StartseitePublikationenBernd HainmüllerGleich wird’s grün – Freiburgs erster Nachkriegsprotest 1968

Gleich wird’s grün – Freiburgs erster Nachkriegsprotest

Die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung im Februar 1968

Bernd Hainmüller

Am 12. Dezember 1967 beschloss der Freiburger Gemeinderat mit 9 Gegenstimmen bei vier Enthaltungen eine „mäßige, nicht kostendeckende“ Erhöhung der Fahrpreise um 20 – 30 Prozent. Der Einzelfahrschein für Erwachsene sollte sich DM 0,50 auf 0,70 DM verteuern. Als Termin war der 1. Februar 1968 vorgesehen.

Wohl keiner der Stadträte ahnte, dass sie mit diesem Schritt eine Protestlawine auslösen würden, die das behäbige Städtchen mit den bis dahin größten Demonstrationen der Nachkriegszeit konfrontierten. Da staunte sogar die internationale Presse. So schrieb der London Observer am 11. Februar 1967: „In der ruhigen Kathedralenstadt Freiburg geht es um mehr als eine Rebellion gegen die Fahrpreise: Als ob es nicht schon erstaunlich genug wäre, dass in einem Land von Ruhe und Ordnung, von Wohlstand und von Antikommunismus Schüler versuchen, ein Gefängnis zu stürmen, wie es letzte Woche in Freiburg geschehen ist; erstaunlicher noch ist der Instinkt der Angst der älteren Generation, dass die Demokratie selbst in Gefahr sei“. Das mit der „Erstürmung des Gefängnisses“ war u. a. eine Erfindung der Bild-Zeitung, („Rund 100 Demonstranten versuchten, das Amtsgericht zu stürmen“-Dok.Nr.11296), die die ausländische Presse gerne übernahm. Doch dazu später. 

In der Tat war die Stadt nach dem 1. Februar 1968 in den Strudel von Ereignissen geraten, „die sie aus der beschaulichen Ruhe aufgeschreckt hatte“ (so der erste BZ Kommentar von Heinz-Dieter Popp). Jetzt, 35 Jahre später, gab das Archiv für soziale Bewegungen Freiburg eine umfangreiche CD heraus: mit Flugblättern, Film-, Photo- und Tondokumenten, Akten-auszügen und einer Chronologie der Ereignisse. Vieles davon konnte man schon 1988 in Peter Adlers Fernsehdokumentation „Um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen“ sehen, - hier aber hat man selbst Gelegenheit, den spektakulären Startschuss der Protestbewegungen in Freiburg nachzuzeichnen. (Archiv für soziale Bewegungen/Stadtarchiv Freiburg: „Gleich wird’s grün“ – Freiburger Fahrpreiskämpfe 1968, Coop Jos Fritz Verlag Freiburg, 2003. – alle weiteren kursiven Zitate aus den Dokumenten der CD)

Es tut sich was unter der Oberfläche

Genaugenommen waren es eine Handvoll Schüler des Kepler-Gymnasiums, die das stadtpolitische Erdbeben vom 1. Februar 1968 vorbereiteten, wenn auch wohl unfreiwillig. Im November 1967 gründeten sie, nach bereits vorhandenen bundesweiten Modellen, die Freiburger Sozialistische Schülergewerkschaft (SSG). Es ging ihnen um nicht mehr oder weniger als die radikale Demokratisierung der Schule.Ein erster Schritt dazu: mit den Schülern über wirksame Mitspracherechte an der Gestaltung des Schulalltags zu fordern. Ein Ansatzpunkt dafür war die schlechte Schulverpflegung am Kepler: "Ein Bäcker verkauft seine Ware in der Schule. Er kauft schlechte Ware, alte Ware. In der von ihm verkauften Ware befinden sich: Haare, Fliegen, eine Schraube, eine Sicherung. Eine Klasse ergreift die Initiative. Handzettel(Postkartengröße) werden verteilt. Sie fordern zur Gesundheitswoche auf: eigene Vesperbrote mitbringen. Reaktion von Oberstudiendirektor Jörder: Aktion muss sofort eingestellt werden. Verantwortliche müssen auf die Direktion. Die Klasse geht geschlossen hin. Herr Dr. Jörder nennt sie „SCHWEINEHUNDE“, „SAUBANDE“… Die SSG fragt: Einzelfall oder Symptom? Sind Schüler rechtlos? Sind Schüler Schweinehunde?" 

