StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerDie Bedeutung von Anerkennung im kultursensiblen Ethikunterricht

Die Kunst der Fuge

Narration, Mehrklang und Übersetzung im "kultursensiblen" Ethikunterricht

Hiltrud Hainmüller

"Alles wirkliche Leben ist Begegnung" (Martin Buber)

Innerhalb der letzten drei Jahre habe ich gemeinsam mit meinem Mann in zwei VABO-Klassen unterrichtet. Wir haben junge Erwachsene aus verschiedenen Ländern, vorwiegend aus Kriegsgebieten dabei begleitet, die deutsche Sprache zu erlernen und in Freiburg und Umgebung Fuß zu fassen. Ich wurde gefragt, ob ich vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen einen Beitrag an der Akademie Esslingen im Rahmen einer Ethiklehrerfortbildung zum Thema dieser Tagung halten könnte. Mein angekündigtes Thema habe ich um den Begriff „kultursensibel“ ergänzt.

Abb. 1: Die VABO Klasse  2016- 2019 



Sie sehen auf dem nächsten Bild eine junge Frau, die eine Zeichnung präsentiert, auf der ein Pfau dargestellt wird. Die Zeichnung entstand im Rahmen eines Kunstprojekts, bei dem es um die Gestaltung eigener Gefühle, Erlebnisse, Vorstellungen,– und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem diese Gefühle noch nicht in Worte zu fassen waren. Für mich war der Pfau bisher ein prächtiger Paradiesvogel, als Kind wünschte ich mir immer, dass mein treffsicherer Onkel mir eine Pfauenfeder von der Schießbude auf dem Jahrmarkt besorgte. Ich dachte mir, die Schülerin würde wie ich als Kind diesen Vogel einfach besonders schön finden und lobte ihren Sinn für Ästhetik. Ich erfahre aber von ihr – damals noch in gebrochenem Deutsch – dass es beim Pfau um den Engel Taus- i-Melek geht, der nach der Religion der Jesiden in Gestalt eines Pfaus auf Erde wandelt. Er hat die Bedeutung eines Schutzengels der Jesiden. Baden-Württemberg hat als eines der wenigen Bundesländer 2015 ein Schutzprogramm eingeführt, durch das 1.100 jesidische Frauen und Kinder aus einem der 28 Flüchtlingslager rund um Dohuk/Nordirak ausgeflogen werden konnten und auf verschiedene Städte des Landes verteilt wurden. Diese Frauen waren von  dem international bekannten Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan ausgewählt worden. Einige der Freiburg zugeteilten Flüchtlinge kamen in unsere VABO-Klassen. Es erfolgte eine intensive Auseinandersetzung unsererseits mit der Ge-schichte der Jesiden und ihrer Religion: eine Religion, die nur mündlich überliefert wird, die nicht den Dualismus von Gut und Böse kennt, in der es keine Hölle und keinen Missionierungsgedanken gibt - eine Geschichte von inzwischen über 70 Genoziden, die an dem kleinen Volk verübt worden sind.

Abb. 2:  Taus - i - Melek, der Pfau der jesidischen Religion

Jan Ilhan Kizilhan, selbst gebürtiger Jeside, und Kenner der jesidischen Religion und Kultur erzählt die Geschichte des Taus – i – Melek so:

 „Unserer Überlieferung nach hatte Gott einst Adam eine Seele eigehaucht und dann alle sieben Erzengel aufgefordert, vor seiner Schöpfung, dem Menschen, niederzuknien. Nur der Pfau-Engel Taus-i-Melek hatte sich geweigert, den Befehl auszuführen. Daraufhin hatte Gott ihn zur Strafe 30 000 Jahre lang verbannt, bis der sühnende Engel mit seinen Tränen für die Jesiden die Feuerhölle auf immer ausgelöscht hatte. Ein wunderbarer Gedanke, dass sich ein Engel, als Mittler zwischen den Welten, so voller Liebe für sein Volk einsetzte, ihnen im Voraus alles verzieh und sie direkt in den Himmel einließ. Gott hatte Taus- i- Melek vergeben und ihn, für die ihm gelobte Treue, zu guter Letzt zum obersten Engel ernannt. Kaum zu glauben, aber bis heute bestimmt diese märchenhafte Paradiesgeschichte von Adam und Eva und ihre unterschiedlichen Auslegungen in den Schriften von Christen, Juden und Muslimen unser Leben genauso wie unseren Tod.“(Jan Ilhan Kizilhan) 

