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Die Suche nach der eigenen Wahrheit

Identitätsarbeit im Ethikunterricht

Hiltrud Hainmüller

Editorial

Im Ethikunterricht hat die Beschäftigung mit Identität eine besondere Bedeutung: Zum einen ist die Frage nach der Konstruktion von Identität und nach der Persönlichkeitsentwicklung explizit ein Thema des Faches: Wer bin ich, wie bin ich der geworden, der ich bin? Welche Rolle spielen die Anderen in dem Prozess des Werdens? Wo will ich hin? Über welche Freiheitsgrade kann ich ver­ fügen? Diese Fragen finden sich in allen Lehrplänen des Ethik - und - Philosophieunterrichts. Identitätskonstruktionen sind aber nicht nur Gegenstand des Faches, sie finden direkt im Unterricht statt, denn Identitätsfragen werden hier in besonderem Maße kommuniziert. Der Unterricht soll Denkanstöße geben, zur Selbstreflexion anregen, zum Perspektivwechsel befähigen, Dialogbereitschaft fördern. Er ist ein sozialer Ort, an welchem Lebensentwürfe und eigene Erfahrungsberichte - nach moderner Lesart der Identitätsforschung »Selbstnarrationen« - präsentiert und ausgetauscht werden. Diese Art Identitätsarbeit zu leisten bedarf einer fundierten Auseinandersetzung mit einem hochkomplexen Zusammenhang. Anleihen bei den Disziplinen der Psychologie und der Soziologie sind hier unverzichtbar.

Hermann Oetjens wendet sich dem Subjekt im Kontext der (politischen) Philosophie zu und beschäftigt sich mit der Frage, wie es sich in der Alltäglichkeit der sozialen Welt konstituiert. Heiner Keupp hat in seinem Werk »Identitätskonstruktionen - das Patchwork in der Spätmoderne« die Ergebnisse einer Langzeitstudie über Lebensentwürfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen veröffentlicht sowie wegweisende Ansätze moderner Identitätsforschung entwickelt, die er hier thesenartig vorstellt. Identitätsarbeit wird als permanenter Prozess der Verknüpfung und Balancierung von inneren Subjektansprüchen im Kontrast mit der jeweiligen Gegenwartswelt ausgewiesen. Werner Schiffauer konkretisiert den Verlauf dieses Prozesses am Beispiel der Ent­ wicklung von türkischen Migranten, die zum Teil schon in der dritten Generation in Berlin leben. Er zeigt auf, welche Chancen sich eröffnen, wenn mit kulturellem Erbe produktiv umgegangen wird. Ich selbst entwickele - anknüpfend an die Thesen Heiner Keupps - einen Beitrag zur Didaktik des Faches, der den Ethikunterricht unter dem Aspekt der Identitätsarbeit reflektiert. Ulrike Schlegel stellt Unterrichtsmaterialien vor, die geeignet sind, den Umgang mit der persönlichen Freiheit zu üben, ein Gefühl für den eigenen inneren Kompass zu entwickeln und Entscheidungsfähigkeit zu trainieren. Inge Künle analysiert das postmoderne Märchen »Lola rennt« als eine Welt und ein Ordnungsgefüge, in dem die Heldin den Zumutungen von Zufall, Schicksal und Kausalität ausgesetzt ist. Sandra Butsch zeigt, wie Jugendliche durch praktisches Experimentieren mit der Portraitfotografie ein klares Gefühl für Authentizität entwickeln und somit einen Zugang zu sich selbst finden können. Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen - so Keupp - die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die Schöpfung von Lebenssinn. Die Artikel sollen dazu beitragen, im Unterricht Identitätsarbeit zu leisten, bei der sich Lehrer und Schüler als gegenseitig voneinander Lernende erkennen und anerkennen.

Hiltrud Hainmüller

»Einmal auf der Welt - und dann Klempner in Detmold« - manchmal muss ich an diesen Stoßseufzer des Dichters Christian Dietrich Grabbe denken, wenn ich in der Berufsschulklasse der Gas - Wasser - Installateure Ethik unterrichte: Eine kleine Gruppe von 11 Schülern, unter ihnen:

Karl aus Guben, wohnhaft in einem Plattenbau. Er hat ein Angebot zum Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene angenommen und macht eine Lehre im abgelegenen Schwarzwalddorf Schluchsee. Er will ein »Stino« führen (stinknormales Leben), kann Leute nicht leiden, die ständig über Probleme »labern«. »Jeder ist seines Glückes Schmied« - so lautet sein Motto. Er will locker - flockig erscheinen, lässt aber deutlich ein starkes Aggressionspotenzial erkennen, ist ausgesprochen vorlaut und versucht stets, Aussagen seiner Mitschüler abwertend zu kommentieren.

Michael, nach einem Unfall durch Fremdverschulden anderthalb Jahre an das Bett gefesselt, hatte viel Zeit, übers Leben nachzudenken. Er liebt seine Freiheit über alles, hat Sinn für Humor und äußert sich stets kritisch, wenn es um autoritäre Einschränkungen in der Schule geht.

Khalid ist bekennender Moslem. Die drei Attribute, mit denen Khalid sich selbst charakterisiert, lauten:

»Ich bin gut, ich bin schön, ich bin der Chef.« Da er Sprachschwierigkeiten hat und ihm das Lernen schwer fällt, ist er in der Schule alles andere als »der Chef«. Schweinefleisch und Alkohol sind für ihn tabu, der Wille des Familienoberhauptes gilt als Richtschnur in allen Lebensfragen. Die Mitschüler versuchen häufiger, ihn wegen dieser Haltung zu verhöhnen, und auch unter den übrigen Moslems der Klasse ist er ein Außenseiter, weil er ihnen zum Vorwurf macht, sie seien opportunistisch und verwestlicht.

Franz, ein vierzigjähriger Umschüler, Familienvater zweier Kinder, ehemals Bäckermeister im elterlichen Geschäft, der sich von der Familie emanzipieren möchte und einen zweiten beruflichen Anlauf verfolgt, ist beim »Orden des Rosenkreuzes« organisiert und versucht teilweise, deren Gedankengut den Jugendlichen in der Gruppe zu vermitteln, findet jedoch nicht unbedingt Gehör. Er zeigt deutliche Spuren eines harten Lebenskampfes, ist aber nicht verbittert, sondern für Probleme aufgeschlossen.

Im Ethikunterricht geht es in dieser heterogenen Gruppe zuweilen heiß her, die Wellen schlagen hoch, jeder verteidigt seinen eigenen Standpunkt und die Art, wie er sich durchs Leben schlägt. Hier tobt der Kampf um Anerkennung, und die Diskussionen kreisen im Kern stets um die Frage: Heißt einmal auf der Welt als Klempner in Detmold sein, immer dort bleiben zu müssen? Welche Möglichkeiten gibt es, sich aus der Situation des Geworfenseins aufzurappeln, den eigenen Weg zu finden und zu beschreiten? Welche Arbeit muss geleistet werden, um den Hunger nach Leben zu stillen - und: Worin besteht der Preis des Glücks, der, so oder so, stets gezahlt werden muss?

Individualisierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft spiegeln sich in so heterogen zusammen - gesetzten Klassen wider, und Identitätsfragen rücken zunehmend in der Mittelpunkt des Ethikunterrichts. Diese Erfahrung deckt sich mit den Erkenntnissen der Jugendpsychologie und - psychiatrie: Es sind nicht mehr primär Probleme im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sexualität, die das Denken, Fühlen und Handeln von Jugendlichen bestimmen, sondern Identitätsfragen. Heiner Keupp beschreibt die Bedingungen, unter denen Identitätsfindung heute stattfindet: Es ist vor allem die Erfahrung der Multiphrenie, die so viele Chancen eröffnet wie sie Risiken birgt. Kohärenz und Authentizität müssen vom Einzelnen je selbst entwickelt werden, um gelingende Identität zu Wege zu bringen. Der Rückgriff auf traditionelle Muster ist dabei nur begrenzt möglich. Ethik ist die Frage nach dem »guten Leben«, Identitätsfindung - so Keupp - ein lebenslanger Prozess des Entwickelns einer Perspektive für sinnhaftes Handeln. Meine These lautet: Ethische können nicht von Identitätsfragen getrennt werden, Ethikunterricht enthält immer auch die Dimension von Identitätsarbeit und bedarf in diesem Bereich einer Orientierung an den Erkenntnissen der Sozialpsychologie, psychoanalytischen Pädagogik und Soziologie. Anleihen aus diesen Gebieten sollen im folgenden für die Didaktik der Ethik erschlossen werden. Den grundsätz­ lichen Überlegungen wird exemplarisch praktisches Unterrichtsmaterial beigefügt.

I. Vier existenzielle Grundtatsachen

Bei der Konstruktion von Kohärenz und Kontinuität muss jeder Mensch eine enorme Eigenleistung erbringen, ohne sich in dieser Auseinandersetzung eines auf Dauer gestellten Erfolgs sicher sein zu können. Identitätsarbeit ist kein abzuschließender Prozess, sondern Selbstkonstruktion in offenem, vermintem Gelände. Identitätsfindung als permanenter Prozess von Sinnschöpfung ist ein lebenslanger Prozess, in den wir - Lehrer wie Schüler - ständig verwickelt sind. Darin gibt es vier existenzielle Grundtatsachen, mit denen verantwortlich umzugehen wir lernen müssen: »Die Unausweichlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben; die Freiheit, unser Leben nach unserem Willen zu gestalten; unsere letztendliche Isolation und schließlich das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinns. So grausam diese Grundtatsachen auch sein mögen, sie bergen den Keim von Weisheit und Erfüllung.«[1]

Auch die Tatsache der Freiheit ist grausam, denn der Zwang zur Entscheidung lässt schmerzlich erfahren: Alternativen schließen sich aus. Sehr oft gibt es nur das »Entweder - Oder«, ganz selten das »Und - Auch«. Ständig sind wir gezwungen, in verschiedenen Bereichen verschiedene Rollen einzunehmen, »Teilidentitäten« - wie Keupp sie nennt - zu entwickeln, z. B. als Frau die Rolle der Mutter, der Ehefrau, der Berufstätigen, der Geliebten, der Freundin, der Tochter usw. auszufüllen. Notgedrungen muss ich eine Hierarchisierung der Teilidentitäten vornehmen, muss entscheiden, was mir am wichtigsten ist, wofür ich meine Zeit hergebe, was außen vor bleiben muss. Jede Entscheidung ist mit Verlust verbunden. Diese Janusköpfigkeit der Freiheit hat Weischedel[2] in seiner »Skeptischen Ethik« treffend beschrieben. Unsere Freiheit besteht eigentlich nur darin, dass wir uns selbst in diesem Entscheidungsprozess kritisch beobachten, uns selbst distanziert gegenübertreten können. Entrinnen können wir ihm nicht, und die Verantwortung für die Folgen tragen wir allemal selbst - selbst wenn wir zuweilen geneigt sind, sie anderen aufzubürden.

Wenn Schüler und Lehrer sich im Ethikunterricht begegnen - so eine Vermutung - messen sie sich und den andern daran, wie er mit diesen Grundtatsachen umgeht, welchen Grad an »Weisheit und Erfüllung« er dabei erreicht hat. Obwohl sie nicht in den anderen hineinschauen können und manchmal auch gar nicht viel von ihm wissen, gibt es doch Botschaften, die von jedem Menschen ausgehen, die vom anderen entschlüsselt werden können und auf einen entsprechenden Umgang mit diesen Grundtatsachen hinweisen. Schüler und Lehrer »erkennen« sich auf diese Weise. Bewusstes und unbewusstes Wahrnehmen gehen hier fließend ineinander über und entscheiden darüber, was man dem Gegenüber zutraut, was man ihm zu glauben bereit ist, was man von ihm annehmen kann, was man in seiner Gegenwart überhaupt erzählen kann. Hier wird der Lehrer daran gemessen, was er selbst an Identitätsarbeit geleistet hat. Unsere Authentizität ist in jedem Fall gefragt, d. h., dass wir uns selbst als Person zeigen. Das beginnt morgens mit dem Betreten des Schulhauses, den Begegnungen auf dem Flur, im Lehrerzimmer und vor allem mit dem Empfang neuer Klassen. Gruß und Gegengruß werden in ihrer Bedeutung von Siegfried Lenz in seiner Geschichte »Die japanische Schulstunde«[3] veranschaulicht. Sie eignet sich auch zum Vorlesen als Einführung in das Fach Ethik (siehe M 2).

II. Identitätsarbeit als Passungs- und Verknüpfungsarbeit

Wenn im Zentrum für gelingende Lebensbewältigung die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn stehen[4], dann ergeben sich für den Unterricht folgende Fragen: Wie können identitätsbildende Erfahrungsfragmente in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden? Wie kann Verknüpfungsarbeit geleistet werden, die eine für das Individuum stimmige konstruktive Selbstverortung ermöglicht? Wie lässt sich eigenes Leben sozialverträglich gestalten, ohne ins Fahrwasser totaler Anpassung einerseits zu geraten oder im Wildwasser zermürbender Dauerfriktionen andererseits unterzugehen? Deshalb gehe ich mit Schülern der Frage nach, was es mit diesem »Ich« oder »Selbst« auf sich hat. Die »Fragen zum lch«[5] sind so gestaltet, dass mehrere Facetten, die das Selbst konstituieren, erfasst werden (siehe M 1). Originalität, Authentizität, Ambiguität, Kohärenz, Fragilität, Rätselhaftigkeit, Beziehungsfähigkeit, Selbstbild und Fremdbild, Selbstentwurf und moralische Urteilskompetenz sind gleichermaßen angesprochen. Indem die Schüler wahlweise auf einige Fragen in kleinen Aufsätzen antworten, werden sie zur Selbstreflexion angeregt und können Problemlagen formulieren. Aus der Auswertung der Fülle von Antworten lässt sich gemeinsam ein Arbeitsplan für den Unterricht entwickeln. Dieser situative Ansatz zielt auf Selbstorganisation in Fragen, die das »Selbst« betreffen. Das Schema 1 »Strom der Selbsterfahrung« von Keupp (siehe S. 10 in diesem Heft) gibt eine gute Richtlinie vor, in welcher Weise nun an die Behandlung der Themen herangegangen werden kann. Zeitliche, lebensweltliche und inhaltliche Verknüpfungen werden ineinandergefügt.

