England ist mehr als London
Eine Projektskizze
Bernd und Hiltrud Hainmüller
London - das kann doch jeder...aber was ist mit dem Rest des Landes? Statt der sonst üblichen Sightseeingtour durch London wählten wir ein eher unübliches Ziel für die Klassenreise mit einer Zweijährigen Berufsfachschulklasse: Newcastle/Gateshead, eines der größten Ballungszentren in Nordengland nahe der Grenze zu Schottland, mit rund 600 000 Einwohnern. Hier schlug einst das Herz der industriellen Revolution. Heute schlägt hier freilich ein ganz anderes Herz: das des armen, von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Armut gekennzeichneten England. In manchem Stadtviertel liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50%, von der Langarbeitslosigkeit der Erwachsenen ganz zu schweigen. Kleinkriminalität, Vandalismus, Schulschwänzen, Straßengangs prägen das Bild einer ganzen Generation, die froh ist, wenn sie lernt zu überleben - egal wie.
Die Idee, uns mit dieser Wirklichkeit auseinanderzusetzen, entstand im September nach dem Privatbesuch des Leiters des Community Education Service der Stadt Gateshead, eine Art Jugend-Sozial-Erziehungsbehörde, in Freiburg. Er schlug uns vor, gemeinsam mit seinem Team von Sozialarbeitern einen Jugendaustausch mit einer Gruppe aus Gateshead, bestehend aus behinderten und nicht-behinderten Jugendlichen, und Breisacher Gewerbeschülern durchzuführen. Besuch und Gegenbesuch wurden realisiert im März und Juni 1994.
Unser Ziel war, den Schülern der 2BFE1 die Möglichkeit zu eröffnen, in direkten Kontakt mit der Lebenswirklichkeit englischer Jugendlicher zu treten, einen Einblick in deren Alltag zu gewinnen und daraus Schlußfolgerungen im Hinblick auf die eigene Lebenswirklichkeit zu ziehen. Wie leben Jugendliche in einem anderen Land? Wie ist das dort mit der Schule, den Arbeitsplätzen, der Freizeit, der Geschichte, der Kultur und den sozialen Problemen? Wir wollten Informationen über Nordengland aus »erster Hand« erhalten, gemeinsame Aktivitäten mit dortigen Jugendlichen durchführen und gleichzeitig das erworbene Schulenglisch anwenden und durch direkte Konversation um praktisch gesprochenes Englisch erweitern. Wir wollten den Schülern Gelegenheit geben, Fähigkeiten weiterzuentwickeln, die sie auf ihrem weiteren Lebensweg gebrauchen können. An diesen Zielen gemessen war die Klassenreise ein voller Erfolg.
Das Programm sah u.a. vor:
- Stadtführung durch Gateshead/Newcastle, Besuch von Crudders Park, einem »sozialen Brennpunkt« in Newcastle, Führung durch dortige Sozialarbeiter und Gespräche mit Bewohnern
- Klettern an einer Kletterwand in einem Inner City Outdoor Education Center
- Gemeinsames Segeln auf einem Stausee
- Gemeinsames Viertage-Camp im Lake District mit Canadierfahren auf dem Lake Ullswater, Segeln mit zwei Drascombe-Segelbooten, Canyoning (einen Wildbach im Wasser hinaufklettern), Bergwanderung, Nacht-Orientierungsjagd
- Ein ganztägiges Einzel-Praktikum in einer sozialen Einrichtung für Jugendliche in Gateshead Jugendzentrum, Arbeitslosenprojekte etc.) mit anschließender Auswertung
- Gesprächsgruppen mit Jugendlichen in einem Jugendzentrum über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Lebenssituation von Jugendlichen in Deutschland und in Nordengland
- Gemeinsamer Kegelabend und Bingo-Nacht.
Möglich war dieses vielfältige Programm deshalb, weil die Stadt Gateshead mit WING (Wayout in Gateshead) eine städtische Einrichtung besitzt, die für die gesamte offene Jugendarbeit zuständig ist. WING bietet Gemeinschaftsprogramme und sportliche Aktivitäten für junge und alte Latte sowie für Behinderte. Ziel dabei ist, daß die Gruppen sich selbst organisieren und mit ihren Angeboten in das Gemeinwesen hineinwirken. Arbeitslose und Jugendliche, die wenig Geld haben, sollen so die Chance bekommen, von der Straße wegzukommen und sich sinnvoll zu beschäftigen. Dazu gehören auch internationale Austausche. WING ist für diese Aufgabe von der Stadt und ihrem Community Education Service mit vielen Geräten und Ausrüstungsgegenständen für sportliche Aktivitäten ausge stattet. Verwaltet und gepflegt werden diese von den WING-Ausbildern. Außer der sportlichen Ausrüstung gibt es Gruppenräume, in denen Gruppenarbeit, Besprechungen und Vorbereitungen durchgeführt werden.