Zu dieser Geschichte von Tausi-i- Melek gibt es aber auch eine weniger friedvolle Gegengeschichte. Taus-i-Melek wird von einigen Vertretern islamischen Glaubens als ein gefallener Engel angesehen, der Gott den Gehorsam verweigert hat. Deshalb ist er die Inkarnation des Bösen, der "Teufel". Verheerend und mörderisch wurde die Legende von den Jesiden als „Teufelsanbetern“ als ideologisches Instrument in den Händen der IS-Terrormiliz. Sie beziehen aus dieser Annahme die Lizenz zum Töten des jesidischen Volkes – weil sie vermeintlich Ungläubige sind. Wollten Jesiden in den eroberten Gebieten um Shingal im Nordirak nicht zum Islam zu konvertieren, nahmen sich IS-Männer das Recht heraus, Mädchen und Frauen als Sexsklavinnen zu missbrauchen, zu verkaufen, die Männer zu foltern und zu töten.

Abb. 3: Ein Bild als Erinnerung an die IS-Gefangenschaft

Dieses Bild wurde von zwei jungen Frauen gemalt, die in die Gefangenschaft des IS nach dem Genozid an ihrem Volk im August 2014 geraten waren: Gefangene reichen eine Botschaft an die Außenwelt aus dem Gefängnisgitter: „ an alle Jesiden und Familien: helft uns!“ so lautet die Inschrift auf der Mauer. Die beiden jungen Frauen, die dieses Bild gemeinsam gemalt haben, erzählen uns ohne viel Worte einen Teil ihrer Geschichte – eine Geschichte, die zutiefst verstört. Das war ein sehr mutiger Schritt innerhalb des Klassenverbandes. Es gibt inzwischen eine Reihe solcher mutiger junger jesidischer Frauen, die öffentlich über ihre Erfahrungen in der Gefangenschaft berichten. Ich bin immer noch fassungslos, wenn ich mir versuche vorzustellen, dass die jungen Frauen, mit denen ich fast täglich seit zwei Jahren zusammen war, solche Grausamkeiten erlebt haben und ich bewundere diejenigen, die aus dem Schatten heraustreten und das Unrecht öffentlich anprangern wie Nadja Murad, die jesidische Friedensnobelpreis-trägerin von 2018. Welche Wunden dieser schreckliche Genozid im Shingal-Gebirge hinterlassen hat, entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen: Der Philosoph Emanuel Levinas weist zurecht darauf hin, dass wir nie der Andere sein werden und deshalb unserem Verstehen Grenzen gesetzt sind. Er fordert eine radikale Ethik der „Verantwortung“, in der wir angesichts des Leids zurücktreten und dem Anderen den Vortritt gewähren. Dazu gehört auch, dass wir ihm – auch im Ethikunterricht - eine Stimme geben - ein Zeichen, ein Stück weit Gerechtigkeit herstellen – dass uns das nicht gleichgültig lässt, dass wir uns mit der Geschichte hinter den Geschichten befassen und uns um Verständnis bemühen müssen. Auf dem Bild sind ja auch zwei Tauben zu sehen – Zeichen der Freiheit, des Friedens – ein Symbol der Hoffnung.

Abb. 4: Der Süduferchor Freiburg - eine erste Heimat für Geflüchtete.

