sie zu beginnen. Albert Camus gehörte nicht zu diesen Menschen: In seinem wohl berühmtesten Werk, „Der Mythos von Sisyphos“ schreibt über die angeblich so absurde Freude des Sisyphos an seiner Arbeit:

„Darin besteht die ganz verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. ...Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennen-lernen. ... Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. ... Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges. Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steines, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“. (Der Mythos von Sisyphos, S. 127)