Die SSG rief für Samstag, 25. November zur Protestver¬sammlung in der Innenstadt auf, dem nicht gerade viele Freiburger Schüler folgten. Eine kleine Minderheit, doch sie sollte später den Kern der breiten Protestbewegung bilden, die den Kampf gegen die Fahrpreiserhöhung aufnahm.

Proteste mit Tanzmusik abbiegen?

Für die Stadtverwaltung war schon früh klar, dass die Preise anzuheben seien: Mit der Einführung der Mehrwertsteuer am 1.1.1968 hatten die Verkehrsbetriebe rund 500.000 DM mehr zu berappen, der Fortfall der vom Land getragenen Schülerfreifahrten bedeutete einen Ausfall von mehreren 100.000 DM und schließlich kam noch die letzte Tariferhöhung im Öffentlichen Dienst mit rund 3,5% dazu. Grund genug für viele Kommunen wie Freiburg, die Teuerung „moderat“ weiterzureichen. In Bremen tobten vom 15. Januar an eine Woche lang Straßenschlachten zwischen Schülern und Studenten mit der Polizei. Anlass: Fahrpreiserhöhungen. Die BZ berichtete ausführlich – und die Freiburger Verkehrsbetriebe wandten sich an die Stadtverwaltung: „Es ist wohl nicht anzunehmen, dass in Freiburg die Schüler und Lehrlinge den Betrieb stören werden. Es könnte aber sein, dass von Seiten eines Teils der Studenten nach dem Beispiel Bremen ähnliches versucht wird“. Um aber dennoch vorbereitet zu sein, schlug man eine kuriose Maßnahme vor: „Man könnte hier die bevorstehende Faschingszeit ausnutzen: Wenn sich jüngere Menschen auf Schienen bzw. Straßen setzen nicht gleich Polizei, sondern Lautsprecherwagen mit moderner Tanzmusik. Kurze, launige Ansprache: Beim Sitzen auf der Straße frieren auch junge Leute. Wenn vor den Wagen getanzt wird, können diese auch nicht fahren. Dann Tanzmusik. Damit könnten Spitzen gebrochen und alles mehr in das Humorige verbogen werden." Das Ordnungsamt beurteilte die Lage ernster als die Kollegen von den Verkehrsbetrieben und wies "eindringlich darauf hin, daß bei der Einführung der Tariferhöhung auf 1. Februar mit Demonstrationen der Studenten zu rechnen sei. (...) Es bedürfe nur eines Anstoßes, um die Studenten zu entsprechenden Aktionen zu veranlassen." Am 25. Januar, eine knappe Woche vor der geplanten Einführung der neuen Straßenbahn¬tarife, fand deshalb eine richtungsweisende Besprechung in der Stadtverwaltung statt. In Erwartung der Proteste wurde der Ter¬min zur Einführung erhöhter Tarife in letzter Minute um genau ei¬nen Monat (1. März) - und damit in den Beginn der Semesterferien - verlegt. Man wollte so aufkeimendem Protest den Wind aus den Segeln nehmen. „Das ziehen wir durch – tun aber so, als wären wir verhandlungsbereit“, scheint die Parole des Rathauses damals gewesen zu sein. Tatsächlich wollte die Stadtverwaltung protestierende Schülerdelegationen empfangen. Lediglich der DGB jedoch fiel auf die Abwiegelungspolitik der Stadt herein und zog seine Demonstrationspläne zurück.

