Die wundersame Schultasche
Hiltrud Hainmüller
Ethiklehrerfortbildung - »vorgezogene Ferien« nennt man so was in Kollegenkreisen. Die gegenseitige Vorstellung verläuft ganz friedlich und entspannt. Auch das Mittagessen entspricht den Erwartungen. Ich bin in bester Stimmung, bis ich beobachten muß, wie ein Kollege namens Wertheimer mit meiner Schultasche den Speisesaal verläßt. Ich mache ihn höflich auf die mögliche Verwechslung aufmerksam, worauf er behauptet, daß dies seine Tasche sei. Meinen Vorschlag, anhand des Inhalts der Tasche den Eigentümer festzustellen, lehnt er entrüstet ab. Das sei ja noch schöner! Er ließe sich nicht von jedem in seine Tasche gucken, persönliches Eigentum, Intimsphäre usw.
Wir einigen uns darauf, den Fall durch den Seminarleiter, Herrn Ratgeber-Richter, einen freundlichen, grauhaarigen Kollegen mittleren Alters, klären zu lassen. Herr Ratgeber-Richter schlägt vor, daß jeder von uns über den Inhalt seiner Tasche eine Erklärung abgibt, damit er als neutraler Dritter unter den Augen der Seminarteilnehmer die Eigentumsfrage klären kann. Nach einigem Zögern erklärt sich Herr Wertheim er mit dem Verfahren einverstanden und macht sich bereits schriftliche Notizen. Nachdem er eine exakte Liste über den Inhalt seiner Tasche aufgestellt hat, lasse ich ihm den Vortritt. Er beginnt mit der Auflistung: »Also. In meiner Tasche befinden sich: ein Lehrerkalender, Montblanc-Füller mit Goldfeder, Lederetui für Schreibutensilien, ein Lineal Notenlisten, Stoffverteilungspläne für die nächsten drei Jahre, die dazugehörigen Unterrichtseinheiten mit selbstgefertigten Foliensätzen, Statistiken über die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Daten des letzten Jahres, ein Aufsatz aus der »Zeit« von Claus Leggewie über den Zusammenhang zwischen 68ern und Werteverfall bzw. Orientierungslosigkeit sowie der Gegenartikel von Micha Brumlik, darüber hinaus Vitamintabletten, ein Odol-Atemfrisch, zwei Stofftaschentücher mit Monogramm, eine Copycard, der UB-Ausweis, drei Packen korrigierter Arbeiten, ein Klappliegestuhl (allgemeines Gelächter der Kollegen) - ich pflege mich nämlich gelegentlich vor dem Nachmittagsunterricht zu regenerieren - ... « An dieser Stelle unterbricht Herr Ratgeber-Richter: »Sie brauchen sich für den Inhalt ihrer Tasche nicht zu rechtfertigen, Herr Wertheimer, wir wollen hier nicht werten, die Fakten sind entscheidend.« »Also, wie ich bereits bemerkte, mein Klappliegestuhl sowie zwei Einladungskarten zum Deutschen Philosophenkongreß zum Thema »Mut zur Ethik«. Außerdem befinden sich dort noch der Hausmeister und fünf integre Kollegen, die bezeugen können, daß das meine Tasche ist.«
Ich schlucke, versuche mich genau zu erinnern, kann nicht alles so exakt ausmachen, aber zähle mal auf »Also, in meiner Tasche sind meine gesamten Materialien der letzten fünf Jahre. Meine Spielesammlung plus Bilderkartei, Buntstifte, Folienstifte, alle Farben des Regenbogens, Musikkassetten, die neuesten CDs von den Ärzten, den Toten Hosen sowie eine Einspielung des »Wohltemperierten Klaviers « mit Glenn Gould und Meditationsmusik von John Williams. Zwei Scheren, Klebeband, Eisbärstifte und Eddings, Gummibärchen, Lakritzbonbons, Aspirin, ein Taschenspiegel, eine Hängematte, eine Pocketkamera, ein Kajalstift, zwei mühsam ergatterte Eintrittskarten zu »Schindlers Liste« sowie ein Eau de Toilette, Bagatelle des ]ardin von Guerlain (Grinsen der männlichen Kollegen). Dazu fünf Schüler meiner 2BF2 sowie drei Kollegen aus der Allgemeinbildung, die bezeugen können, daß das meine Tasche ist. « »Moment mal, Frau Kollegin«, unterbricht mich Herr Wertheimer, »ich war noch nicht ganz fertig mit meiner Liste. In meiner Tasche befindet sich ferner ein Band von Professor Huber aus dem bayerischen Bildungsministerium mit dem Titel »Sittliche Bildung«, ferner die gesammelten Vorsokratiker, Platon und Aristoteles, im Mittelfach sitzen Schopenhauer und Kant, dicht gedrängt neben Apel, ]onas, Vittorio Hösle und Habermas, das Grundgesetz, die Charta der Vereinten Nationen sowie die baden-württembergische Landesverfassung