Hier ein Beispiel: Die Schüler wollen sich mit der Frage befassen, wie es um die Eigenverantwortung in wichtigen moralischen Fragen bestellt ist. Sie stellen fest, dass bei Menschen häufig Kompetenz und Performanz auseinanderfallen und die Tendenz weit verbreitet ist, sich herauszureden oder hinter anderen zu verstecken. Beispiele aus ihrer Lebenswelt werden von den Schülern selbst zusammengetragen. Als »Futter« für zeitliche und inhaltliche Verknüpfungen gebe ich ihnen einen Ausschnitt aus Jan Philipp Reemtsmas Vortrag: »Wie hätte ich mich verhalten?« (siehe M 3).[6]

Reemtsma setzt sich dort mit der Frage der Verantwortungsübernahme für moralische Entscheidungen und der Beurteilungsmöglichkeit dieser Entscheidungen auseinander. Mit Oberstufenschülern lässt sich der Vortrag vollständig lesen. Er regt zu Transferleistungen an, die ja nichts weiter sind als Verknüpfungsleistungen. Karl aus Guben hat anhand dieses Textes eindeutig und in klarer Selbstreflexion formulieren können, dass es sein Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene war, das er sein Geschick in die eigene Hand nimmt und dass er über diesen Weg die Möglichkeit entwickelt, seiner Familie zu zeigen, dass er über eigene Kompetenzen verfügt, die mindestens ebenso viel wert sind wie die seiner »studierten« Brüder. Jugendliche brauchen Zeugen, die sie in ihrer Entwicklung bestätigen. Da genügen die Gleichaltrigen nicht, und oftmals sind es eben auch Lehrer, die zum Anwalt oder Zeugen werden.

III. Entwürfe zulassen, verstehen, gestalten

Ein wesentlicher Anteil der Identitätsarbeit verläuft nach Kraus[7] über die Konstruktion der »Identität als Projekt« und der »Identität als Narration«. Mit »Identität als Projekt« ist gemeint, dass das Subjekt von sich einen Entwurf für seine Zukunft gestaltet. Es geht dabei um das Selbst in seiner Projektion im Hinblick auf wesentliche lebensweltliche Bereiche der Selbsterfahrung - und Verwirklichung wie Arbeit, Familie, Freunde. Dabei muss stets berücksichtigt werden, dass Menschen Projekte nicht nur bewusst, sondern auch mit unbewussten Anteilen verfolgen. Diese Projekte nehmen Gestalt an in »Selbstnarrationen«, Erzählungen, die das Individuum immer wieder in verschiedenen Variationen erfindet. »Wir träumen narrativ, tagträumen narrativ, erinnern, antizipieren, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, konstruieren, klatschen, hassen, lieben in narrativer Form.«[8]

Im Ethikunterricht haben wir es häufig mit Selbstnarrationen und Narrationen anderer zu tun: freies Philosophieren, autobiografisches Schreiben, das Verfassen von Lesetagebüchern zu literarischen Werken, Vergleiche verschiedener Biografien, das Gestalten von Projekten in Zukunftsentwürfen, Gedankenexperimente, das Erfinden von Dialogen usw. ermöglichen es, selbst Erlebtes auszudrücken, Erlebnisse anderer emphatisch nachzuvollziehen, Denken in Entwürfen zu fördern. In der Unterrichtssituation sind die Narrationen nicht nur individuelle Besitztümer, sondern Produkte eines sozialen Austauschs. Dieser kann jedoch nur sinnvoll stattfinden, wenn Narrationen überhaupt zugelassen und ansatzweise - vor allem vom Lehrer – überhaupt verstanden werden. Kaum eine Schülernarration erfolgt in einer für uns gut annehmbaren Erzähllogik nach dem Muster: »Benennen des Problems, Darstellung des Konflikts, sinnstiftender Endpunkt, Einengung auf relevante Ereignisse, narrative Ordnung der Ereignisse, Grenzzeichen, klarer Anfang, klares Ende, Lösungen«[9].

Dagegen trifft auf Schülernarrationen häufig die Charakteristik Mc Hales zu: »So zeichnen sich etwa postmoderne Erzählungen dadurch aus, dass sie Erzähllogiken durchbrechen, auf die genaue Benennung des Erzählzieles und seiner Evaluation verzichten und die unendliche Kontingenz von Ereignissen betonen.«[10] Dazu gehören - um beim Eingangsbeispiel zu bleiben - , zeitweise übles Durcheinanderreden, scheinbar Unwesentliches in den Vordergrund zu rücken, schillernde Selbstinszenierungen usw. Es ist möglich, im Unterricht dieses Chaos ein Stück weit auszuhalten und dann eine Fokussierung anzuregen oder von den Schülern selbst vornehmen zu lassen, die auf Gestaltung und Reflexion von Entwürfen abzielt.

Ein praktikables Beispiel findet sich bei Kraus, der in einer Berufsschule angehenden Verwaltungsangestellten einen Fragebogen zu eigenen Zukunftsentwürfen vorgelegt hat. Dieser Fragebogen kann auch im Ethikunterricht eingesetzt werden.[11]

Abb. 1:  Fragebogen von Kraus, S.247











Auf seine Fragen erhielt Kraus unterschiedlichste Antworten, wie wir sie tagtäglich auch im Unterricht zu hören bekommen. Im Kasten rechts stehen einige Beispiele[12].

Abb. 2:  Antworten auf den Fragebogen von Kraus in meiner Klasse




Kraus kommt bei der Auswertung dieser »Kernnarrationen« zu dem Ergebnis, dass es drei verschiedene »Narrationstypen« gibt, die je drei verschiedene Zugänge zur Identitätsfindung erkennen lassen:

  • Der geschlossene Entwurf geht von einer eher geradlinigen Entwicklung aus. Man hat zwar gewisse Herausforderungen im Leben zu bestehen, hofft aber, diese meistern zu können und auf einer mittleren Schiene ein »gesundes Mittelmaß« an Leben zu organisieren. Kohärenz ist hierbei erwartbar, weil prozessimmanent, die Grundstimmung von Hoffnung getragen. Dieser Entwurf wirkt einerseits abgeklärt, in sich stimmig, kann andererseits aber auch als zu abstrakt, langweilig und hohl empfunden werden. 
  • Der pragmatische Entwurf geht davon aus, dass jeder seines Glückes Schmied ist, aber auch Kontingenzen ausgesetzt ist, mit denen er rechnen muss. Kohärenz ist auf mittlerer Reichweite erreichbar und subjektiv produzierbar. Man muss sich durchaus auf neue, unvorhergesehene Situationen einstellen, aber das ist machbar. Wer so lebt, der wirkt dynamisch, und doch ist er von den Spuren der Anstrengung gezeichnet, die dieses Leben kostet: »der Preis des Glücks«. 
  • Dem dritten Narrationstyp liegt ein situativer Entwurf zugrunde. Auf das Leben im Hier und Jetzt kommt es dabei an. Kohärenz ist nur situativ erlebbar, die Zukunft erscheint als terra incognita, Utopie wird nur ironisch gebrochen formuliert, man kann sich vorsichtig an sie herantasten. Ironie, Spaß und Hedonismus charakterisieren diese Grundstimmung. Die Kellerseite sind aber doch auch oft: versteckte Töne der Verzweiflung, zuweilen Zynismus und Hoffnungslosigkeit, Dauerfriktion.

