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Du hast keine Chance, also nutze sie

Fächerübergreifende Unterrichtseinheit für die Fächer Biologie und Ethik oder Impulse für einen Seminarkurs

Hiltrud Hainmüller

Für die Erkundung disziplinübergreifender Wissens­gebiete braucht es Grenzgänger, Forscher wie Joachim Bauer.[1] Bauer vertritt in einer Doppelfunktion (als Neurobiologe und Psychiater) die These, dass das biologische Terrain unserer Entscheidungsfindungen durch sowohl physische als auch psychische Bedürfnisse stark geprägt ist. Es seien vor allem die sozialen Beziehungen, die unsere Motivationen bestimmen. Menschen, die früh sichere Bindungen erleben und in guten Beziehungen stehen, erfahren, dass ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Sicherheit befriedigt wird. Sie entwickeln ungleich mehr Entscheidungsoptionen und verfügen dadurch über einen größeren Freiheitsspielraum als Menschen, die andere Erfahrungen machen: »Überall da, wo zwischenmenschliche Beziehungen quantitativ und qualitativ abnehmen, nehmen Gesundheitsstörungen zu.«[2] Und: »Wir selbst wirken durch die Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidend daran mit, was sich biologisch in uns abspielt. Aus dem, was wir über die biologische Bedeutung sozialer Beziehungen heute wissen, ergibt sich eine neue Dimension der Verantwortung.«[3]

Mit diesen Ergebnissen spricht Bauer Fragen der Ethik und der Biologie an. Das, »was sich biologisch in uns abspielt«, betrifft das Fach Biologie und ist im Oberstufenlehrplan als Lehr- und Lernstoff enthalten: Genetik, Anatomie und Funktionsweise des Gehirns, Wirkungsweise des Immun- und Hormonsystems, Zusammenhänge zwischen Psyche, Stress und Immunsystem. Wenn - um ein Beispiel zu nennen - in Biologie das Gehirn behandelt wird, reicht es nicht aus, sich auf die Darstellung einer »Anatomie des Gehirns« zu beschränken. Auch Systeme innerhalb des Körpers und die Wechselwirkung zwischen Mensch, Körper und Umwelt müssen, ausgehend vom neusten Stand der Wissenschaft, erklärt werden. Und wenn von einer »neuen Dimension der Verantwortung« die Rede ist, dann ist die Ethik gefordert: Sie wiederum muss ihre Aufmerksamkeit auch auf das biologische Terrain richten, auf dem unsere Entscheidungen getroffen werden. Zeitgemäßer Unterricht muss also beide Wissenschaftsdisziplinen enger aneinander rücken und zeigen, wie sie miteinander verzahnt sind und wechselseitig voneinander lernen können - auch wenn dieser Verständigungsprozess zwischen verschiedenen Disziplinen gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Es gilt, Denk- und Sprachbarrieren zu überwinden sowie Begriffe und deren Semantik nach Bereichen unterscheiden zu lernen.

Hinweise zur Durchführung einer fächerübergreifenden Einheit

Der Einstieg erfolgt im Ethikunterricht über die Karikatur (M 1) und drei verschiedene Quellen (M 2 - M 4), die für drei verschiedene philosophische Richtungen stehen (Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus). Durch diesen Einstieg soll vor allem ein Fragenterrain eröffnet werden. Die Schüler sollen auch vorläufige eigene Thesen zur Beantwortung der Frage: »Wie frei ist der Mensch?« entwickeln dürfen. Im Biologieunterricht kann das biologische »Terrain« der Entscheidungsfindung anhand des Schaubilds von Joachim Bauer entwickelt werden (M 5). Fächer­ übergreifend erfolgt ein Transfer dieser Erkenntnisse auf den schulischen Bereich sowie die Diskussion des Interviews mit Joachim Bauer (M 5a). Interessierte Oberstufenschüler können auch das Buch »Das Gedächtnis des Körpers« vor der Klasse referieren. Anschließend kann im Ethikunterricht anhand des Textes von Wilhelm Schmid (M 6)reflektiert werden, welche Spielräume uns das Leben bietet. Der Text eignet sich insofern gut, als hier schülernah ein Vergleich zwischen den Regeln und Bedingungen des Fußballspiels und denen des Lebens angestellt wird. Schmid öffnet den Blick dafür, dass es oft der Umgang mit dem »Widerständigen« ist, der sich als Chance erweist, wenn man versteht, das, was einem »zufällt «, zu nutzen. Den Abschluss der Einheit bildet ein handlungsorientierter Text von Peter Bieri (M 7),in welchem die »drei Dimensionen der Aneignung des bedingt freien Willens« zur Diskussion gestellt werden. Dessen drei Dimensionen Artikulation, Verstehen, Bewerten können von Schülern vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenspraxi s reflektiert und als Werkzeuge im Umgang mit der Freiheit angeeignet werden.

1. Einstieg: »Es lebe die Freiheit!«

KarikaturAbb. 1: Karikatur

Die Karikatur (M 1) dient als Problemaufriss. In einer Bildbeschreibung sollen die Schüler alle Details (genau hinschauen, nicht mit oberflächlicher Beschreibung zufrieden geben) auf der Bild- und Bedeutungsebene erfassen - Bänder, Brille, Outfit, Stimmung usw. Die Bänder können beschriftet werden mit Begriffen, die auf freiheitsberaubende Bindungen hinweisen, zum Beispiel an den Vorgesetzten, die Ehefrau usw. In Einzelarbeit sollen sie dann den Fragen nachgehen: Wo bin ich selbst schon mal kräftig auf die Nase gefallen? Was hat mich zu Fall gebracht? Dazu kann eine weitere Comicsequenz gezeichnet werden.