Unsere Schüler hatten so Gelegenheit, den demokratischen Stil des Umgangs miteinander einzuüben: Jeden Abend fand eine Versammlung statt, in der die Ereignisse des Tages ausgewertet und die Pläne für den nächsten Tag besprochen wurden. Einteilungen und Festlegungen erfolgten über Abstimmungen. So war jeder tatsächlich ins Geschehen eingebunden und wurde sich seiner Mitverantwortung bewußt.
Nach unserer Rückkehr wurde die Reise im fächerübergreifenden Unterricht (Englisch, Deutsch, Text verarbeitung mit PC, Gemeinschaftskunde) ausgewertet. Die Schüler erstellten eine Broschüre, in der sie den Aufenthalt durch Bilder und Texte dokumentierten. Nach dieser Klassenreise war das Klima in der Gruppe stark verbessert, und die Schüler betonen heute, wenn sie ihre »alte Schule« besuchen, daß der Englandaufenthalt zu den »Highlights« ihrer Schulzeit zählt.
Was war das Besondere an dieser Form von outdoor-Unterricht?
Segeln
Zum Beispiel müssen die Mitglieder der Bootsbesatzungen untereinander kooperieren und sich abstimmen, weil man ohne diese Koordination nicht nur nicht voran kommt, sondern auch Gefahr läuft zu kentern. Außerdem mußte auch in der gesamten [auf zwei Boote verteilten] Gruppe gut zusammengearbeitet werden, weil man immer auf Sichtweite zu seinem Nachbarn fährt. Das Bewußtsein ist vorhanden, daß es sich trotz der Aufteilung der Teilnehmer in zwei Boote um eine Sozietät handelt. Man hilft sich, wenn einer in Not oder Gefahr gerät. Als beim Segeln ein Boot tatsächlich beinahe gekentert wäre und dabei viel Wasser aufgenommen hat, war die Wettfahrt schnell beendet und unterstützende Kooperation angesagt.
»Glücklicherweise konnte uns unser Nachbarboot zwei Eimer zuwerfen, mit denen die Mannschaft bis zum Schwitzen begann, das Boot auszuleeren.«
Klettern
Auch andere Aktivitäten sind von der Natur der Sache oder in der Organisation so gestaltet, daß die Teilnehmer in ihrem Handeln aufeinander angewiesen sind, wie z. B. beim Klettern an der Kletterwand:
»Natürlich muß man beim Klettern auch auf eine gute Zusammenarbeit achten. So mußte man aufpassen, daß derjenige, der sich gerade in der Wand befand, nicht abstürzte.«
Als Fazit beschreibt ein Klassenmitglied, daß die Klasse durch die gemeinsamen Aktivitäten zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen sei, denn »wir waren stark auf die Zuverlässigkeit unserer Kameraden angewiesen, da davon der Erfolg und Ausgang einer Sache abhing, und so kam es, daß jeder versuchte, sich so gut, wie es ging, einzugliedern.« Er schreibt weiter, daß sich alle Teilnehmer nähergekommen seien. »Irgendwie war alles etwas familiärer geworden.« Die als Sekundärtugenden verunglimpften Tugenden wie Zuverlässigkeit, Einordnungsbereitschaft und Ehrlichkeit sind nach dieser Einschätzung also keine lästigen moralinsauren Pflichtübungen, sondern am Gruppeninteresse ausgerichtete Verhaltensweisen, die den individuellen Bedürfnissen entsprechen und die Erreichung des gemeinsamen Ziels ermöglichen. Die Einschätzung zeigt, daß hier echte Bindung zwischen den Klassenkameraden entstanden ist, eine positive Erlebnisqualität, die durch aktives, risikoreiches, gefahrenüberwindendes gemeinsames Handeln entstanden ist. Echte Bindung entwickelt sich also durch gemeinsames Handeln und nicht durch gemeinsamen Konsum aller möglichen Reize in der Überflußgesellschaft. Als Motto formuliert: Gemeinschaft von sich nahestehenden Kameraden statt folgenlose Kontakte, bei denen die Partner aus tauschbar sind!