Jeder Narrationstyp hat seine Stärken und Schwächen: Es ist schließlich kein Fehler, nicht immer alles planen zu wollen, Freude am Leben zu wünschen, das Hier und Jetzt zu genießen. Es ist nicht verwunderlich, wenn allzu starker Orientierung an abstrakten Idealen mit ironischer Distanz begegnet wird oder Ermüdungserscheinungen beim Diskutieren ethischer Begründungsansätze auftreten. Andererseits werden durchaus auch die Nachteile gesehen, wenn einer »keinen Plan« besitzt, nur noch schwimmt und keine Struktur mehr in sein Leben bekommt. Im herkömmlichen Ethikunterricht wird oft so verfahren, dass Lebensentwürfe aus der Antike oder ethisches Argumentieren aus der Neuzeit mit diesen Entwürfen verglichen werden. Das Problem dabei besteht darin, dass Orientierungswissen hier primär aus der Vergangenheit bezogen wird. Historische Veränderungen, durch die die Situation »Postmoderne« gekennzeichnet ist, können darin kaum eingeordnet werden. Mit Kant in der Hand kommt man nicht durchs ganze Land.

Was kann man als Lehrer nun mit diesen drei Mustern von Lebensentwürfen anfangen? Was bieten sie über unseren klassischen Kanon hinaus an Perspektiven für Identitätsarbeit?

Nun, zunächst sind sie für den Lehrer und Schüler ein Analyseinstrumentarium, Narrationen überhaupt ansatzweise zu verstehen. Andererseits können mit Schülern diese verschiedenen Muster durchaus auch anhand zeitgenössischer Erzählungen erarbeitet werden. Sie haben dann die Möglichkeit, den Transfer in ihre eigene Lebenswelt in eigenständiger Verknüpfungsarbeit zu leisten. Es hat zwar den Anschein, als würde man ihnen durch die Behandlung z. B. von Filmen im Ethikunterricht den Spaß an der Identifikation verderben. Ich habe dagegen die Erfahrung gemacht, dass sie durchaus auch von Einsichten, die durch Analyse gewonnen werden, profitieren. Die eigenen Sehnsüchte und Verletzlichkeiten können so besser begriffen, auch Perspektivwechsel können emphatisch eingeübt werden. Es geht in der Analyse nicht um »richtige« und »falsche« Muster, sondern um Angemessenheit und Stimmigkeit der Muster für die jeweiligen Menschen. Als gemeinsame Bearbeitungsgrundlage möchte ich einige Filme vorschlagen, in denen es um Identitätsfragen und Lebensentwürfe geht:

»Jenseits der Stille« (ein eher geschlossener Entwurf, in dem die Entwicklung von Eigenständigkeit und die Ablösung vom Elternhaus thematisiert werden; eignet sich besonders gut für Mädchenklassen)

»Good Will Hunting« (auch ein eher geschlossener Entwurf, in dem jedoch die Freiheit der Entscheidung für den eigenen Lebensweg im Mittelpunkt steht. Jungen verspüren einen hohen Grad der Identifikation; auch die Frage, inwieweit gute Freunde dazu beitragen, den je eigenen Weg zu finden, wird einfühlsam und nachvollziehbar dargestellt)

»Star Wars« und »Herr der Ringe« (hierbei handelt es sich eigentlich um klassische geschlossene Entwürfe. Alter Wein wird in neue Schläuche gefüllt. Archaische Muster von Heldentum, eindeutige Gegenüberstellungen von Gut und Böse bieten eher abstrakte Orientierungsmuster. Die Reise des Helden, seine Abenteuer und Herausforderungen sowie seine Läuterung erfolgen nach herkömmlichen Mustern.)

»Lola rennt« (ein »postmodernes Märchen«; siehe dazu die Unterrichtseinheit in diesem Heft, S. 32 f.)

»Italienisch für Anfänger«, »Kleine Missgeschicke«, »Elling« (>Loser-Filme<, in denen es gerade die Unvollkommenheit ist, die die Protagonisten liebenswert perfekt sein müssen und unseren Weg auf unsere je eigene Art finden können. Ein bisschen neben der Spur zu sein ist eigentlich das Normale, die »Normalität« hingegen - wie der Psychoanalytiker Arno Gruen[13] in einem überaus lesenswerten Buch beschreibt - »der Wahnsinn«.)

»Pulp Fiktion« (ein Kultfilm, der von Jugendlichen stark favorisiert, aber selten verstanden wird. Die Dauerfriktion ist hier das Grundthema. Ein Lehrer, der klassischem Bildungsgut verpflichtet ist, wird beim Konsum dieses Films keine Freude empfinden. Dennoch lohnt es sich, den drei Geschichten, die hier ineinander montiert sind, auf die Spur zu kommen. Wer will schon das Leben als »Schundroman« dargestellt sehen? Und wie oft bedienen doch auch wir selbst nur Klischees? Der situative Narrationstyp hinterfragt radikal und schonungslos. Das darf ihm nicht verwehrt werden!)

IV. Keine gelingende Identität ohne Anerkennung

Moderner Ethikunterricht - so meine These – lebt davon, wechselseitige Formen der Anerkennung zu praktizieren und bewusst zu machen. Axel Honneth[14] hat in der sozialphilosophischen Schrift den »Kampf um Anerkennung« auf drei Ebenen entfaltet. Er behauptet, dass Anerkennung in den Sphären der Liebe, des Rechts und der solidarischen Wertschätzung notwendig sind, damit Menschen ein gelungenes Leben führen können.

Die erste Ebene bezieht sich auf die Anerkennung im affektiven Bereich. Im Rückgriff auf die psychoanalytisch orientierte Objekttheorie von Winnicott et al. beschreibt Honneth, dass der Säugling im Kampf um die Anerkennung und Zuneigung der Mutter (und oder der engsten Bezugspersonen) seine Bedürfnisse artikulieren lernt und die Fähigkeit erwirbt, eine Balance zwischen Symbiose und Selbstbehauptung zu erreichen, ohne die Sympathie der Mutter zu verlieren. Der positive Verlauf dieses Prozesses ist konstituierend für die Genese seines Selbstvertrauens. Dieser Prozess ist nun keineswegs mit der Kleinkindphase abgeschlossen, sondern währt ein Leben lang. Er ist auch im Lehrer - Schüler - Verhältnis wirksam.

»Wenn du einen Menschen liebst, dann mache einen Entwurf von ihm«, fordert Bert Brecht. Schüler zu fördern bedeutet, sie in ihrer Originalität wahrzunehmen und eine Phantasie für ihre je eigenen Möglichkeiten zu entwickeln. Das geht weit über die Einordnung zwischen Note 1 und 6 hinaus und bemisst sich keineswegs nur an schulischer Leistung. Schüler anzuerkennen bedeutet, sich zu fragen: Was kann ich ihnen mitgeben, was können sie brauchen? Wie kann ich das Arbeitssetting so gestalten, dass sie ihre je eigenen Fähigkeiten entdecken und entwickeln können? Die zweite Ebene des Kampfes um Anerkennung bezieht sich auf die Rechtsverhältnisse. Konstituierend für die Selbstachtung des Subjekts ist nach Honneth, »dass ein Subjekt sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung als eine Person zu betrachten vermag, die mit allen anderen Mitgliedern ihres Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an der diskursiven Willensbildung befähigen, und die Möglichkeit, sich in derartiger Weise auf sich selbst zu beziehen.«[15] In der Schule bezieht sich diese Ebene der Anerkennung ganz klar auf die Gleichberechtigung ausländischer Schüler sowie auf Schüler verschiedener Religionsgemeinschaften oder solche, die so genannten »Randgruppen« der Gesellschaft angehören. Dass hier die Diskriminierung am größten und das soziale Gefälle offensichtlich ist, hat die PISA - Studie endgültig ans Licht gebracht.