Das Unterrichtsgespräch ergibt eine Differenzierung von verschiedenen Aspekten, die unsere Freiheit einschränken: innere und äußere, gesellschaftliche oder individuelle, physiologische und psychische Faktoren. Häufig werden hier schon die »Schuldfrage« und der Umgang mit der Freiheit reflektiert. Das Ergebnis wird in Frageform festgehalten: Sind wir wirklich so frei, wie wir denken? Was müssen wir tun, um die Fallstricke zu erkennen? Was hindert uns am Perspektivenwechsel? Gibt es eine Hierarchie verschiedener Faktoren? Binden wir uns nicht oft selber an oder legen uns selber Fesseln an? Welche »Bänder« brauchen wir, welche lassen sich kappen? Können wir überhaupt alle Bänder wahrnehmen? Gibt es Fesseln, von denen man sich lösen kann, gibt es Fesseln, die sich nie lösen lassen? Worin besteht der Unterschied zwischen einer Fessel und einem Band des Vertrauens?

2. Der Mensch im Spannungsfeld von »Ich« und »Es«

Anhand der drei Texte von Bieri, d'Holbach und Schlink können die Argumente des Indeterminismus und des Determinismus herausgearbeitet werden sowie die beiden Positionen des Kompatibilismus und Inkompatibilismus. Bei Peter Bieri finden sich die Hauptargumente des Indeterminismus: Wir können als Menschen immer wieder einen neuen Anfang setzen, wir verfügen über kreative Spontaneität. Paul­ Henri Thiry d'Holbach dagegen argumentiert als Determinist: Für ihn ist der Mensch in keinem Augenblick seines Lebens frei, und er begründet dies mit scharfzüngigen gesellschafts- und moralkritischen Argumenten (man beachte die Entstehungszeit!). Bernhard Schlink wirft die Frage auf, wie sich Denken und Handeln zusammenfügen, und beschreibt in den Kategorien Freuds die Schwankungen der menschlichen Seele zwischen »Ich« und »Es«. Er kommt zu dem Ergebnis, dass scheinbar unberechenbare Handlungen einem Muster folgen, wobei das Prinzip der Urheberschaft gilt ( mein Denken, mein Handeln). Damit begibt er sich in die Nähe des Kompatibilismus, welcher eine Verbindung zwischen Determinismus und Willensfreiheit für möglich hält. Peter Bieri beschreibt die Erfahrung von Willensfreiheit in einer bestimmten Welt mit dem Begriff des »bedingt freien Willens« - ein Modell, das in einer Gesamtschau aller drei Quellen und im Vergleich mit eigenen, von den Schülern entwickelten Thesen als Denkangebot (siehe Arbeitsaufgaben zu den Quellen) vorgestellt werden kann.

M 2: Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit

Eines Morgens, wollen wir annehmen, wachen Sie mit dem Willen auf umzuziehen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie in die jetzige Wohnung gezogen sind, es ist Ihnen darin gutgegangen, Sie haben viel Geld investiert, und noch gestern Abend haben Sie den bewundernden Gästen auf der Einweihungsparty erklärt, hier würden Sie nie wieder ausziehen. Doch jetzt, beim Frühstück, spüren Sie den klaren und festen Willen, die Wohnung zu wechseln. Es berührt Sie seltsam, dass es so ist, aber gegen diesen überraschenden Willen ist nichts zu machen. Natürlich könnte es sein, dass er Sie schon auf dem Weg zum Makler wieder verlässt, aber wir wollen annehmen, dass er anhält, bis Sie eine neue Wohnung gefunden und die alte gekündigt haben. »Sag mal, spinnst du?«, fragen die  Freunde. »Wieso«, sagen Sie, »das ist doch das Schöne an der Freiheit: dass man immer wieder ganz neu anfangen kann.« »Ja, aber warum um Himmels willen willst du dort schon wieder raus? Es hat dir doch so gut gefallen, vom Geld einmal ganz zu schweigen.« »Ich will es halt einfach und genieße es, keinen Grund angeben zu müssen. Ich fühle mich dabei so richtig frei.« [...]

(Aus: Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Wien 2001)