Eine „kleine radikale Minderheit“ blieb hart

Die sozialistischen Schülerrebellen vom Kepler suchten nach Verbündeten und fanden sie im Freiburger SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Dieser war in Freiburg, im Unterschied zu Westberlin, zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls eine „kleine radikale Minderheit“ von Studierenden, vorwiegend aus den Geisteswissenschaften. Bei der Wahl zum Studentenrat Anfang Februar 68 erhielt der SDS lediglich einen Sitz im Studentenparlament (insgesamt 1.310 Stimmen – gewählt war Fritz Erik Hoevels ) und war auch nicht im Allgemeinen Studentenausschuß (ASTA) vertreten. Die Mehrheit stellten aber liberale bzw. bürgerliche Vereinigungen: Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB), Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), LSD, konfessionelle Gruppen und Vertreter der Burschenschaften. Die stärkste Fraktion im AStA war die Liste Unabhängiger Studenten (LUST). Aus dem SDS kam der eigentliche Antrieb zum Protest, der grundlegende Gesellschaftskritik einschloß. So argumentiert Michael Moos, ein Freiburger SDS – Mitglied in einer Stellungnahme am 13.2.1968: „Obgleich von Politikern aller Schattierungen das „politisch mündige Volk nur allzu oft beschworen wird, ändert sich die Lage recht schnell, wenn dieses Volk – oder zumindest Teile davon – seine Mündigkeit einmal unter Beweis stellen will. Dann zeigt der Ruf nach Ruhe und Ordnung, nach Knüppeln und Wasserwerfern, wie schwach die demokratische Fassade ist“. (Dok. 11396 – Leserbrief an die Badische Volkszeitung). Diese Fassade herunter zu reissen, hinter der die alten faschistischen Strukturen lauern, sah der SDS als eines seiner zentralen Anliegen an. Die Entlarvung der „repressiven“ Verhältnisse war am drastischsten durch Aktionen möglich: War nicht der Kanzler der Großen Koalition von 1966, Kurt Georg Kiesinger, selbst ein ehemaliger Parteigenosse in Hitlers NSDAP und Mitarbeiter im Reichspropaganda-Ministerium von Joseph Goebbels? Die Ohrfeige, die ihm Beate Klarsfeld in Berlin verpasste, spricht für sich. Allerdings war die Agitation des SDS gegen die versteinerten Verhältnisse in der Bundesrepublik, die drohende Faschisierung (Notstandsgesetze) nur ein Ausdruck der globalen Einschätzung der Lage als vorrevolutionär, angeleitet durch die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, v. a. in Vietnam und Lateinamerika.

Einem Polizeidirektor schwant etwas

Im noch beschaulichen Freiburg findet an Weihnachten 1967 Freiburgs Polizeichef Maier ein kleines Büchlein des amerikanischen Aussteigerpoeten Henry David Thoreau auf seinem Gabentisch. Titel: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“. Absender: der Freiburger SDS, dessen Vorsitzenden die Widmung verfasste: „Lieber Herr Polizeirat! In Anbetracht des herzlichen Verhältnisses zwischen Polizei und SDS ...möchten wir Ihnen mit dem beiliegenden Buch eine ganz besondere Weihnachtsfreude machen. Es soll Ihnen auch den schweren Dienst, der Sie im Neuen Jahr erwartet, erleichtern helfen. Leider konnten von den vielen Mitgliedern unserer Gruppe nur die wenigen unterschreiben, die höheren Ortes noch unbekannt sind... Eine vollständige Mitgliederliste wird auf Wunsch selbstverständlich überreicht…“

Rudi Dutschke vor der StadthalleAbb. 1:  Rudi Dutschke vor der Stadthalle Messplatz - innen tagt die FDP

Schwierig wurde es für Maier schon Anfang Februar. Nicht nur war Ärger wegen der Fahrpreise zu erwarten, man munkelte auch, dass der „Chefideologe“ des SDS, Rudi Dutschke, nach Freiburg käme, um den FDP-Bundesparteitag in der Stadthalle aufzumischen. Dutschke kam auch überraschend am 29. Januar 1968, konnte aber auf die bevorstehenden Proteste keinen Einfluss nehmen, da er abends wieder abreiste. Immerhin hatte er rund 3000 Schüler und Studenten vor die Stadthalle gelockt – keine schlechte Teilnehmerzahl für mögliche Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen.

Der Krisenstab tagt

Am 30. Januar – zwei Tage vor der ursprünglich geplanten Einführung der neuen Fahrpreise, sprachen die Direktoren der Verkehrsbetriebe zu einer Sitzung im Rathaus vor. Es sei durchgesickert, dass am Donnerstag, 1. Februar eine Demonstration stattfinden sollte. Dies bestätigte während der Sitzung auch der DGB-Kreisvorsitzende Jorzig, den der SDS und die SSG aufgefordert hatten, sich an Protesten zu beteiligen. Schließlich bestätigte fernmündlich auch der Chef des Amts für Öffentliche Ordnung, Greß, dass ein „Sit In“ am Bertoldsbrunnen geplant sei. Die „Anführer“ seien aber nicht die Schüler des Kepler, sondern des Rotteck-Gymnasiums –was sich heute kaum mehr klären lässt. In jedem Falle müsse man die Schüler davon unterrichten, dass eine Demonstration beim Amt für Öffentliche Ordnung anzumelden sei – so Greß. Ordnung muss sein. Für den Fall, dass es trotz der Bekanntgabe der Verschie-bung der Erhöhung auf den 1. März zu Demonstrationen komme, war man einhellig der An-sicht, „nicht mit polizeilichen Mitteln gegen die Demonstranten vorzugehen, sondern einfach den Verkehr insoweit stillzulegen, als die Gleise oder die Busse blockiert seien“. Darüber hinaus wollte man die Presse unverzüglich darüber informieren, dass entgegen der umlaufenden Gerüchte der neue Tarif im Februar nicht eingeführt würde. 