Die dritte Ebene betrifft die Erfahrung von Solidarität in einer Wertgemeinschaft. Es geht dabei um die Wertschätzung der Leistungen und der jeweiligen Besonderheit der Person in einer Gemeinschaft. Moderne Gesellschaften verfügen nicht mehr über einheitliche Wertmaßstäbe, an welchen diese Leistungen gemessen werden. Nach Honneth befinden sich moderne Gesellschaften »in einem permanenten Kampf, in dem die verschiedenen Gruppen mit den Mitteln symbolischer Gewalt versuchen, unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen den Wert der mit ihrer Lebensweise verknüpften Fähigkeiten anzuheben.[16]

Welche besondere Leistung kann der Einzelne in seiner Schulgemeinschaft erbringen - und wie wird sie gewürdigt? Diese Fragen - in Waldorfschulen schon längst begriffen - werden an unseren staatlichen Schulen jetzt nicht zu Unrecht neu gestellt. Der Kampf um Anerkennung auf allen drei Ebenen wird nach meiner Erfahrung massiv in den Schulen ausgetragen. Diese Anerkennung brauchen die Jugendlichen nicht nur vom Lehrer, sondern ein Ziel des Unterrichts besteht darin, dass sie dieselbe auch untereinander entwickeln. Dabei bedeutet Anerkennung nicht unbedingt Zustimmung und Übereinstimmung, sondern ein Kennen des Andern, ein Wissen um ihn und vor diesem Hintergrund ein Anerkennen seiner Bedürfnisse. Was Honneth aus sozialphilosophischer Sicht entwickelt, trifft sich mit Keupps Anerkennungskonzept aus sozialpsychologischer Sicht[17], es trifft sich ebenso mit den ethischen Begründungsansätzen zeitgenössischer Care - Ethik[18]. Respekt, Achtsamkeit, Fürsorge, Empathie und Prozessorientierung werden hier als unverzichtbare Bestandteile einer modernen Ethik benannt. Anerkennung zu praktizieren und das Apriori der Anerkennung gleichzeitig als Prinzip im Ethikunterricht zu thematisieren bedeutet, sich mit Schülern gemeinsam in einen Prozess zu begeben, in welchem alle angesprochen sind, besser sehen und verstehen zu lernen. Videor ergo sum, video ergo sum - ein erster Akt der Anerkennung, mit dem unser Dasein in der Schule täglich neu beginnt.

Unterrichtsmaterialien

Material 1: Wer oder was Ist »Ich«? 

In unserer Sprache wird das Wort »ich« auf verschiedenen Bedeutungsebenen verwendet. Ich sage z. B.: »Ich kann schreiben und lesen«, - »Ich will jetzt was zu essen« usw. Dann spreche ich von mir selbst in der ersten Person Singular und drücke aus, was ich aktuell bin, habe, kann, will etc. Was ist jedoch gemeint, wenn ich von „meinem Ich« spreche? Dieses »Ich« setzt sich aus vielen Facetten zusammen. Um genauer zu beschreiben, was dieses »Ich« ist, kann ich mich von außen wie aus der Vogelperspektive anschauen oder in mich hineinhorchen oder meine Handlungen und Wirkung auf andere Menschen beobachten. Jeder Schüler sucht aus dem Fragenkreis eine Frage heraus, die ihn besonders anspricht, und schreibt seine Gedanken dazu auf.
Sieben Beispiele und Fragen zum Nachdenken: Diese Fragen zum Ich sind so angelegt, dass mehrere Facetten berücksichtigt werden. Originalität, Authentizität, Ambiguität, Kohärenz und moralische Urteilskompetenz sind gleichermaßen angesprochen und können in der anschließenden Auswertung als zur Identität gehörig herausgearbeitet werden. Die Fragen können zunächst mit den Schülern durchgesprochen werden, wobei begleitend Bildmaterial eingesetzt wird, um die Probleme zu visualisieren. Anschließend erhalten die Schüler die Aufgabe, sich einen Fragenkomplex nach eigener Wahl herauszugreifen und eigene Gedanken dazu zu entwickeln. Ebenso können eigene Bilder dazu gefunden oder gemalt werden.

1. Ich selbst - ein Original

Worin besteht das Vergnügen, beim Stadtbummel Schnappschüsse aus der Fotobox zu ziehen? Warum wird bei Bewerbungen häufig ein Lebenslauf mit Passfoto verlangt? Was lässt sich dabei über die Person herauslesen? Was sagt ein Bild über die Person aus, was verschweigt es? Warum kann man sich auf manchen Bildern nicht ausstehen? Was ergibt sich beim Blick in den Spiegel«? Worin unterscheiden sich Bilder von »Spiegelbildern? Was kannst du entdecken, wenn du eine Fotoserie von dir selbst über verschiedene Lebensalter herstellst? Inzwischen lassen
sich Bilder durch Computeranimation verändern. Hättest du den Impuls, ein Bild von dir zu verändern? In welcher Weise? Eine Schülerin hat auf der Trauerkundgebung in Erfurt folgendes
Gedicht vorgetragen: »Niemand hat deine Fingerabdrücke. Niemand hat deine Stimme. Niemand sagt so >Ich liebe dich< wie du, niemand glaubt wie du. Niemand denkt so ans Sterben wie du. Niemand hat deine Geschichte. Niemand spürt die gleiche Trauer, das gleiche Glück wie du. Niemand ist wie du. Niemand in deinem Land, auf deinem Kontinent, auf dem dritten Planeten dieses Sonnensystems, in der Galaxie, die wir Milchstraße nennen: Niemand. Weil du einmalig bist.« 

Abb. 3:  Fragen zum Ich










Was, meinst du, hat die Schülerin veranlasst, ausgerechnet dieses Gedicht in ihrer Trauerrede zu zitieren?

2. Warum fliegt der V-Mann so leicht auf?

Ein V-Mann ist ein Beamter, der unter falschem Namen beispielsweise in ein Milieu von Kriminellen eingeschleust wird. Er arbeitet verdeckt, d. h. er spielt in diesem Milieu die Rolle eines Insiders, um die Drahtzieher zu ermitteln. Aus Krimis oder Spionagefällen wisst ihr, dass V-Männer in Situationen auffliegen, wenn sie sich durch scheinbare Kleinigkeiten verraten.
Sammelt Beispiele, die ihr aus Filmen oder aus der Politik kennt. Was ist das Besondere an diesen »Kleinigkeiten«? Warum ist es so schwer, eine fremde »Identität« anzunehmen und der Umgebung diese glaubhaft vorzutäuschen? Mit welchen Mitteln werden Menschen »identifiziert«?

Im Internet lassen sich alle möglichen Spiele mit fremder Identität spielen. Was ist gut daran? Spielst du solche Spiele? Welche Rolle gibst du dir in diesen Spielen?