M 3: Paul-Henri Thiry d'Holbach: Die Handlungen des Menschen sind niemals frei

Mit einem Wort: die Handlungen der Menschen sind niemals frei; sie sind immer notwendige Folgen ihres Temperaments, ihrer von außen empfangenen Ideen, der wahren oder falschen Begriffe, die sich die Menschen vom Glück machen, und schließlich ihrer durch Beispiel, Erziehung und tägliche Erfahrung bestärkten Anschauungen. Auf der Erde gibt es nur deshalb so viele Verbrechen, weil alles darauf hinwirkt, die Menschen verbrecherisch und lasterhaft zu machen; ihre Religionen, ihre Regierungen, ihre Erziehung, ihre Beispiele, die sie vor Augen haben, treiben sie unwiderstehlich zum Bösen hin, dann fordert die Moral sie vergeblich zur Tugend auf. Aber in solchen Gesellschaften, in denen das Laster und das Verbrechen dauernd gekrönt, geachtet und belohnt werden ­ und in denen die schrecklichsten Schandtaten nur bei denen bestraft werden, die zu schwach sind, um das Recht zu haben, sie ungestraft begehen zu können, kann die Tugend nur eine schmerzliche Opferung des Glücks sein. Die Gesellschaft züchtigt die Kleinen für Vergehen, die sie bei den Großen achtet, und oft ist sie so ungerecht, diejenigen zum Tode zu verurteilen, die durch die öffentlichen Vorurteile, die durch die Gesellschaft gefördert werden, und schuldig geworden sind. Der Mensch ist also in keinem Augenblick seines Lebens frei; er wird bei jedem Schritt notwendig durch die wirklichen oder scheinbaren Vorteile geleitet, die er denjenigen Gegenständen beimisst, die seine Leidenschaften erregen.

(Aus: Paul Henri Thiry d'Holbach: System der Natur. Berlin: Aufbau Verlag 1960, S. 92 f.)

M 4: Bernhard Schlink: Handlungsmuster

In seinem Roman »Der Vorleser« erzählt Bernhard Schlink die Geschichte einer höchst ungewöhnlichen Liebesbeziehung zwischen einem fünfzehnjährigen Jungen und einer erwachsenen Frau. Der Junge - später Anwalt von Beruf - versucht im Nachhinein, seine Handlungsweise zu begründen: »Ich weiß nicht, warum ich es tat. Aber ich erkenne heute im damaligen Geschehen das Muster, nach dem sich mein Leben lang Denken und Handeln zueinander gefügt oder nicht zueinander gefügt haben. Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, dass das Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muss. Oft genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür ich mich entschieden hatte. Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten die Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe, das Rauchen abzugewöhnen, und gibt das Rauchen auf, nachdem ich eingesehen habe, dass ich Raucher bin und bleiben werde. Ich meine nicht, dass Denken und Entscheiden keinen Einfluss auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden einem wurde. Es hat seine eigene Quelle und ist auf ebenso eigenständige Weise mein Handeln, wie mein Denken mein Denken ist und mein Entscheiden mein Entscheiden.«

(Aus: Bernhard Schlink: Der Vorleser, 1995 Zürich)

Die Arbeitsfragen können für alle drei Quellen gleich lauten (die Bearbeitung ist auch arbeitsteilig in Gruppen möglich): 

  • Stellen Sie dar, wie sich der Autor zu Willens- und Handlungsfreiheit äußert. 
  • Finden Sie heraus, was in der Darstellung nicht ganz stimmig erscheint oder sogar Widerspruch hervorruft. Halten Sie die Fragen an den Text fest (zum Beispiel: Stimmt das überhaupt, was d'Holbach über Religion und Moral schreibt? Stellt das nicht die Verhältnisse auf den Kopf? Ist es nicht eine unreife Handlung, beliebig oft umzuziehen? usw.) 
  • Ergänzen Sie die Beispiele der Autoren um eigene Beispiele und Erfahrungen. 
  • Entwickeln Sie eine eigene These zu Willensfreiheit und Handlungsfreiheit.

3. Das neurobiologische Terrain für Entscheidungsfindung

Die Neurobiologie kann zeigen, dass sich unsere Motivationen, die bei einer Entscheidungsfindung maßgebend sind, aus verschiedenen Quellen speisen. So gibt es verschiedene Bedürfnisse, die ein ganzes komplexes System bilden, welches darauf ausgerichtet ist, in Balance gehalten zu werden. Um dieses komplizierte System anschaulich darzustellen, ordnet Joachim Bauer menschliche Bedürfnisse nach vier Bereichen, die gleichermaßen von Bedeutung sind, und zwar in 

  • biologische Bedürfnisse zur Erhaltung der inneren Homöostase (Wärme, Durst, Hunger, Körperkontakt, Bewegungsdrang, Sexualität);
  • das des Selbsterhalts gegenüber äußeren Gefahren (Vermeidung, Flucht, Kampf);
  • soziale Bedürfnisse (Spiegelung, Bindung, soziale Abstimmung von Verhalten inklusive Lernen);
  • das nach Sicherung von Bindung (Anpassungsverhalten, Verzicht, aktives Bemühen).

Freiheit der EntscheidungAbb. 2: Freiheit der Entscheidung

Der Blick auf die Beschaffenheit der biologischen Systeme zeigt, dass wir über ein gutes Potenzial zur Reflexion, Introspektion, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit verfügen. Je besser die Bindungen und Beziehungen sind, in denen wir leben, desto zahlreicher sind unsere verschiedenen Optionen. Der Blick zeigt aber auch, wie störanfällig dieses Potenzial ist und welche dieser Störungen »hausgemacht« sind und somit vermeidbar wären.

Die Arbeit mit M 5 "Freiheit der Entscheidung" erfolgt jeweils in Gruppen, die auf einer Wandzeitung zu den vier Kreisen ihre Beobachtungen in Bezug auf das Schulleben notieren. Diese Aufgabe wird von Schülern erfahrungsgemäß mit viel Engagement gelöst, da sie hier »Experten« sind. Es ist jedoch wichtig, in die Fragestellung das je eigene Schülerverhalten mit einzubeziehen, um eine Schieflage zu vermeiden.