Am Abend des 30.1. wurde der Oberbürgermeister Keidel über den Stand der Sache unterrichtet. Nach dessen Auffassung sollte mit dem SDS nicht unmittelbar in Verbindung getreten werden, aber man könnte Schülerdelegationen einladen, um über die Fahrpreiserhöhungen zu sprechen. Offensichtlich war es die Taktik des OB, einen Keil zwischen die verschiedenen Protestgruppierungen zu treiben – hier die guten, dort die schlechten – oder, wie die BZ noch am 1. Februar titelte: „Verhandeln, nicht protestieren“. Doch kaum war die Zeitung auf dem Markt, erwies sich dieser Plan als reine Makulatur.

Der Protest bricht sich Bahn

Mit einem Flugblatt (die Überschrift war fast unansehnlich von Hand geschrieben) rief die „Aktionsgemeinschaft gegen die Fahrpreiserhöhung“ seit Donnerstagmorgen vor Schulen und Universität dazu auf, mit ihr am 1. Februar um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen über die Fahrpreiserhöhung zu „diskutieren“.

Der Aufruf der Aktionsgemeinschaft Freiburger Schüler: "Um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen"Abb. 2:  Der Aufruf der Aktionsgemeinschaft Freiburger Schüler: "Um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen"

„Mit öffentlichen Verkehrsmitteln darf kein Geschäft gemacht werden! Sie sind eine soziale Einrichtung!.Die öffentlichen Verkehrsmittel sind ihre Verkehrsmittel“. 

Kaum einer wusste, was an der Kreuzung Betroldsbrunnen dort wirklich passieren sollte: Damals war der Bertoldsbrunnen noch keine Fußgängerzone, sondern die BundesStraße 3 und damit die belebteste Straßenbahn- und PKW-Kreuzung Freiburgs! Auch die Initiatoren der ominösen „Aktionsgemeinschaft“ waren wenigen öffentlich bekannt. Gegen 12 Uhr 50 allerdings war laut dem „Vorkommnis“ des Kriminalkommissariats Freiburg klar, wer die Demonstrationswoche eingeläutet hatte: 

„Als Initiator der Demonstration konnte der ledige Student Michael Moos (Michael Moos ist heute Stadtrat der Linken Liste/Friedensliste im Freiburger Gemeinderat – d. V.) ermittelt werden. Moos ging gegen 12 Uhr 50 mit einem Megaphon in der Hand und 2 Begleitern von der Universität kommend in Richtung Bertoldsbrunnen. Dort stellte er sich in die Mitte der Straßenkreuzung und hat mit seinem Sprachrohr die anfänglich nur in beschränkter Zahl an-wesenden Studenten, Schüler und Passanten aufgefordert, öffentlich gegen die Fahrpreiserhöhung zu demonstrieren und zu diesem Zwecke die Straßenkreuzung zu besetzen. Unaufhörlich wiederholte er seine Forderung, zum Zeichen des Protestes auf dem Platz zu verharren. Versuche des ehem. ASTA-Vorsitzenden Ade und dessen Begleiter über Lautsprecher die Versammlung zu veranlassen, auf dem Münsterplatz zu diskutieren, blieben erfolglos“. Schließlich zog der größte Teil der Demonstranten unter Anführung des Michael Moos zum Siegesdenkmal, woselbst der Straßenbahn – und Autoverkehr vorsätzlich blockiert wurde. (…) Gegen 19 Uhr 30 löste sich der Aufzug auf, nachdem Moos bekanntgegeben hatte, dass die Protestdemonstration am 2. 2. 68 um die gleiche Zeit auf demselben Platz fortgesetzt würde“.