Ca. 70 Menschen singen im Freiburger Süduferchor –neu angekommene Flüchtlinge, Migranten, Einheimische – alles bunt durcheinander. Unsere letzte öffentliche Aufführung war das Stück “Tranzit”. Es handelte von jenen “Tran-sitzonen” in denen sich unterschiedliche Welten begegnen müssen, nicht erst seit heute – beispielgebend hierfür mag die Schrift Hanna Arendts “Wir Flüchtlinge” von 1943 gelten. Im Refrain eines Liedes aus dem Stück Tranzit wird der Spagat, in welchem wir uns als Gesellschaft aber auch im kleinen Kosmos des Südufer-Chores befinden, auf den Punkt gebracht: „Betwixt and between the positions, assigned and arrayed by law, customs, conventions and ceremonials ……….“ (Victor Turner). 
Viele Menschen erleben schmerzhaft die Zerrissenheit, die entsteht, wenn Vertrautes ins Wanken gerät, das Gewohnte nicht mehr gilt, sie in einer Welt leben müssen, deren Regeln sie nicht verstehen, wenn das, was ihre Eltern sie gelehrt haben, auf einmal in Zweifel gezogen wird. Unsere Schüler kommen hauptsächlich aus Ländern, deren Gesellschaften der Kulturanthropologe Hofstede im Unterschied zu unserer als „kollektivistische“ bezeichnet. Seine Erkenntnisse sind schon fast 50 Jahre alt, aber keineswegs veraltet.

Abb. 5:  Hofstede unterscheidet zwischen individualistischen und kollektivistischen Lebensformen: Ausdruck verschiedener Kulturen.

Jeder, der in VABO-Klassen unterrichtet hat, weiß, welche enorme Rolle die Familie spielt. Ohne den Segen der Familie kann keine Berufswahl getroffen werden, der Besuch eines Onkels ist wichtiger als der Schulbesuch. Oder sie wissen, was „haram“ bedeutet – das ist Schande, Dinge, die einfach verboten sind, wie z. B. das Trinken von Alkohol, oder das Tragen freizügiger Kleidung usw. – Diese Dinge sind mehr als eine Verfehlung, sie bedeuten Verlust der Ehre, der eigenen und der Gruppe. Schüler sind teilweise total verwundert, wenn sie von uns, für die Selbstbestimmung und Autonomie ein hoher Wert ist, nach ihrer Meinung gefragt werden, weil ihnen das völlig neu ist, selbständig Stellung beziehen zu können oder müssen. Umso besser, dass wir sie immer wieder danach gefragt haben und dass z. B. Berivan nach 2 Jahren Deutschunterricht die Unterschiede zwischen Deutschland und dem Irak aus ihrer Perspektive formulieren kann - ein Dokument, mit dem in jeder Ethikklasse genug Stoff für eine lebendige Diskussion gegeben wäre. 


B1 - Prüfung Thema: „Unterschiede zwischen Irak und Deutschland“ Berivan berichtet: 

Abb. 6: Nordirak..