M 5 a) Interview mit dem Neurobiologen und Psychiater Joachim Bauer, Freiburg

Der Titel Ihres Buches »Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern« löste bei einigen Kollegen und Schülern Stirnrunzeln aus. Natürlich ist bekannt, dass Beziehungen und Lebensstile unsere Entwicklung beeinflussen, aber unsere genetische Ausstattung wird als Erbe angesehen, durch welches wir festgelegt sind, mit dem wir uns einfach abfinden müssen. Was veranlasst Sie zu der Behauptung, Gene könnten gesteuert werden?

Bauer: Gene sind Produktionsstätten für die biologischen Bausteine des Körpers. Bei dieser Produktion gibt es zwei Aspekte: Was produziert das Gen, und wieviel produziert es? Das Was, also die Eigenschaft des Genprodukts, ist unveränderlich und wird über die DNA-Sequenz des betreffenden Gens weitervererbt, entsprechend den Mendelschen Gesetzen. Daran können Umwelteinflüsse nichts ändern. (Ausnahmen sind chemische Gifte oder radioaktive Strahlung, welche eine dauerhafte Veränderung der DNA-Sequenz, also eine so genannte Mutation verursachen können.) Worauf die Umwelt bei den Genen allerdings permanent Einfluss nimmt, das ist das Wieviel. Ob ein Gen stärker »angeschaltet« oder in seiner Aktivität gebremst wird, wird fortlaufend durch Umwelteinflüsse reguliert. Wir sprechen hier von »Genregulation«. Genregulierende Umwelteinflüsse haben ihre Quelle zum Beispiel in der Nahrung oder in klimatischen Einflüssen, vor allem aber auch in zwischenmenschlichen Abläufen, die in unserem Gehirn in bioelektrische und biochemische Prozesse verwandelt werden. Dauerhafte Störungen der Genregulation können zu Erkrankungen führen. Die überwiegende Zahl der alltäglichen Erkrankungen wird durch Störungen in der Genregulation  verursacht.

Stress kann in unseren Hirnstrukturen ein »Panikorchester« aufspielen lassen. Wie lässt sich das, was Stress in uns verursacht, auf der physiologischen Ebene beschreiben? Warum kann man sagen, dass Stress sogar krank macht?

Bauer: Die Art und Qualität dessen, was wir zwischen­ menschlich erleben, beeinflusst den »Mix« von Botenstoffen, den das Gehirn daraufhin ausschüttet. Gute zwischenmenschliche Beziehungen - ganz besonders Zuwendung, Zärtlichkeit und Liebe -führen im Gehirn zur Ausschüttung von Glücksbotenstoffen, zum Beispiel von endogenen Opioiden, von Dopamin oder von Oxytocin. Da unser Gehirn nach diesen Botenstoffen süchtig ist, brauchen wir gute Beziehungen. Wenn einem Menschen das nicht gelingt, steigt die Gefahr, dass er sich die Ausschüttung der genannten Botenstoffe über stoffgebundene Süchte besorgt. Einsamkeit und Entzug von Beziehungen haben demgegenüber zur Folge, dass im Gehirn Stress-Gene aktiviert werden, die im Körper eine Reihe von Alarmsymptomen auslösen, zum Beispiel Angstgefühle, Panik, Zittern, Herzrasen oder Störungen des Magens und des Darmes. Wenn wir das stressauslösende Problem rasch lösen können, sodass die Stressreaktion nur kurze Zeit anhält, handelt es sich um guten Stress. Wenn sich der Stressor nicht beseitigen lässt, dann kann der Dauerstress Organe beschädigen und krank machen.

Stress wird nicht selten auch von Schülern als Erklärung für nicht erledigte Aufgaben oder mangelhafte Leistung ins Feld geführt - häufig im Zusammenhang mit Beziehungen. »Ich hatte Stress mit Eltern, mit der Freundin, mit dem Lehrer, deshalb konnte ich nicht...« Wieviel Stress können wir uns eigentlich zumuten? Bewirkt nicht manch­ mal auch ein gewisser Druck Leistungssteigerung - oder ist Stress grundsätzlich kontraproduktiv?

Bauer: Schülerinnen und Schüler haben oft Recht, wenn sie darüber klagen, dass sie zu Hause »Stress« haben. Wenn Kinder nur Leistungsdruck erleben, ohne dass erwachsene Bezugspersonen ihnen auch helfen, sie unterstützen und Zeit für sie haben, dann ist das negativer Stress. Druck ist nur dann produktiv, wenn das Kind oder der Jugendliche auch menschlich unterstützt wird. Die Beziehung der Erwachsenen zu den Kindern ist viel zu stark von Leistungsdruck bestimmt. Wir Erwachsene haben viel zu wenig Zeit für Kinder, vor allem viel zu wenig Zeit für gemeinsame Erlebnisse spielerischer Art, sei es beim Spiel zu Hause, sei es draußen, auf dem Fußballplatz oder sonstwo.

Nahezu jeder weiß heute, dass zu viel Alkohol der Leber schadet, weil sie für die Entgiftung des Körpers zuständig ist - die Kenntnis der Funktion der Leber gehört zur Allgemeinbildung. Dagegen wissen wir oft wenig über die Funktion des limbischen Systems, des Hippocampus, des Hypothalamus und des Gyrus Cinguli, Teile des Gehirns, die - will man Hirnforschern glauben - etwas mit unserem Selbstwertgefühl zu tun haben. Was sollten wir Ihrer Meinung nach über diese Teile unseres Gehirns unbedingt wissen?