3. Das "Ich" - verletzlich und verwundbar

Abb. 4:  Eintätowierte KZ-Häftlingsnummer



Auf dem Bild seht ihr die Nummer, die einem KZ-Häftling in die Haut eingebrannt wurde. Warum ist es entwürdigend, einen Menschen zu brandmarken? In Amerika wollte einmal ein Mann seinen Namen durch seine Kontonummer ersetzen. Was wollte er damit erreichen? Warum hat die UNO beschlossen, dass jedes Kind ein Recht auf den eigenen Namen hat? Ein Tattoo ist auch ein »Brandmal«, das man kaum wieder beseitigen kann. In der Sendung »Wetten dass?« war folgende Saalwette der Renner: Wetten, dass keine zehn Leute gefunden werden, die sich »Wetten dass?« tätowieren lassen? Was glaubst du, wie die Wette ausgegangen ist? Wie hättest du selbst entschieden?

4. Hier stehe ich - ich kann auch anders! Bis hierher und nicht weiter ...

Es gibt Situationen, in denen möchtest du etwas verbergen, was du getan oder gedacht hast. Das kann verschiedene Gründe haben: Entweder fürchtest du dich davor, die Anerkennung anderer zu verlieren, oder du bist vielleicht der Meinung, dass das, was du getan hast, nicht ganz in Ordnung war. Ein Freund rät dir: »Sei doch kein Feigling, steh zu dem, was du getan hast.« In einem solchen inneren Konflikt musst du eine Lösung finden, die für dich selbst stimmig ist, mit der du leben kannst. Du bist mit einer Situation unzufrieden, etwas stinkt dir schon lange, du hast lange genug ertragen oder zugeschaut; jetzt reicht es dir: bis hierher und nicht weiter .. . du lässt es dir nicht mehr gefallen, du unternimmst jetzt was. Versuche, eine solche Situation zu beschreiben.

5. Ich will, dass wir uns vertragen ...

Schon im Kindergarten geht es los: »Wenn du das tust, bin ich nicht mehr dein Freund«, und es arbeitet in dir und im andern. Wie lange soll das so weitergehen? fragt sich jeder für sich. Wer tut den ersten Schritt aufeinander zu? Vertragen wir uns jetzt wieder? Sind wir jetzt wieder Freunde? Das geht eine Weile gut, beide sind hochzufrieden, doch dann kommt der nächste Zoff ...
Waren die Bemühungen vergebens? Gibt es Verlässlichkeiten? Auf wen oder was kann ich mich verlassen (mich selbst eingeschlossen)?

6. Das »Ich« - ein Rätsel?
 Angenommen, ein Mensch würde geklont. Wäre der Klon dann wirklich derselbe wie das »Original«? Hätte er dieselbe Seele? Was wäre für die »Doublette« anders als für das Original in seinem Lebensvollzug? In welchen Situationen sagst du: »Es kommt mir vor, als  stünde ich neben mir«, oder: »Ich verstehe mich selbst nicht«? Was geschieht mit Menschen, wenn sie gestorben sind? Lebt ihr »Ich« irgendwie weiter? Welche Auffassungen dazu sind dir bekannt? Welche teilst du?

Abb. 5:  Zwei genetisch identische Schafe: Klone




7. Sieben Leben möcht ich haben

So lautet der Titel eines Kinderliedes, in dem aufgeführt wird, was man alles ausprobieren würde, wenn man sieben Leben hätte. Was würdest du mit sieben Leben anfangen? Versuche, drei Varianten eines möglichen Lebens zu entwickeln.




Material 2: Siegfried Lenz - Eine Schulstunde auf japanisch

Abb. 6:  Begrüßung auf Japanisch

Siegfried Lenz: Eine Schulstunde auf japanisch

Nein, sie waren keine Soldaten des ABC. Gewiss, sie trugen alle dunkle Uniformen, in schöner Disziplin lagen ihre Händchen auf der Schulbankkante, ihre kleinen Körper bezeugten auch schon eine frühe Würde des Dasitzens, doch als ich den Klassenraum der alten, über hundert Jahre alten japanischen Elementarschule betrat, da widersprachen sie sogleich der vorgeführten Haltung. Vertrauensvoll zwinkerten mir die achtjährigen Jungen und Mädchen zu, klapsten mich heimlich, so dass Schulrat und Schuldirektor es nicht bemerkten, drückten mir schnell die Hand, lächelten, flüsterten, boten mir Zettel an. Schon kam ich mir vor wie der neue Schüler, dem man sein verstecktes Wohlwollen zu erkennen gibt. Ich hatte mir gewünscht, eine lange Schulstunde auf japanisch mitzumachen, und die Japan-Foundation, die ihrem Gast in beispielloser Generösität nahezu jeden Wunsch erfüllt, hatte mir eine kleine Schule sehr fern von Tokio empfohlen, eine ganz aus Holz gebaute Schule, die Wände geschwärzt vom Alter, die Flure blank gewetzt von unzähligen Stoffsandalen und Strümpfen. Dass ich mich wie auf einer Rutschbahn fühlte, Schwierigkeiten mit meinem Stand hatte, lag an den zu engen Hausschuhen, die ich hier - wie überall sonst- am Eingang gegen meine Straßenschuhe tauschen musste, japanische Pantoffel sind nun einmal für japanische Fußgrößen gedacht, sie bekneifen geradezu europäische Zehen - immerhin, mit den zierlichen Pantoffeln am Fuß merkt einer rasch, ob ein unentdeckter Kürläufer in ihm steckt. Es gelang mir, ohne Sturz, zu einem Bänkchen zu segeln, die Lehrerin nickte mir anerkennend zu, und in dem Augenblick, als sie das Thema der Schulstunde bekanntgab, lösten sich auch alle Blicke von mir, verschmitzte, neugierige, abschätzende Kinderblicke. Das Thema überraschte mich, es gab mir zu denken: Über den Gruß, so hieß es, über die Bedeutung des Grüßens zwischen Bekannten, zwischen Fremden. Die Schüler indes schien dies Thema keineswegs zu überraschen, mit einem Ernst, der mich verblüffte, mit einer gesammelten Aufmerksamkeit, die ich nicht vermutet hätte, fingen sie gleich an, dies so bedeutungsvolle Zeremoniell menschlicher Begegnung zu beschreiben und, von der Lehrerin gelenkt, auszulegen. Unwillkürlich dachte ich an den Grußaustausch der Erwachsenen hier, den ich oft genug erlebt hatte, an die bis zur Schmerzschwelle reichenden Verbeugungen, an die Gesten des Respekts, der Ergebenheit, der Unterwerfung, welch anstrengende Bekundung von Ehrerbietung wird da gefordert, welche Manifestation der Friedfertigkeit ist da vorgegeben. Doch weder Herkunft noch Perfektion des Grußes - so mit gleichzeitiger Überreichung der Visitenkarte - sollten in der Stunde behandelt werden; die verengte Aufgabe lautete vielmehr: Was lässt sich aus einem Gruß erfahren? Fröhlichkeit, sagte der kleine Kenzo. Schlechte Laune, sagte die kleine Noriko. Traurigkeit, sagte der noch kleinere Tomoyoshi: bevor sie sagten, was alles ein Gruß preisgeben kann, standen sie auf und nannten ihre Namen, und es war erstaunlich, wie viel unterschiedliches Befinden sie herauslesen konnten aus Gruß und Gegengruß. Auf einmal fiel dem kleinen Akira ein, dass die Lehrerin nicht allzu heiter geantwortet hatte auf den Morgengruß der Klasse; nach möglichen Gründen befragt, vermutete er, dass vielleicht die Mutter der Lehrerin krank sei - ein Kopfnicken zur Belohnung, er hatte recht. Und lzumi erinnerte sich, dass sein Banknachbar nur bedrückt zurückgegrüßt hatte - einfach, weil er zu spät gekommen war und noch nicht wusste, welche Zurechtweisung ihn erwartete. Mit dem Gruß also geben wir uns zu erkennen, unsere Stimmung ebenso wie unsere Absichten, wir öffnen uns, wir versprechen etwas, aber wir sollten es nicht genug sein lassen mit dem eigenen Gruß, sondern immer darauf achten, wie wir zurückgegrüßt werden, und wenn der Gegengruß nicht unserem entspricht, wenn er nicht die gleiche Fröhlichkeit zeigt, die gleiche Offenheit und Klarheit, dann müssen wir uns fragen, woran das liegen könnte. Ein trauriger Gegengruß zum Beispiel sollte schon ein Grund sein, behutsam nachzufragen, vielleicht braucht einer unseren Trost, unsere Anteilnahme. Um die Empfindlichkeit für die Auslegung des Grußes zu schärfen, spielte die Lehrerin ein Tonband mit Beispielen ab, die Schüler hörten sehr konzentriert zu, hatten viel zu sagen; mich beeindruckte der Ernst, die grüblerische Ausdauer - es war unausbleiblich, dass ich meine Art des Grüßens überprüfte und vergleichend bewertete. Ich fragte, welchem Fach diese Unterrichtsstunde zugerechnet wird, und der Schuldirektor erklärte: Sozialkunde; wir haben einen ziemlich weitgehenden Begriff für Sozialkunde. 