Die Familie
Also im Irak wohnen die Familien alle zusammen, auch wenn die Familie groß ist, sie wohnen zusammen, sie lernen zusammen und sie feiern zusammen – immer. Hier in Deutschland jeder wohnt allein. Also zum Beispiel wenn die Leute 18 Jahre alt sind, dann wohnen sie alleine oder gehen in eine andere Stadt. Das ist bei uns nicht so. Wir wohnen immer zusammen. Und wenn wir ein Fest haben, dann kommen immer alle Verwandte, dann bleiben sie bei uns eine Woche und mehr. Aber hier in Deutschland habe ich sowas noch nicht gesehen. Also wenn eine Familie eine Tochter besuchen will, dann bleibt sie nie länger als einen Tag oder zwei. Bei uns kann man eine Woche oder mehr als eine Woche bleiben und das ist klar (selbstverständlich) und das finden wir schön. Wir verlassen unsere Familie nicht, nur wenn wir heiraten, verlassen wir sie. Und trotzdem sind wir traurig, dass wir unsere Familie verlassen. Hier in Deutschland wohnt jeder alleine. Das ist klar. Das ist ein ganz großer Unterschied zwischen Irak und Deutschland.
Besuche
Also hier in Deutschland, wenn ich jemand besuchen will, dann muss ich telefonieren und einen Termin machen und fragen: Wann hast du Zeit? Um wieviel Uhr soll ich kommen? Im Irak ist das anders. Also z.B. wen ich zu meiner Tante gehe, muss ich keinen Termin machen und nicht telefonieren, ich kann einfach dorthin gehen, wenn ich Zeit habe, und ich kann bei ihr bleiben, auch zum Essen. Hier in Deutschland ist es komisch, wenn man ohne Termin zu jemandem geht. Aber bei uns ist das kein Problem. So sind unsere Regeln.
Verkehr
Also in Deutschland sind Autofahrer mehr diszipliniert als im Irak. In Deutschland wird die Hupe sehr wenig gebraucht, aber im Irak sehr oft. Die Hupe wird sehr oft gebraucht und es ist sehr laut. Wenn ich z. B. von einer Straßenseite zur anderen will, kann ich meine Hand heben. Dann halten die Autos und ich kann wechseln. Das gibt es in Deutschland nicht. Aber in Deutschland muss man die Ampel beachten – das finde ich gut. Also im Irak gibt es kaum Ampeln. In Deutschland ist eindeutig, welche Richtung rechts und links verläuft. Die Vorfahrt ist klar geregelt. Das ist im Irak nicht so und deshalb gab es viele Unfälle. In Deutschland ist das nicht so und das finde ich gut in Deutschland.
Beten
Wenn ich etwas tun will, bete ich immer erst zu Gott. Wenn ich z.B. in eine andere Stadt fahren will, dann sage ich vorher immer: “Wenn Gott will". Ich sage nicht:“ Ich gehe“ – oder „ich bin sicher, dass ich gehe“ – nein, das sage ich nicht, ich sage „wenn Gott will“. Und z.B. bevor wir essen, sagen wir immer „wie Gott will“ und wenn wir satt sind, dann machen wir immer ein Zeichen über dem Teller, das bedeutet: „Gott sei Dank.“. So etwas hab ich in Deutschland nicht gesehen. Das ist ein großer Unterschied zwischen uns und den Leuten in Deutschland. Regeln Und als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich so viele neue Regeln gesehen und ich war so überrascht, wie die Regeln sind. Also die Regeln in Deutschland und im Irak sind ganz „was anderes“ (sind verschieden und haben eine andere Bedeutung). Das ist ein sehr großer Unterschied." (Berivan R. aus Shingal) 

„Janusköpfigkeit der Freiheit?"


Man kann die Erkenntnisse Hofstedes so lesen, indem man Menschen und die Gesellschaften, aus denen sie kommen, in Schulbladen steckt – das wäre eine Vereindeutigung – man wäre dann beim „Wir“ – und „den „Anderen“ – wobei „Wir“ nach populistischem Verständnis „die Guten“ sind – und die „Anderen“ die zu Bekehrenden. Man kann die Erkenntnisse aber auch ganz anders lesen: Jede Gesellschaft zeigt danach ein Doppelgesicht – das ist wie mit der „Janusköpfigkeit der Freiheit“ – wie sie Weischedel beispielsweise in der „skeptischen Ethik“ beschreibt. Der Individualismus hat im Extrem zu unangenehmen Erscheinungen wie Egoismus, Verlust von Solidarität, fragwürdigem Zwang zu Selbstoptimierung und entsprechen-den psychischen Erkrankungen wie burnout und Depressionen geführt. – Im Gegenzug kann in kollektivistisch geprägten Gesellschaften die Freiheit des Einzelnen enorm eingeschränkt werden, Familie ist oft alles andere als ein Ort der Geborgenheit, einengende Werte und Normen können zum Zwangskorsett werden. In der Begegnung unterschiedlicher Welten beginnen beide Seiten, die je eigenen Vorstellungen kritisch zu überdenken, Vor- und Nachteile abzuwägen. Alle Beteiligten müssen sich neu positionieren und fragen: "Was wollen wir wirklich verteidigen? Was ist wirklich wertvoll? Welches Gesicht soll die Gesellschaft, in der wir leben, tragen?" Es hat bis zu einem gewissen Grad ein Perspektivwechsel bei mir stattgefunden – ich begann unsere Welt (Schule, Behörden, Vereine, etc…) mit den Augen Geflüchteter zu betrachten - und gewann eine Vorstellung von Kultursensibilität. Das Handwerk der Freiheit zu erlernen habe ich persönlich immer als eine wichtige Aufgabe des Ethikunterrichts begriffen. Vor dem Hintergrund der Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen sehe ich die Notwendigkeit, die Instrumente beim Erlernen dieses Handwerks zu verfeinern, d. h. den Horizont mit einem „kultursensiblen“ Blick zu erweitern. 