Bauer: Was wir wissen sollten, ist, dass unser Gehirn alles mitbekommt, was wir erleben, sogar das, was an unserem Bewusstsein vorbeigeht. Wir sollten wissen, dass alle Wahrnehmungen gespeichert werden und Einfluss auf die Biologie unseres Körpers haben. Wir sollten wissen, dass ohne gute zwischenmenschliche Beziehungen neurobiologisch nichts Gescheites laufen kann, weder in Richtung Glücklichsein noch in Richtung Lernen. Und wir sollten wissen, dass ungute Dinge, die wir uns in hoher Dosis ansehen oder als Spiel einüben - ich denke hier an Gewaltspiele am PC oder an Gewaltvideos - in unserem Gehirn schlimme Spuren hinterlassen, die zu psychischen Störungen, zu Depression, zu Angst und sogar eigenem gewalttätigen Verhalten führen können.

»Erst kommt das Fressen, dann die Moral« - ein weit verbreiteter Spruch, wenn es um Prioritäten von Bedürfnissen und Motivationen geht. In der Neurobiologie wird jedoch darauf verwiesen, dass es ein ganzes Terrain von Bedürfnissen gibt, die bei Entscheidungsfindungen relevant sind. Inwiefern sind »soziale Bedürfnisse« und »Sicherung von Bindungen« in diesem Terrain so wichtig, und haben sie dieselbe Bedeutung wie biologische Bedürfnisse zur Erhaltung der inneren Homöostase und die Bedürfnisse des Selbsterhalts gegenüber äußeren Gefahren?

Bauer: Der oben genannte Spruch sollte in früherer Zeit einmal darauf hinweisen, dass man keine guten Beziehungen, auch keine Moral aufbauen kann, wenn es den Menschen am Nötigsten fehlt, zum Beispiel an der Nahrung. Das gilt auch heute noch. Wir haben eine steigende Armut. Unsere Armut sieht heute aber etwas anders aus als früher. Viele Kinder leben in Familien, wo das Kind überhaupt nicht gefördert wird. Die moderne Armut zeigt sich vor allem daran, dass Kinder keine helfenden Erwachsenen mehr haben, die ihnen Hilfe und Unterstützung für ihre Bildung und Ausbildung geben. Stattdessen werden Kinder, mitunter schon im Kleinkindalter, mit Medienangeboten abgespeist. Dafür zahlen wir einen hohen Preis. Studien zeigen, dass zum Beispiel das Ausmaß an Bildschirmkonsum in direktem Verhältnis zu dem Risiko steht, an einer Aufmerksamkeitsstörung (ADS) zu erkranken.

Wenn Beziehungen und Lebensstile die Ausbildung unserer neuronalen Netzwerke schon in der frühen Kindheit so stark beeinflussen und uns vieles, was da geprägt wurde, unbewusst ist, heißt das, dass von einem gewissen Alter an alles »gelaufen« ist?

Bauer: Nein, die Entwicklung des Gehirns hört zeitlebens nicht auf. Was wir an Belastendem ertragen mussten, können wir durch neue, gute Erfahrungen nach und nach verarbeiten. Gerade schlimme Erfahrungen können dazu führen, dass ein Mensch später besonders gute Qualitäten entwickelt.

Die Neurobiologie beschreibt das Gehirn als ein Organ, welches in neuronalen Netzwerken funktioniert. Verhalten ist in biologischen Systemen nicht Wirkung einer Ursache, sondern das Ergebnis eines Selbstorganisationsprozesses, in dessen Verlauf ein Abgleich von Signalen und eine Auswahl unter mehreren Möglichkeiten stattfindet. Wie würden Sie einem Laien diesen komplizierten Prozess mit einfachen Worten zu erklären versuchen?

Bauer: In der einfachen Physik haben wir klare Kausalitäten, jede zu beobachtende Wirkung hat eine Ursache, aus A folgt B. Das Verhalten von lebenden Wesen ist nicht die Wirkung einer Ursache. Die Biologie ist keine zweite Physik. Wenn Sie sich nur den Körper eines Lebewesens anschauen, unter Außerachtlassung des Lebendigen, dann gelten natürlich auch hier nur die Regeln der Physik und der Chemie: Wenn Sie mit einem Hammer auf eine Fliege schlagen, ist es eben aus. Das Verhalten von Lebewesen unterliegt aber nicht den Grundsätzen der Chemie oder der Physik, es funktioniert grundlegend anders: Lebewesen nehmen aus der Umwelt Signale wahr, für die sie Rezeptoren haben (die fünf Sinne sind solche Rezeptoren-Systeme). Die über diese Rezeptoren wahrgenommenen Signale werden von Lebewesen intern registriert und mithilfe verschiedener Bewertungssystemen bewertet. In der Regel ergeben sich daraus für das Lebewesen mehrere Reaktionsmöglichkeiten, aus denen eine ausgewählt wird. Darauf, welche Reaktion ausgewählt wird, haben viele Faktoren Einfluss, zum Beispiel frühere Erfahrungen in einer ähnlichen Situation oder die aktuelle Bedürfnislage des Organismus.