Michael Moos (mit Megafon), daneben rechts Hans-Jörg Hager, SDS-MitgliedAbb. 3:  Michael Moos (mit Megafon), daneben rechts Hans-Jörg Hager, SDS-Mitglied

Laut späteren Polizeiangaben waren an dieser ersten großen Nachkriegsdemonstration rund 1.000 Menschen beteiligt, die sich auf die Schienen setzten oder auf der Kreuzung standen. Es war ihnen klar, dass so der gesamte PKW-, Omnibus- und Straßenbahnverkehr blockiert war. Erst als gegen 17 Uhr Studentenvertreter mit der Mitteilung kamen, der OB habe zuge-sagt, die Fahrpreiserhöhung auszusetzen und die Tariferhöhung zu überprüfen, löste sich die Menschenmenge auf. Wenn die Stadtverwaltung geglaubt hatte, der „eintägige Spuk“ sei vorbei, lag sie mehr als schief in dieser Einschätzung. Jetzt kamen die Schüler zum Zuge. Die „Aktionsgemeinschaft Freiburger Schüler“ verteilte vor den Schulen folgendes Flugblatt:

„Wir sind nicht machtlos. Das bewies die gestrige Demonstration. Mehr als 2.000 Schüler zeigten, dass sie nicht zur Hinnahme einer solchen Preiserhöhung bereit sind….Heute 13 Uhr am Bertoldsbrunnen! OB Keidel wagt es nicht, mit uns zu diskutieren.Wir fordern zunächst die Rückkehr zu den alten Preisen. BIS DAS GESCHEHEN IST, DEMONSTRIEREN WIR WEITER! HEUTE WIRD WEITERDEMONSTRIERT!

Am Freitag, 2. Februar, waren ab 13 Uhr aufgrund des Flugblattes Schüler und Studenten wieder „aufmarschiert“, dieses Mal sogar noch mehr als am ersten Tag, laut vertraulichen Polizeiangaben zwischen 1200 und 1500. Sie schenkten den Beteuerungen der Stadtverwaltung über Verhandlungen erst Glauben, als die Stadträte Herre und Dr. Simon zusagten, das Thema in der Stadtratssitzung am Dienstag, als Punkt 1 einzubringen. Laut Polizeibericht plädierten danach selbst der „harte Kern der SDS-Mitglieder“ für das Räumen der Fahrbahn. 

Noch war also der Protest mit etwas gutem Willen kanalisierbar. Der kam der Stadtverwaltung jedoch spätestens an jenem Dienstag, 6. Februar, abhanden, als die gegen 17 Uhr am Rathausplatz anwesenden rund 1000 Demonstranten erfuhren, dass die Übertragung der Stadtratsdebatte auf den Rathausvorplatz nicht wie von einigen Stadträten versprochen stattfinden würde. Stattdessen wollte man 150 Einlaßkarten für den Zuhörerraum im Sitzungssaal ausgeben. Gegen 18 Uhr stimmte der Stadtrat erneut über die Fahrpreiserhöhung ab und bekräftigte seinem Beschluß vom Dezember 1967. 

Die Situation eskaliert

Damit war eine Eskalation unvermeidlich. Schon am Abend traf eine Hundertschaft Göppinger Bereitschaftspolizei mit zwei Wasserwerfern in Freiburg ein, um gegen mögliche weitere Demonstrationen in den nächsten Tagen vorzugehen. Die Kräfte wurden verstärkt durch Polizeibeamte aus Müllheim und Emmendingen. Als am Mittwoch, 7. Februar 1968 ab 13 Uhr zum vierten Mal der Bertoldsbrunnen blockiert wurde, setzte man erstmals in Baden-Württemberg Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein. Zitat aus dem Polizeibericht: „Um 14 Uhr 45 wurde der Befehl zur Räumung gegeben. Passiver Widerstand wurde durch einfache körperliche Gewalt und den Einsatz der Wasserwerfer gebrochen. Die Menge wich langsam und in der Masse auf die Gehwege unter die Arkaden (der Kaiser-JosephStraße), in Ladengeschäfte und in SeitenStraßen aus. Die Räumungskette erreichte gegen 15 Uhr 45 die Kreuzung Bertoldsbrunnen...

Erster Einsatz von Wasserwerfern in Baden-WürttembergAbb. 4:  Erster Einsatz von Wasserwerfern in Baden-Württemberg, meistens daneben...