Drei Hinweise zur Gestaltung eines kultursensiblen Ethikunterrichts

 1. Die Bedeutung von Narrationen

2. Die Bedeutung von Mehrklang, Vielfalt und Mehrdeutigkeit

3. Die Bedeutung der Übersetzung

Abb. 7:  "Eine Welt, in der ich leben möchte" -  Herstellen einer Lebenslandschaft" im Unterricht

1. Die Bedeutung von Narrationen
Jan Ilhan Kizilhan verweist darauf, dass in orientalischen Ländern das Erzählen von Geschichten zur Heilung von Traumata herangezogen wird. Die eigene Geschichte wird erzählt vor dem Hintergrund und unter Einbeziehung traditioneller Geschichten, die es ermöglichen, transgenerationelle Traumata erfahrbar und spürbar zu machen, Dämonen der Gegenwart und Vergangenheit zu begegnen und die eigenen Erzählungen so zu gestalten, dass in ihnen auch die Möglichkeit der Befreiung von Ängsten sichtbar wird. Geschichten lassen sich ganz grob einteilen in: Individuelle Erzählungen (Narrative) – darunter würden hier z. B. die Bilder und das Hörbeispiel fallen - und kollektive Erzählungen – das wäre z. B. die Erzählung vom Taus – i – Melek, die Paradiesgeschichten in ihren unterschiedlichen Erzähl- und Deutungsweisen. Nach Albrecht Koschorke ist das Erzählen eine demokratische Kunst, eine die Welt verändernde Kraft. Die Demokratie kennt im Unterschied zu Diktaturen keine „Erzählverbote“. Erzählungen sind nie ganz eindeutig, sie sind „interpretationsoffen“ und sie beinhalten individuelle und kollektive Wahrheiten gespeist durch Erfahrungen. Für Carolin Emcke können Erzählungen dazu beitragen, „Gerechtigkeit herzustellen“. Indem eine Atmosphäre geschaffen wird, in der Erzählungen erwünscht sind und ermöglicht werden, kann Unsichtbares sichtbar gemacht und Unerhörtes hörbar gemacht werden. Es wäre schön, wenn dafür im Ethikunterricht Raum geschaffen würde. „Eine Welt, in der ich leben möchte“ ist ein Thema aus unserem Kunstprojekt – ich halte es auch für den Ethikunterricht geeignet. Ein Dossier dazu können Sie selbst zusammenstellen oder auch Schüler bei der Zusammenstellung mitwirken lassen – den Essay dazu verfassen die Schüler. Er wird – wenn es die Schüler wünschen, Gegenstand eines Gesprächs, Bewertungen werden nicht vorgenommen.