Zur Zeit wird zwischen Hirnforschern und Philosophen eine erbitterte Auseinandersetzung um den so genannten »freien Willen« geführt - ist er nun »frei«, »bedingt frei« oder eine »Selbsttäuschung« - also »total determiniert«? Sind das nicht Scheingefechte? Könnte es nicht in Philosophie und Ethik ebenso darum gehen, in Netzwerken, das heißt systemisch zu denken?

Bauer: Das Problem ist, dass der »freie Wille« in teilweise unsinniger Weise definiert wurde. »Freier Wille« kann nicht heißen, dass ich mich selbst oder dass ich mir die Welt neu erfinden kann. »Freier Wille« findet immer in einer vorgegebenen, durch zahlreiche Umstände bedingten Welt statt. »Freier Wille« aus neurobiologischer Sicht heißt, dass ich mit meinem Verhalten in einer gegebenen Situation zwei oder mehrere Handlungsalternativen abwägen kann. Die durchschnittliche Lebens-erfahrung eines Menschen bringt es mit sich, dass in unseren neuronalen Netzwerken für jede gegebene Situation mehrere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, unter denen wir auswählen können. Ein Kind hat diese Wahlmöglichkeiten noch nicht. Bei einem Erwachsenen kann der freie Wille durch Erkrankungen des Gehirns, durch eine Extremsituation, aber auch durch schwere psychische Störungen eingeschränkt sein. Beim gesunden Erwachsenen besteht jedoch in den meisten Situationen die Möglichkeit, eine besonnene Wahl unter mehreren Möglichkeiten zu treffen.

Wenn Gesundheitsstörungen da zunehmen, wo Beziehungen qualitativ und quantitativ abnehmen, ergibt sich dann nicht eine neue Dimension von Verantwortung für den Umgang miteinander - sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder in partnerschaftlichen Beziehungen?

Bauer: Die Verantwortung, sich mitmenschlich zu verhalten, gab es schon bisher. Was wir jetzt wissen, ist lediglich, dass es auch aus neurobiologischer Sicht einige gute Grün­ de dafür gibt, dass wir uns um mitmenschliches Verhalten bemühen.

Die Fragen stellte Hiltrud Hainmüller.

4. Das Terrain unserer Lebenswirklichkeit - das Fußballspiel als Metapher für Lebenskunst

Um das psychische, geistige und intersubjektive Ter­rain unserer Möglichkeiten zu erkunden, eignet sich die Bearbeitung eines Artikels von Wilhelm Schmid. Die Metapher des Fußballspiels dient ihm als Folie, über Lebenswirklichkeit und Lebenskunst, Zufall und Notwendigkeit nachzudenken. Diese Art der Betrachtung weckt auch bei Schülern Interesse, die zwar mit Sport viel, mit Philosophie jedoch wenig am Hut haben. Sie entdecken Parallelen, die mit ihrem eigenen Leben und seinen jeweiligen Konfliktlagen zu tun haben. Da sie auf diesem Gebiet über einen reichen Erfahrungsschatz verfügen, fallen ihnen weit mehr als die zwanzig von Schmid genannten ein (erst recht nach dem jüngsten Schiedsrichterskandal), sodass sie zu eigenständigem Philosophieren angeregt werden können. Auch die Übung der Verknüpfung mit den biologischen Systemen, die zuvor an der Schulwirklichkeit vorgenommen wurde, kann jetzt nochmals am Beispiel des Spiels wiederholt werden, um eine ganz­heitliche Auffassung vom »Selbstorganisationsprozess« unseres Lebens zu gewinnen.

M 6: Ist das Leben ein Spiel? Wilhelm Schmids philosophische Überlegungen zur Lebenskunst