Im Laufe des Einsatzes wurden 15 Personen vorläufig festgenommen, ein Lautsprecherwagen beschlagnahmt, ein Taschenradio wegen Abhörens des Polizeifunks beschlagnahmt, 4 Schaufensterscheiben beim Einsatz der Wasserwerfer von der zurückweichenden Menge eingedrückt, aus Häusern und der Menge vereinzelt Eier gegen Beamte und Dienstfahrzeuge geworfen, mehrere Sperrgitter und Sitzbänke in unbeobachteten Augenblicken quer auf die Farbahn gestellt und Blumen und Bonbon an Beamte verteilt“. Man muss dazu wissen, dass die Wasserwerfer direkt aus dem Daimler-Benz Werk in Gaggenau (Unimog-Produktion) nach Freiburg beordert worden waren; den Einsatzbeamten blieb keine Zeit, sich mit der Technik des "Wasserwerfens" vertraut zu machen, was zur Folge hatte, dass überall hingespritzt wurde: auf den Boden, in die Luft und auch in die Schaufensterscheiben in der Kaiser-JosephStraße. Dies erwähnt der Polizeibericht nicht, ebensowenig dass einige der von den Wasserwerfern Nassgespritzten lauthals nach „warmem Wasser“ verlangten – es war schließlich Februar! In der Studentenratssitzung am selben Abend, die bis 1 Uhr 30 morgens dauerte, kam es zu heißen Diskussionen über den Vorschlag, die im Amtsgericht am Holzmarktplatz einsitzenden 15 Festgenommenen zu befreien. Da Polizeirat Albert Maier bei dieser Sitzung spätabends „zufällig“ zugegen war, um die Gemüter zu beruhigen, kann davon ausgegangen werden, dass die Zeitungsente vom „Sturm auf das Gefängnis“, die der "Observer" und weitere international renommierte Zeitungen abdruckten, aus der Polizeidirektion selbst kam. Dass sie mit dieser nachweislichen Lüge die Stimmung weiter anheizte, scheint ihr nicht in den Sinn gekommen zu sein. 

Am Donnerstag, den 8. Februar 1968 ab 13 Uhr besetzten Demonstranten erneut zum fünften Mal den Bertoldsbrunnen, hatten aber eine neue Taktik: Da die Kreuzung an allen vier Ecken mit Absperrgittern verriegelt war, gingen die Demonstranten mit dem Ruf „Gleich wird´s grün“ in Gruppen über die vier Fußgängerampeln des Bertoldsbrunnens im Kreise und blockierten so „legal“ den Verkehr. Ihre Zahl schätzte der Polizeibericht auf 2 - 3.000. Sie begannen ein „Katz- und Maus-Spiel“ mit den Räumungsversuchen mittels Wasserwerfer und Polizei, das als „Freiburger Wasserspiele“ durch die bundesdeutschen Zeitungsberichte ging. Aber ganz so lustig war es nicht: Wieder wurden 16 Demonstranten (immer nur männliche!) festgenommen. Die Polizei drang zur Verfolgung von Demonstranten ins Kollegiengebäude II der Universität ein, was wiederum Diskussionen über die Frage des Hausrechts des Rektors auslöste. Um die Proteste endgültig niederzuringen, bestand die Landesregierung auf der Abordnung einer weiteren Polizei-Hundertschaft. An diesem Abend hatten selbst liberale und konservative Studentenvertreter den Eindruck, die Proteste sollten mit der Brechstange beendet werden. So war es auch.

Sich auf die Straße zu setzen, war für die meisten Demonstranten ungewohnt neuAbb. 5:  Sich auf die Straße zu setzen, war für die meisten Demonstranten ungewohnt neu; abgesehen davon war es strafbar

Der Schlagstock knüppelt den Protest nieder

Am 9. Februar 1968, ein Freitag, dann der polizeiliche „Schlussakkord“: Im Verlauf der eskalierenden Straßenschlachten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ein Theologiestudent wurde schwer verletzt, als er in der Alten Uni von vier Polizisten zusam-mengeschlagen wurde. Polizeirat Maier war am Morgen auf Anweisung der Landespolizeidirektion als „Krankheitsvertreter“ zur Polizeidirektion „abgeordnet“ worden und von einem Einsatzleiter aus Konstanz (Polizeirat Stather) abgelöst worden. Die „weiche“ Linie Maiers wich der wohl auch politisch seitens der Landesregierung Filbinger gewollten „Hau drauf- Linie“ mit dem Schlagstock, der die Proteste an diesem Tag endgültig niederknüppelte, bis die Innenstadt geräumt war. Weitere Demonstration wurde im Keim erstickt, aber für viele der beteiligten Bürger Freiburgs war das Verhältnis zwischen Bürger und Staat für die nächten Jahre nachhaltig erschüttert. Das zeigte sich spätestens am Kampf um besetzte Häuser, beim Schwarzwaldhof und Dreisameck und beim Bau des Kernkraftwerks in Wyhl.