und die Bibel, ökumenische Ausgabe, daneben liegen Freiheit und Verantwortung, darüber geschichtet die Ehrfurcht vor dem Leben, die Ökologische Ethik (anthropozentrisch, pathozentrisch, biozentrisch und holistisch begründet, versteht sich), ferner die virilen Primär-und Sekundärtugenden, meine sorgfältig ausgearbeiteten logischen Strukturen des moralischen Argumentierens sowie ein - ich kann's nun nicht länger geheimhalten - von mir selbst verfaßtes, bisher unveröffentlichtes Traktat gegen den Hedonismus in der Moderne. Obenauf - und ich ordne immer nach diesem Prinzip - liegt der kategorische Imperativ, gestirnter Himmel und moralisches Gesetz in einem. Im Seitenfach sitzen übrigens Rita Süßmuth und Herr von Weizsäcker, die bezeugen können, daß das meine Tasche ist.«
Jetzt schlägt's 13, denke ich mir, so einfach gebe ich meine Tasche nicht her! »Also, in meiner Tasche sitzen mein Ehemann sowie meine drei Kinder, die bezeugen können, daß die Unordnung in dieser Tasche nur von mir stammen kann. Da liegen erst mal querbeet meine Methoden, TZI, TA, Gestalt und Psychodrama, sanfte Pädagogik und Gruppendynamik (einige Kollegen beginnen unterm Tisch mit den Füßen zu scharren). Da liegen Freude, Witz und Wut, Freud, Adler, Jung und Tucholsky. Freud blättert gerade noch mal in seiner Schrift » Über das Unbehagen in der Kultur«, und Jung spielt mit Murmeln im Sand, während er über die symbolische Bedeutung leerer Klassenräume in Lehrerträumen sinniert. Im Seitenfach sitzt eine Soziologenclique, die über die Ursachen von Gewalt und Rechtsextremismus diskutiert. -Aber-jetzt hätt' ich doch beinah' das wichtigste vergessen, in meiner Tasche ist ja noch ein Dokument, unersetzlich, von unschätzbarem Wert: eine Dienstanordnung unseres Direktors, nach der ich von jeglicher Pausenaufsicht freigestellt werde bis zur Pensionierung. Außerdem die 15-Stunden- Woche für Lehrer sowie Stundennachlaß für Fort- und Weiterbildungsreisen, unterschrieben von der Ministerin persönlich als besondere Entschädigung für meine Dreifachbelastung als Mutter, Hausfrau und Ethiklehrerin an einer reinen Männerschule. «
An dieser Stelle will mir Herr Wertheimer erneut ins Wort fallen, aber ich laß mich nicht beirren, jetzt, wo mir alles wieder einfällt. »In meiner Tasche ist ein Schulgelände, mit kleinen Pavillons aus viel Holz und Glas, drumherum eine große Wiese mit Badesee, eine Wandelhalle mit Springbrunnen und Lernbuffet, ein kleiner Silberweidenhain, Bänkchen für Verliebte, Sitzgruppen für Plaudertäschchen, ein Schulgarten mit Thymian, Salbei und Rosmarin, Kiwis, Feigen, Lychees und Ananas - ja - und überhaupt, in meiner Tasche sind ja auch die Ferien, Toskana, Florenz, Venedig - und...«. Jetzt kann Herr Wertheimer nicht mehr an sich halten: »Ganz richtig«, schwelgt er mit glühend roten Wangen, »nicht zu vergessen: die griechischen Inseln, die Akropolis, die Schweizer Alpen, meine Mineraliensammlung... « Da wird es Herrn Ratgeber-Richter nun doch zu bunt: »Werte Kollegen, ich glaube, Sie wollen mich beide auf den Arm nehmen. Wir haben heute schließlich noch ein sattes Arbeitsprogramm. Ich öffne jetzt die Tasche, die anwesenden Kollegen sind meine Zeugen.« Bedeutungsvoll breitet er die einzelnen Gegenstände vor aller Augen auf dem Tisch aus: ein halb abgebissenes Pausenbrot in Pergamentpapier gehüllt - es beginnt bereits nach jener Mischung von Käse und Bohnerwachs im Raum zu riechen -, einen Radiergummi, eine kleine Spielzeugpistole, ein Skatblatt sowie ein Bild von Marylin Monroe. Ungläubig starre ich auf den Inhalt und denke nur noch: » Typisch Mann«. Als Herr Ratgeber-Richter zu guter Letzt noch eine Rotweinflasche zutage fördert, beginnt Herr Wertheimer schwer zu atmen. Er nimmt seine Goldrandbrille ab und reibt sich die Augen. Großzügig verzichten wir beide auf die Tasche und stimmen leicht säuerlich ins allgemeine Gelächter der anwesenden Kollegen mit ein. Den Rotwein haben wir dann gemeinsam getrunken und beschlossen, beim Ministerium eine Fortbildungsreise nach Athen zu beantragen - zwecks gemeinsamer Peripeteia und so weiter…