Eine mögliche Deutung des Lebens ist, es als Spiel zu verstehen. Die Idee des Lebens als Spiel ist für viele Menschen faszinierend, und der Lebenskunst wird zugetraut, im Leben ein Spiel zu sehen. [...] Was aber ist ein »Spiel«? Vielleicht kann das Fußballspiel herangezogen werden, um all die Aspekte ausfindig zu machen, die ein Spiel kennzeichnen und die womöglich für das Leben, das zum Spiel wird, von Bedeutung sind. Ein räumlicher Rahmen, der Fußballplatz. Eine zeitliche Begrenzung, die Spielzeit. Ein Objekt, mit dem gespielt wird, der Ball. Mehr als einer, der spielt, sodass einem auch »mitgespielt« werden kann. Regeln, die zu beachten, insgeheim jedoch auch mal zu umgehen sind. Taktik und Strategie, die durch Einzelaktionen hindurch strukturierend wirken. Kreativität, um die Möglichkeiten der jeweiligen Situation zu sehen, sie vielleicht überhaupt erst zu schaffen, etwas Neues zu versuchen und auszuprobieren. Offenheit für Zufälligkeit, um mit dem zu spielen, was sich von selbst ergibt. Technisches Können, zusammengesetzt aus Einzelbewegungen, Varianten, Handlungsabläufen, ganzen Spielzügen, die unentwegt und unverdrossen geübt und trainiert werden müssen. Die Beherrschung von Tricks, nicht immer regelkonform. Ein feines Gespür und ein »geübter Blick«, ausgebildet durch mannigfache Erfahrung und ihre Reflexion. Miteinander verbunden zur Klugheit: die Emotion als Triebkraft, die Kognition als theoretische Kenntnis der Strukturen. Eine Klärung und Organisation des inneren Machtspiels im Selbst, denn ein unbeherrschter Spieler darf irgendwann »nicht mehr mitspielen«. Ein äußeres Machtspiel mit »dem Gegner«, der zwar das Problem des Spiels darstellt, in Wahrheit jedoch dessen Garant ist, denn er sorgt für Polarität und somit für Spannung. Eine Organisation des Zusammenspiels mit Mitspielern, da sich so weitaus mehr Möglichkeiten als beim Alleingang realisieren lassen. [...] Darüber hinaus fallen einige Differenzen zwischen dem Spiel und dem Leben als Spiel ins Auge: Das Spiel ist gewöhnlich vorgeformt und der Einzelne gliedert sich in diese vorgegebene Form ein. Im Leben, das als Spiel verstanden wird, sind einige Vorgaben nicht genau bekannt, und in vielen Fällen hat das Individuum selbst die Formgebung vorzunehmen, sich etwa die Lebensregeln, die es befolgen will, selbst zu geben [...] Und schließlich sind der Revidierbarkeit Grenzen gezogen, quantitativ wie qualitativ: Anders als bei jedem Spiel kann im Leben nicht sehr häufig wieder von vorne angefangen werden, um es anders und besser zu machen. [...] Als signifikant für das Leben erscheinen jedoch vor allem diese Phänomene: Zufälligkeit, Widerständigkeit, Polarität. Wenn das Leben als Spiel verstanden werden soll, muss die Lebenskunst sich dazu verhalten können. Das Phänomen des Zufälligen bringt es mit sich, dass vieles im Leben nicht gewählt und nicht geplant, sondern eben so geworden ist, wie es ist: Aus einer Abfolge von Zufällen entsteht eine ganze Lebensform. Und doch ist auch hier eine Wahl im Spiel, denn entscheidend ist, ob das Selbst die Zufälle gewähren lässt, ob es sie sich sogar zunutze macht oder sie abzuweisen sucht. Zufälle liefern das Material für Versuche und Experimente, an die auch nur zu denken dem Selbst die Kreativität gefehlt hätte. So käme es vielleicht darauf an, dem Zufall einigen Raum zur Verfügung zu stellen, um so Möglichkeiten fürs Leben zu erschließen, die eine Lebensplanung, die den Zufall auszuschließen versucht, nie bereitstellen kann. Glücklicherweise wächst in Situationen krisenhafter Zuspitzung die Bereitschaft, Zufälle aufzunehmen, ganz von selbst. [...] Wenn das Leben als Spiel verstanden wird, muss die Lebenskunst zweifellos auch ein Spiel mit dem Widerständigen (das, was unangenehm, konflikthaft usw. ist) sein können. [...] Die Hinnahme (des Widerständigen) ist nicht etwa nur eine einfache Angelegenheit, sondern doch wieder eine Situation der Wahl, nämlich mit welcher Haltung hingenommen werden soll, sei es aufgrund einer Neigung oder einer Überlegung. Zur Wahl stehen grundsätzlich diese Optionen: das Widerständige zu ignorieren (auch wenn es fruchtlos ist, so verschafft es doch eine Atempause), dagegen zu revoltieren (das Abreagieren eines Affekts, auch wenn am Geschehenen nichts mehr zu ändern ist), zu resignieren (eine bewusst getroffene Wahl, »die Waffen zu strecken«, nicht nur eine Verlegenheit), zu akzeptieren (die bloße Zurkenntnisnahme des Geschehenen, die Kräfte sammelnd, »nicht fragen, nicht klagen, nur tragen«), zu affirmieren (das Geschehene zu bestärken und sogar zu bejahen, aus welchen Gründen auch immer), zu utilisieren (aus dem Geschehenen noch Nutzen zu ziehen, es »umzunutzen«), zu ironisieren (Distanz zum Geschehenen einzunehmen, sich »darüber« zu stellen, um das Betroffensein abzumildern oder gänzlich fern zu halten).

[Auszüge aus einem Text in: Psychologie heute, Heft 5/2004, 5. 20 f.]

Fragen zum Text:

  1. Der Philosoph Wilhelm Schmid ist der Meinung, dass Lebenskunst darin besteht, das Leben als Spiel zu sehen. Er vergleicht die Bedingungen des Fußballspiels mit denen des Lebens, wobei ihm viele Parallelen auffallen. Versuchen Sie selbst, diese Parallelen zu ziehen: ein räumlicher Rahmen: der Fußballplatz - die Wohnung, die Schule, der Erdball; eine zeitliche Begrenzung: die Spielzeit - zeitliche Begrenzung des Lebens (kein genaues Wissen darüber, dennoch Kindheit, Jugend... ); ein Objekt, mit dem gespielt wird: der Ball - kann Verschiedenes bedeuten: Erfolg, Liebe etc. Fallen Ihnen noch mehr Parallelen auf?
  2. Erklären Sie in einem weiteren Schritt, worin der Autor Unterschiede zwischen dem Spiel und dem Leben sieht. Fallen Ihnen selbst noch weitere Unterschiede auf?
  3. Im Zentrum des Artikels steht der Umgang mit dem »Phänomen des Zufälligen« und dem »Widerständigen«. Welche Optionen stehen dem Menschen im Umgang mit dem Widerständigen zur Verfügung? Überlegen Sie, was in diesem Zusammenhang der Spruch bedeuten könnte: »Du hast keine Chance- also nutze sie.«
  4. Wie beurteilen Sie - vor allem vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen - die Aussage, dass in krisenhaften Situationen die Bereitschaft »glücklicherweise« wächst, Zufälle anzunehmen? Versuchen Sie einen Transfer zu den Erkenntnissen der Neurobiologie.