Die Geschichte thematisiert das Prinzip »Anerkennung« (siehe auch M 4). Siegfried Lenz erlebt als aufmerksamer »Zaungast« Besonderheiten des Lebens von Menschen aus anderen Ländern. Eigene Vorurteile kommen dabei ins Wanken, wechselseitige Lernprozesse ereignen sich. Die Geschichte kann zum Anlass genommen werden, die Atmosphäre in der Schule oder Klasse zu besprechen. Es kann auch ganz allgemein das Thema »Grüßen« vertieft werden (hierzu können die Filme/Bücher von Desmond Morris (Das Tier Mensch) herangezogen werden, Begrüßungen in verschiedenen Ländern, Formeln, Begrüßungen in verschiedenen Altersgruppen usw.), denn im Gruß ist das Apriori der Anerkennung enthalten. In Klassen, in denen ich die Geschichte behandelt habe, beginnt der Unterricht seither mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit - wir sind wechselseitig immer gespannt, was uns zur Begrüßung einfällt.

Material 3: Der Fall Reemtsma - Wie hätte ich mich verhalten?
 »Es ist ein Unterschied, ob ich eine Tat tue oder jemand anders. Der Satz: >Hätte ich es nicht getan, hätte es ein anderer getan< verkennt überhaupt den Sinn von Moral. Wenn ich vor einer Entscheidung stehe, geht es einzig und allein darum, ob ich etwas tue oder nicht. Es ändert an der Bewertung meiner Handlung nichts, ob, wenn sie unterbliebe, jemand anders etwas Ähnliches tun würde. Es geht bei der Frage, ob Handlungen moralisch gerechtfertigt sind oder nicht, um richtig oder falsch, meinethalben um gut oder böse, nicht um erfolgreich oder weniger erfolgreich. Wenn einer sagt: >Hätte ich nicht geschossen, hätte es ein anderer getan<, so versteht er nicht, worum es geht, wenn eine Entscheidung nach moralischen Kriterien gefällt werden soll. Es geht darum, ob ich schieße (oder was immer) oder nicht. Es geht nicht darum, ob ich durch meine Weigerung zu schießen, jemandem schon das Leben gerettet haben werde. Meine Entscheidung bezieht sich auf den Umstand, dass es mir nicht gleichgültig ist, ob ich ein Mörder bin oder nicht. Das habe ich zunächst zu entscheiden. Natürlich kann ich darüber hinaus auch versuchen, ein Leben zu retten. Ich kann versuchen zu verhindern, dass ein anderer zum Mörder wird. Ich kann ein Held werden und mein Leben dafür einsetzen, dass kein Mord geschieht. Aber die Ausrede, weil man von mir nicht verlangen könne, ein Held zu sein, so müsse man mir auch verstatten, ein Mörder zu sein, ist monströs«. (S. 24) »Aber umgekehrt kann man doch nicht den Satz aufstellen, das Recht, moralisch zu urteilen, müsse erst erworben werden. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Die meisten von Ihnen wissen, dass ich vor über dreieinhalb Jahren Opfer eines Verbrechens geworden bin: ich wurde entführt und über einen Monat als Geisel gehalten, um von meiner Familie ein Lösegeld zu erpressen. Während dieser Zeit habe ich mir u. a. die Frage gestellt, wie ich mich verhalten würde, wenn sich jemand im Austausch gegen meine Person als Geisel anböte. Ich kam für mich zu dem Schluss, dass ich das würde ablehnen müssen. Eine Zeit wie diese, in der ich nicht nur nicht wusste, ob ich überleben würde, sondern in der zudem der Tod in jedem Augenblick und in vielen möglichen Formen hatte eintreten können, möchte ich niemandem zumuten, schon gar nicht jemandem, der so selbstlos wäre, einen Austausch anzubieten. Ich habe damals gehofft, ich würde, falls eine solche Situation eintreten würde, die Kraft haben, gemäß dieser Einsicht zu handeln. Da die Situation nicht eingetreten ist, kann ich bis heute meiner diesbezüglichen Standhaftigkeit nicht sicher sein. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. Was bedeutet das? Nun, ich war und bin sicher, dass meine Beurteilung der möglichen, aber (noch) nicht realen Situation richtig war. Hätte ich so gehandelt, wie ich mir vorgenommen hatte, hätte ich richtig gehandelt. Hätte ich anders gehandelt, hätte ich falsch gehandelt. Wäre es nun dazu gekommen, und hätte ich falsch gehandelt, hätte ich mich hoffentlich nicht herausgeredet, sondern mir (und anderen) eingestanden: es war falsch, aber ich bin nicht stark genug gewesen, um richtig zu handeln. Gesetzt nun den Fall, jemand anderes wäre vielleicht ein Jahr später in einer ähnlichen Lage gewesen und hätte ebenso versagt. Ich meine nicht, dass meine Kompetenz und mein Recht, moralisch zu urteilen, tangiert gewesen wäre. Gerade weil ich mir hätte eingestehen müssen, dass ich falsch gehandelt habe, hätte ich auch im Falle des anderen zugeben müssen: auch er hat falsch gehandelt. Man sieht: ein moralisches Urteil setzt keine >moralische Überlegenheit< (was immer das ist) seitens des Urteilenden voraus. Natürlich müsste ich dabei sehr auf meine Worte achten. Aber auch wenn ich eine solche Situation anders, moralisch richtiger bestanden hätte, würde ich gegenüber jemandem, der sich in einer vergleichbaren Situation als schwächer erwiesen hat, meine Worte mit Vorsicht wählen. Einfach darum, weil ich um die Belastungen weiß, die Geiselhaft und Todesdrohung mit sich bringen. Weil ich weiß, wie verzweifelt und schwach man sein kann, und weil ich Nachsicht mit jedem habe, der unter solchen Bedingungen Entscheidungen treffen muss. Das heißt aber eben nicht, dass wegen der Belastungen die Entscheidungen moralisch neutral werden. Wir sind wieder bei dem Wort >Nachsicht<. Man kann vielleicht verstehen, dass derjenige, der diese Art Nachsicht vermisst, die Bitte darum, die ihm eigentlich auf der Zunge liegt, in die aggressive Ansicht, urteilen dürfe nur, wer dabeigewesen sei, umformuliert. Aber Nachsicht, noch einmal, bedeutet nicht Indifferenz. Nachsicht zu üben ist ja gerade an den Vorgang des Urteilens gebunen, Nachsicht bedeutet, sich die Umstände von Handlungen und Unterlassungen genau anzusehen. Und: Nachsicht ist dabei nicht das Ziel, sondern Ziel ist das Urteil, das zu wägende nach Kenntnisnahme der Umstände. Nachsicht ist eine Haltung, die das Urteilen nicht ersetzt, sondern begleitet, und eine Tugend eben nur so lange, als sie nicht in Indifferenz umschlägt«. (S. 21)
(Auszüge aus: Jan Phillip Reemtsma, »Wie hätte ich mich vehalten?« und andere, nicht nur deutsche Fragen,München 2001, S. 9 ff.)