Selbstverständlich muß der Prozeß des gemeinsamen Handelns von Pädagogen und Schülern reflexiv nachgesteuert werden, weil wir spätestens seit der Lagerpädagogik und anderen Instrumenten des NS-Staats wissen, daß der soziale Instinkt des Menschen immer auch für menschenverachtende Ziele mißbraucht und manipuliert werden kann. Die Klassenreise nach Gateshead zeigt indes ganz praktisch, wie das konkrete gemeinsame Handeln selbst in Vorbereitung, Durchführung und Nachlese durch ethische Reflexion begleitet wird: mit dem demokratischen Entscheidungsverfahren. Dabei wird nicht etwa folgenlos diskutiert, was man am nächsten Tag möglicherweise unternehmen könnte, sondern mehrheitlich abgestimmt, was man tatsächlich gemeinsam macht und wer welchen Beitrag dazu leisten kann und will. Wenn man seine Ziele selbst mitbestimmt, wird man von anderen ernstgenommen und muß sich zugleich selbst ernst nehmen, denn die Verantwortung folgt auf dem Fuße. Dies stellt eine hohe Motivation dar, sich aktiv an der Umsetzung zu beteiligen. Nimmt man die Charakterisierung des Menschen als animal sociale ernst, so kann man nicht umhin, die grundlegende Bedeutung des gemeinsamen Handelns für die Ausbildung der moralischen Grundformen herauszustellen - gerade in sogenannten Wohlstandsgesellschaften, wo das gemeinsame Handeln oftmals eben nicht mehr notwendig und deshalb auch nicht erfahrbar ist. Wie erkennen die Schüler in einer Bildunterschrift ganz richtig:
»Gemeinsam sind wir stark! Die Seilschaft hält auch den Blindgänger.«
Erfahrungs- und Informationsorientierung
Die Konfrontation mit den sozialen und ökonomischen Problemen größerer Bevölkerungskreise in Gateshead hat die Jugendlichen nicht nur kognitiv, sondern zunächst emotional erreicht. »Für mich war dieser Englandaufenthalt ein sehr großer Entwicklungsschritt. Wenn man sozusagen mal ,live' dabei ist und dieses Elend sieht, fragt man sich immer wieder, wie so etwas ... nur möglich ist.« Während die Gleichaltrigen aus begüterten Familien im Freizeitpark ihrem Vergnügen nachgehen, werden Neun bis Elfjährige zu Straßenkindern. Die Faszination darüber, daß jugendliche Kriminelle beim joy-riding gestohlene Autos zu Schrott fahren, wird dadurch konterkariert, daß genau diese Jugendlichen in einen Teufelskreis von Armut und Kriminalität geraten sind, aus dem herauszukommen sie kaum eine Chance haben. Die Einrichtung Wing der Gateshead-Community Education, in der die Schüler selbst das 4-Tage Camp durchgeführt haben, hat das Ziel, gerade die sen Drop-outs durch gemeinsame Aktionen das Selbstvertrauen zu geben, das sie in Arbeitslosigkeit und großenteils zerrütteten Familienverhältnissen selbst nicht aufbauen konnten. Durch die unmittelbare Konfrontation werden diese Probleme wesentlich konkreter, als wenn sie lediglich in der Schule vermittelt werden.
Dieses In-Berührung-Bringen mit den ganz realen Problemen, die Menschen haben, ist zunächst auf die Empathie gerichtet; doch bei Betroffenheit und Mitgefühl soll es nicht sein Bewenden haben. Wenn aber dadurch ein allgemeines Problem zum Problem der Schüler werden kann, so ist dies im Sinne einer Motivation zur (ethischen) Reflexion ein probates Mittel.
Ein aktuelles Ereignis zeigt, wie wichtig grenzüberschreitende Erfahrungen sind, wie die Klassenreise nach Gateshead eine war. Denn nationalistische Töne, die seit dem Verbot britischer Rinderprodukte in der EU wegen der Seuche BSE gegenüber Deutschland immer wieder und verstärkt zu hören sind, zeigen, daß man nicht unterschätzen darf, wie wichtig es ist, bislang unbekannte Menschen kennenzulernen und Kooperation über nationale, ethnische und Religionsgrenzen einzuüben. Wenn man sich kennt, kann man sich in den anderen hineinversetzen. Dadurch werden Pauschalurteile schwieriger, das Verständnis wächst und man erhält die Gelegenheit zu erfahren, daß der andere einem selbst ähnlich ist! Das andere Essen, das unterschiedliche Klima, die anderen Gaststätten, das Leben im Pub, man muß es kennenlernen, ehe man es schätzen oder akzeptieren kann. Dadurch und durch eine reflexive Nachbereitung, wie sie beispielsweise in den Berichten der Teilnehmer deutlich wird, können spontane Ab und Ausgrenzungsreaktionen eingefangen und z.T. sogar ins Gegenteil gewendet werden.
Fazit Die fröhliche Moral
Die Ansprache der individuellen Motive, wie die Bindung beispielsweise eines ist, aktiviert moralisches Handeln direkt, ohne den Umweg über die Reflexion! Die Grundlage bietet die oftmals ge schmähte sozietäre Moral, die durch gemeinsames Handeln erlebt werden kann. Selbstverständlich besteht der pädagogisch-advokatorische Auftrag darin, den Sinn der Kinder für möglichen Mißbrauch, Zielakzeptanz und Entscheidungsverfahren zu schärfen, damit sie schließlich zu autonomen ethisch reflektierenden Subjekten werden. Reflektiert kann allerdings nur etwas werden, was in Form einer manifesten Erfahrung, einer emotionalen Grundlage bereits vorhanden ist. Eine wichtige Frage ist, wie man die Freude am moralischen Handeln außer in Klassenfahrten, Theater AG und Schülermitverwaltung verstärkt auch im Regelunterricht vermitteln kann.
Einige Monate später war die offizielle Eröffnung von WING durch Her Royal Highness, Princes Anne, zu der die Leiter eingeladen wurden.