5. Vom Umgang mit der Freiheit

Abschließend geht es in der Unterrichtseinheit um die ethische Frage: »Was tun?« Es empfiehlt sich, hier mit den von Peter Bieri aufgezeigten drei Dimensionen der Aneignung des bedingt freien Willens weiterzuarbeiten (M 7) Oberstufenschüler sollten diese drei Dimensionen am Beispiel ihrer eigenen Lebenssituation reflektieren. Wichtige Entscheidungen müssen für die Zeit nach dem Abitur getroffen werden: Zivildienst, Bundeswehr, Freiwilliges Soziales Jahr, Au Pair, die Welt kennenlernen, relaxen während der großen Rucksacktour? Wo soll die Reise hingehen? Ausbildung, Studium oder erst einmal Geld verdienen? Diese Optionen wollen artikuliert, vor ihrem Hintergrund verstanden und bewertet werden. Dabei sollte der Dimension des Verstehens breiter Raum gegeben werden. So könnte tatsächlich das Handwerk der Lebenskunst erlernt werden.

M 7: Peter Bieri - Das Handwerk der Freiheit

Was ist es, was wir mit uns machen können, um von einem unfreien zu einem freien Verhältnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenüber zu gelangen? Für jemanden, der die Freiheit in der fiktiven Unbedingtheit des Willens sucht, müsste diese Art der Fragestellung abwegig erscheinen. Ob ein Wille unbedingt wäre oder nicht, läge nicht am Wollenden. Er könnte es nur hinnehmen; dafür tun könnte er nichts. Auch stünden Freiheit und Unfreiheit ein für allemal fest, und es gäbe keine Abstufungen. Ganz anders in der Geschichte, die es nun zu erzählen gilt.

Sie geht davon aus, dass die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muss. Man kann dabei mehr oder weniger erfolgreich sein, und es kann Rückschläge geben. Was man an Freiheit erreicht hat, kann wieder verloren gehen. Willensfreiheit ist ein zerbrechliches Gut, um das man sich stets von Neuem bemühen muss. Und es ist dieser Idee zufolge eine offene Frage, ob man sie jemals in vollem Umfang erreicht. Vielleicht ist sie eher wie ein Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert. Die Gesamtheit der Dinge, die man unternehmen kann, um diesem Ideal näher zu kommen, werde ich die Aneignung des Willens nennen, und entsprechend werde ich vom freien Willen als dem angeeigneten Willen sprechen. Man kann an dieser Aneignung drei Dimensionen unterscheiden.

Die eine ist die Dimension der Artikulation. Hier geht es um Klarheit darüber, was genau es ist, was man will. Entsprechend ist die Unfreiheit zu verstehen als der Zustand der Ungewissheit über das, was man will, eine Ungewissheit, die wie ein Gefängnis sein kann. Eine zweite Dimension der Aneignung betrifft die Anstrengung, den eigenen Willen zu verstehen. Wir können einen Willen als unfrei erfahren, weil er sich unserem Verständnis widersetzt und uns in diesem Sinne als fremd erscheint. Ihn sich anzueignen bedeutet dann, den Eindruck der Fremdheit aufzulösen, indem man nach einer Betrachtungsweise sucht, die ein neues Verständnis ermöglicht. In einer dritten Dimension der Aneignung schließlich geht es um die Bewertung des eigenen Willens. Ein Wille kann einem auch deshalb als unfrei und fremd erscheinen, weil man ihn ablehnt. Es wird sich die Frage stellen, wo eine solche Bewertung herkommt und wie es geschehen kann, dass aus einem missbilligten, unfreien Willen ein gutgeheißener, als frei empfundener Wille wird. Die drei Dimensionen der Aneignung sind, wie sich zeigen wird, nicht unabhängig voneinander. Verstehen etwa setzt Artikulation voraus, und die Bewertung eines Willens kann sich verändern, wenn das Verständnis wächst.

[aus: Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Wien 2001, S. 383 f.]

Arbeitsauftrag:

  1. Unterscheiden Sie die drei Dimensionen der Aneignung des bedingt freien Willens (da Bieri selbst diesen Begriff nicht verwendet, muss er entweder eingeführt oder ersetzt werden durch einen aus dem Text, etwa »angeeigneter Wille«; sonst herrscht Verwirrung).
  2. Entwickeln Sie die drei Dimensionen an Beispielen für Sie wichtiger Entscheidungssituationen.

Anmerkungen

[1] Joachim Bauer ist Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Internist und Psychiater. Seit 1992 hat er am Universitätsklinikum eine Professur für Psychoneuroimmunologie. Er ist als Oberarzt in der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin tätig. Bekannt wurde er in Baden-Württemberg als Autor von „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern « (Zürich: Piper 2004), durch seine Untersuchungen zur Lehrergesundheit, durch die Mitwirkung an pädagogischen Tagen und durch die Einrichtung von Coachinggruppen an einigen Freiburger Gymnasien. Zu seinem Buch siehe auch die Rezension auf S. 64.
[2] Bauer (wie Anm. 1), S. 19.
[3] Ebd, S. 11