2. Die Bedeutung von Mehrklang, Vielfalt und Mehrdeutigkeit


Die Dreisam ist ein Lieblingsort von Nesrin und ihrer Schwester Narges aus Afghanistan – sie lieben Wasser und Regen, – die Kontemplation, das Fließen des Wassers. Ein japanisches Haiku sagt: „Ein Regentag – Der zerbrochenen Kürbisflasche Erzähl ich von alten Zeiten“. Heilendes Wasser gibt es auch aus der heiligen Quelle in Lalish - Ort des höchsten Heiligtums der Jesiden im Nordirak. Unsere Schülerinnen können damit ihren Schmerz lindern.Bedrohliches Wasser gibt es im Mittelmeer, wie das Gebet eines Vaters für seinen Sohn ausdrückt: „Ich bete, dass Gott unser Boot sicher leitet, Wenn wir das Ufer aus den Augen verlieren, wenn wir nur noch ein Punkt auf den Wogen sind, jederzeit umschlagen und kentern und in der Tiefe verschwinden könnten. Denn Du Marwan, du bist eine kostbare Fracht, die kostbarste, die es jemals gab. Das soll das Meer wissen, dafür bete ich. Inshallah.“
Für mich gehören zum Begriff Wasser auch Hasans Fluchtgeschichte – seine Angst vor dem Wasser, weil er nicht schwimmen konnte oder die Freude von Berivan und Tinsam, als sie nach viel Überwindung von Furcht und Scham im Freiburger Haslachbad Schwimmen gelernt hatten.Ich habe jetzt über drei Jahre hinweg erlebt, wie unterschiedlich Menschen die Welt codieren – mit Blicken, Gesten, Verhaltensweisen, Erzählungen. Ich musste feststellen, wie wenig ich über die Welt weiß und vor allem, wie einseitig „westlich“ orientiert meine Vorstellungen sind. Vielfalt bedeutet „Ambiguität“ – nichts ist eindeutig richtig oder falsch – nichts absolut - und diese Ambiguität wird als bereichernd und verstörend zugleich empfunden. Der Islamwissenschaftler Bauer zeigt an mannigfaltigen Beispielen aus der Religionswissenschaft, Politik, Kunst, Natur und Alltagsrecht/Ethik die derzeitige Tendenz, Bedeutungsvielfalt durch Schubladendenken, gleichmacherischen Rassismus, Fundamentalismus durch sogenannte „Vereindeutigung“ zu verdrängen. Im Gegenzug dazu entwickelt er die Vorzüge einer sogenannten „ambiguitätstoleranten Haltung“ als notwendige Bedingung zum Erhalt der Demokratie. Sie ist allerdings auf „Zähmung“ angewiesen. Er zeigt dies am Beispiel im Umgang mit dem Grundgesetz. „Der bewusst vage gehaltene erste Satz des ersten Artikels des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar`" - ein Satz, über den Bibliotheken geschrieben worden sind, konnte gerade wegen seiner Ungenauigkeit zur ersten Säule des Grundgesetzes werden. Dadurch wird er deutungsoffen und ist nicht abhängig von bestimmten Vorstellungen von Würde, die zu einer be-stimmten Zeit gelten.“Was unter Würde verstanden wird, muss in einer Demokratie immer wieder neu verhandelt und ausbalanciert werden und zwar gerade dann, wenn sie hart auf die Probe gestellt wird. Das gilt besonders für extreme Herausforderungen.

Abb. 8:  Der Gedenkort für Maria L. am Dreisamufer.

Hier in Freiburg am Dreisamufer ereignete sich 2016 ein schreckliches Verbrechen, das bundesweit Aufsehen erregt hat: Der Mord an Maria L. Sie wurde am 16. Oktober 2016 in Freiburg am Dreisamufer vergewaltigt und anschließend ermordet. Der Täter, Hussein Khavari, war Ende 2015 als Flüchtling aus dem EU-Land Griechenland nach Deutschland gekommen. Allen populistischen Hetztiraden zum Trotz fand in Freiburg Bemerkenswertes statt: Es gab eine umsichtige Presse, vernünftige Richter und Anwälte, die gezeigt haben, dass jeder Mensch ein Anrecht auf Wahrung der Würde besitzt, auch wenn er es selbst verwirkt hat. Es gab Eltern vom Maria L., die keinen Rachefeldzug geführt, sondern eine Stiftung zur Förderung junger Menschen gegründet haben, die den Namen ihrer Tochter trägt. Die Freiburger Bevölkerung hat sich in ihrer Mehrheit solidarisch verhalten, Mitgefühl und Trauer gezeigt. Das ist es, was ich unter „Zähmung“ verstehe. Die Fähigkeit, innerhalb der Freiheitsspielräume in einer Demokratie ein selbstbestimmtes Leben nach eigener Wahl, der eigenen Stimme folgend, zu führen, ist eine Aufgabe, die Jugendliche mit und ohne sogenannten Migrati-onshintergrund bewältigen müssen. Vielfalt macht oft Angst, Eindeutigkeit scheint der einfachere Weg zu sein – er führt aber in die Sackgasse. Bauer nennt dieses Verhalten "Ambiguitätsintoleranz", dessen Wesenszüge „Wahrheitsbesessenheit, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben“ sind (Bauer, S.29) Wer nicht in der Sackgasse enden möchte, der könnte „Ambiguitätstoleranz“ – und die Fähigkeit zu „Ambiguitätszähmung“ gut gebrauchen, um eine Mitte zu finden ähnlich wie Aristoteles mit seiner Mesoteslehre.