Je nach Bedarf lässt sich der Auszug aus dem Reemtsma - Text um das Beispiel kürzen bzw. erweitern, in welchem er von seiner Geiselnahme berichtet. Vom 25. März bis zum 26. April 1996 war Jan Philipp Reemtsma entführt. Seine Verschleppung, Gefangenschaft und Befreiung hat er im Buch Im Keller geschildert und reflektiert. Es gelang ihm danach, den Entführer durch von ihm beauftragte Ermittler in Südamerika ausfindig zu machen und so der Strafjustiz zu übergeben.

Abb. 7:  Jan Phillip Reemtsma - Beweisfoto seiner Entführer

 










Heiner Keupp: Drei Dimensionen der Anerkennung

Das Gefühl der Anerkennung setzt sich aus drei eng miteinander ver­wobenen Elementen zusammen, in denen sich ein klassisches Identi­tätsthema (die ineinander verschlungene Innen- und Außenbezie­hung) widerspiegelt.

 • Aufmerksamkeit von anderen  (Wahrnehmung verbaler/ nonverba­ler Botschaften: ... du bist wer, ich sehe dich, ich höre dir zu, ich lasse mir Zeit, um dich kennenzulernen, ich bin neugierig auf dich...

 • Positive Bewertung durch andere (Wahrnehmung von nonverba­len/verbalen Bewertungen: ... ich finde gut, was du denkst/ sagst / fühlst / tust bzw. wie du es denkst, wie du dich gibst, welche Prozesse du herstellst)

 • Selbstanerkennung (Selbstbewertung: ... das, was ich gut finde, müssen /sollen andere auch gut finden, ich fühle mich auch unab­hängig von Bewertungen der anderen gut/ schlecht)

 Erst wenn alle drei Elemente «erfüllt» sind, kann eine erfahrene Selbstthematisierung ihre «anerkennende» Wirkung entfalten. Fehlt eine der drei Komponenten, bleibt die Anerkennung unvollständig und wird vom Subjekt mit Zweifeln erlebt. 

Vier Gefährdungsvarianten der Anerkennung

 Beispiel 1: keine Aufmerksamkeit.

  •  Basisgefährdung: - Sub­jekte erfahren  kaum positive Bewertungen; - positive Bewertungen bleiben nur oberflächlich; - Erfahrung, daß niemand von einem Notiz nimmt bzw. es für notwen­dig hält, das, was man denkt und tut, zu bewerten.

 Beispiel 2: erfahrene Aufmerksamkeit, aber wenig positive Bewer­tungen.

 - Jugend­liche, die in ihrer Clique eher den Status von Mitläufer(inne)n haben.

- Ungleichwertige Beziehungen (Herr-Knecht, einseitige Freundschaften).

Folge: Selbstthematisierungen mit wenig innerer Überzeugungs­kraft, verminderte Selbstanerkennung.

- Seltener ist die Variante des inneren Widerstands (das, was ich tue, ist wertvoll, obwohl die anderen mir dies nicht zurückspie­geln).

Beispiel 3: trotz Aufmerksamkeit und erfahrener positiver Wert­schätzung durch signifikante Andere wenig Selbstanerkennung.

 - Typischer Pessimist/in, der/die niemandem vertraut.

- Vermutung einer arglistigen Täuschung oder strategischem Spiel hinter jedem Lob.

- Grund: Traumatische frühere Erfahrungen, die stärker wirken als positive Gegenwartserfahrungen. In aller Regel entwertet die fehlende Selbstanerkennung die erfahrene Anerkennung durch an­dere.

 Beispiel 4: hohe Selbstwertschätzung, die mit wenig Rückbezug auf geäußerte positive Bewertung und Aufmerksamkeit anderer gelebt wird.

 - Diese Variante beruht auf einem eher egoistischen und narzißti­schen Selbstverständnis. Das Subjekt entwirft ein eher auf Konkurrenz aufgebautes und auf dem Gefühl der Überlegenheit beruhendes Selbst­verständnis. Sowenig die Fremdbewertung wichtig ist, so sehr braucht dieses Modell jedoch die Aufmerksamkeit der anderen. Fehlt diese, so scheitert diese Selbsteinschätzung im konkreten Handeln.

 Quelle: Keupp, Heiner, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork in der Spätmoderne, Reinbek 1999, S. 190 ff. 

 


Anmerkungen

[1] Yalom, D. lrvin, Die Liebe und ihr Henker, München 1999, S. 11.
[2] Weischedel Wilhelm, Skeptische Ethik, Frankfurt a. M. 1980. Das entsprechende Werk ist leider vergriffen und nicht wieder aufgelegt worden.Die entsprechende Quelle zum Thema »Freiheit und Gebundenheit« findet sich jedoch in folgendem Lehrwerk: Bleier, Rudolf et al„ Handeln und Verantworten 12/13. Band, Bühl 1994, S. 160 und 168 f.
[3] Siehe Materialteil, M2
[4] Siehe den Artikel von Keupp in dieser Ausgabe. Darüber hinaus nachzulesen in: Keupp, Heiner, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork in der Spätmoderne, Reinbek 1999, S. 190 f. Das Buchenthält Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die über zehn Jahre hinweg im Rahmen einer Langzeitstudie befragt wurden. Diese Narrationen und deren analytische Auswertung sind für Lehrer spannend zu lesen, da wir mit ähnlichen Texten immer wieder im Unterricht tun haben.
[5] Siehe Materialanhang, M 2
[6] Reemtsma, ]an Philipp, »Wie hätte ich mich verhalten?« und andere nicht nur deutsche Fragen, München 2001, S. 9 f.; siehe Materialanhang.
[7] Kraus, Wolfrang, Das Erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Herbolzheim,2000.
[8] Kraus S. 170
[9] Kraus S. 172 f.
[10] Mc Hale nach Kraus, S. 173.
[11] Kraus S. 247.
[12] Kraus, ebenda
[13] Gruen, Arno, Der Wahnsinn der Normalität: Realismus als Krankheit, München 1987.
[14] Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1994.
[15] Honneth, ebenda, S. 192.
[16] Honneth, ebenda, S. 205.
[17] Siehe Materialanhang.
[18] Conradi, Elisabeth: Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a. M. 2001.