1. März 1968: Die Fahrpreiserhöhungen treten in Kraft

Polizeireihen vor dem SchlagstockeinsatzAbb. 6:  Polizeireihen vor dem Schlagstockeinsatz

Die vom Freiburger Gemeinderat beschlossenen Tariferhöhungen für Straßenbahnen treten am 1. März 1968 in Kraft. Eine am Freitag nachmittag erwartete Demonstration fand nicht mehr statt. Ein Dutzend Polizeibeamte genügte, um nach den Knüppelorgien der Vorwochen die Fahrbahnen am Bertoldsbrunnen von "Störern" fernzuhalten. Doch damit ist der Fall "Straßenbahnproteste" bei weitem nicht abgeschlossen. Bereits am 7. März meldet die Badsiche Zeitung, dass die Staatsanwaltschaft Freiburg bereits 14 Strafbefehle gegen Demonstranten "wegen Auflaufs" erteilt hat; zwei Jugendliche müssen sich in einem weiteren verfahren vor dem Jugendgericht verantworten. "Im einzelnen erhielten elf Schüler und Studenten im Alter wzischen 18 und 28 Jahren, eine 28 Jahre alte verheiratete Studentin, ein Lehrling und ein Arbeiter Strafzettel. Die ausgesprochenen Strafen schwankten zwischen zwei und fünf Wochen Gefängnis. Diese Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Ein interessantes Deteil: Der Arbeiter muss 300 DM, der Lehrling 150 DM Geldstrafe bezahlen, nahezu jeweils ein Monatslohn. Hinzu kommt, dass von Anfang an die Polizeidirektion, bzw. das Bürgermeisteramt diejenigen Studenten unter den Demonstranten, die sie als Rädelsführer ("haben sich besonders hervorgetan") erkannt haben wollte, sorgfältig mit Alter und  Wohnort an das Rektorat der Universität weitergeleitet hatten: " Diese Unterlagen sollen dem Rektor, den Dekanen sowie den Akademischen Disziplinarbeamten zwecks weiterer Veranlassung zur Verfügung gestellt werden". (Dok 9047) Auch über die Schüler wurden Listen geführt, die neben den persönlichen Daten auch Angaben zur Schule und Klasse enthielten. In diese "Rädelsführerverzeichnisse" gelangte, wer festgenommen wurde. Unter den insgesamt 14 namentlich aufgeführten Studenten (keine Studentin dabei!) befindet sich u. a. der heutige Stadtrat Michael Moos und der Reinhold-Schneider-Preisträger Klaus Theweleit. Der Zweck dieser Namensweitergabe an das Rektorat war offensichtlich.

Verhaftung des Schülers Peter Harosky, als "Schüler-Rädelsführer"Abb. 7:  Verhaftung des Schülers Peter Harosky, als "Schüler-Rädelsführer"

Die Studenten sollten zusätzlich zu strafrechtlichen Verfahren auch disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden, was zum damaligen Zeitpunkt bedeuten konnte, von der Universität relegiert, d. h. vom Studium ausgeschlossen zu werden. Auch gegenüber den "aufgebrachten Bürgern" wurden die Rädelsführer in Stellung gebracht. So schreibt ein Freiburger Geschäftsmann am 16. Februar an OB Keidel: "Ich bat Sie...während der Tumulte, mir die Adressen der Ruhestörer, soweit solche ihnen bekannt sind, mitzuteilen. Diese meine Bitte leiteten Sie an Herrn Bürgermeister Kiefer weiter und habe ich mich dann mit ihm unterhalten. Nun rief mich Herr Bürgermeister Kiefer gestern abend an, um mir freundlicherweise mitzuteilen, dass die  Stadt bereit wäre, mir diese Namen zu nennen". (Dok.9054) Ob es auch zu solchen Anzeigen der Freiburger Geschäftswelt gekommen ist, wissen wir nicht.

Mit der Ruhe in der Bobbele-Hauptstadt ist es vorbei

Der Februar 1968 markierte den Beginn eines unruhigen Jahrzehnts in Freiburg. Was sich die Stadtoberen mit der gewaltsamen Räumung der friedlichen Proteste erhofft hatten, trat nicht ein. Im Gegenteil:Auch wenn für den Sommer 1968 keine offiziellen Mitgliederzahlen mehr vorliegen, zeigen einzelne Beispiele, daß der SDS in Freiburg Zulauf bekam, d.h. mehr Mitglieder und Sympathisanten hinter sich versammeln konnte. Vielen Studierenden erschien der aktive Verband nun konsequenter als andere Gruppen. So zum Beispiel dem Studenten Peter Adler. Er, der lange nichts vom SDS hatte wissen wollen, war nun dabei: "Auf einmal war ich wütend: diese unerträgliche Arroganz. Nicht einmal diskutieren wollten sie mit uns. Ganze vier dieser Volksvertreter zeigten sich am Bertoldsbrunnen. Und mit jedem Strahl der Wasserwerfer sah ich klarer: Die nehmen uns nicht ernst. Für die sind wir Kinder, die eine Tracht Prügel verdient haben. Die SDS-ler hatten wohl doch recht: Mit diesem autoritären Staat war nichts zu verändern." (Schlußkommentar aus seinem Film "Um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen) Außerdem hatten die gemeinsamen Aktionen die Kontakte zu anderen Gruppen in Freiburg, vor allem zu politisch engagierten Schülern und Lehrlingen gestärkt. Die Gründung des Freiburger Republikanischen Clubs (RC) Ende März 1968 war ein sichtbares Zeichen dafür. Man organisierte jetzt wie in anderen Universitätsstädten eine große Unterschriftensammlung gegen die Notstandsgesetze und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Die Schüler traten in einen eintägigen Streik, auf den die Lehrer kopflos reagierten und das Goethe – und Rotteckgymnasium abschlossen, damit die Schüler und Schülerinnen nicht an der Demo teilnehmen konnten. Flugblätter waren ein wichtiger Bestandteil der SDS-Propaganda. Sie wurden im ASTA gedruckt, Siegfried de Witt der spätere Anwalt der Bürgerinitiativen Wyhl und B31 Ost war Asta-Vorsitzender. Die „Freiburger Studentenzeitung“ (FSZ) wurde weitgehend von SDS Autoren übernommen. Der Verkauf von linken Broschüren und Büchern lief über den SDS-Büchertisch in der Mensa, bis Ende 1968 der libre libro, ein eigener Buchladen des SDS, in der Herrenstraße 53 eingerichtet werden konnte. "Gezielte Regelverletzungen" gehörten ab Februar 1968 zur Strategie der Gruppe. In der Grundordnungsversammlung, die die neue Verfassung der Universität beriet, setzte man sich essend auf die Plätze der Professoren, die daraufhin panikartig den Saal verließen. Zweimal wurde die Versammlung gesprengt, da die Gruppe richtigerweise erkannte, dass die Professoren nur auf Zeit spielten, um ihre Macht zu erhalten. Im Januar 1969 wurde das Rektorat besetzt, man rauchte die vorhandenen Zigarren und gründete dort Basisgruppen für die einzelnen Fakultäten und begutachtete das Goldene Buch der Universität, vor allem die Einträge aus der NS Zeit. Ostern 1968 beteiligte sich der Freiburger SDS an der Blockade der Springerdruckerei in Esslingen bei Stuttgart. Es gab einen Tag keine Bild-Zeitung. Der Freiburger SDS bildete danach verschiedene Projektgruppen. Die Betriebsprojektgruppe organisierte Seminare für Lehrlinge und Arbeiter, oft gemeinsam mit Gewerkschaften, und verteilten Flugblätter vor den Freiburger Betrieben. Eine zentrale Rolle spielte die „Projektgruppe Internationalismus“, aus der das Chile-Komitee hervorging, dem auch der Arzt Tonio Pflaum angehörte, der später in Nicaragua ermordet wurde (siehe Wiwili-Artikel auf dieser homepage). Anfang 1970 löste sich der SDS in Freiburg auf, der Bundes SDS folgte kurz darauf. Die Auseinandersetzungen verlagerte sich auf andere Gruppen. Übrigens: Auch literarisch sind die Straßenbahn-Demonstrationen inzwischen verarbeitet worden: In Wolfgang Schorlau´s Buch: Rebellen von 2013. Nachzulesen ab Seite 147ff. Im April 2017 erschien ein Artikel mit weiteren Dokumenten zu den Strassenbahndemonstrationen seitens des Landesarchivs BW von Götz Distelrath siehe unter  https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/62441/Archivnachrichten_55_Quellenbeilage%2054_mitt_300.pdf