3. Die Bedeutung der Übersetzung

Abb. 9:  Den Platz,wo früher Wohnungslose lebten, hat die Stadt kurzerhand einbetoniert.

Auch das finden wir am  Dreisamufer: Steine werden einbetoniert, um Obdachlose von ihrem Schlafplatz zu vertreiben. Jemandem „Steine in den Weg legen“ bedeutet, es ihm besonders schwer zu machen auf einem Weg. Für geflüchtete Menschen ist die deutsche Sprache ein gewaltiges Hindernis – ohne B1 oder B2 geht gar nichts! Der Philosoph Ricoeur zeigt, dass Übersetzung immer etwas mit Gewalt zu tun hat. “Traduire, c´est trahir“. Ricoeur ist der Meinung, dass bei Übersetzungsvorgängen eine Haltung der „Linguistik hospitality“ eingenommen werden sollte. Dialoge sollten umsichtig und zugewandt geführt werden. Im Prozess des Übersetzens geht immer etwas verloren – aber im umsichtigen Dialog wird auch etwas gewonnen – ein neuer Zugang zum Andern und sich Selbst wird eröffnet. Wir sagen dann z. B. Worte wie „ich habe das nicht so gemeint…. Oder wir fragen: Wie heisst das in Deiner Sprache? – was würdest du dazu sagen? Wie würdest du es ausdrücken? – Trifft es das oder ist noch was anderes gemeint?“ Wir würden auch lernen, Subtexte lesen zu können  Das wäre in etwa „linguistik hospitality“. Demokratische Willensbildung ist darauf angewiesen. In vielen Klassenzimmern findet man Regeln aufgehängt an den Wänden: „Wir hören einander zu.“ „Wir achten einander“…Damit ist noch nicht viel gewonnen, wenn wir nicht gute Übersetzungsarbeit leisten in der konkreten Anwendung von Werten, Regeln und Normen – Die krasse Asymmetrie zwischen denen, die in unserer Gesellschaft die politische Macht ausüben und denen, die Adressaten dieser Politik sind, beruht auf verschiedenen Formen der Exklusion, von denen der Mechanismus der sprachlichen Exklusion verheerende Auswirkungen zeitigt. Die Sprache der Politiker, Finanzexperten, Soziologen, Mediziner, Bürokraten wird von der Bevölkerung häufig nicht verstanden. Carolin Emcke wirft die Frage auf, was diesen Formen der Exklusion entgegengesetzt werden kann und wie der demokratische Willensprozess, der aus den Fugen geraten scheint, wiederbelebt werden kann. Ihre Antwort lautet:

 „Durchs Übersetzen! Das mag Ihnen winzig vorkommen. Aber es scheint mir die subversivste Strategie gegen all die genannten Formen der Exklusion. Wir müssen Normen in Anwendungen übersetzen, wir müssen technizistische oder finanzpolitische Expertensprache übersetzen in Geschichten von Zusammenhängen und Wirkungen, die in ihren lebensweltlichen Folgen erkennbar werden, wir müssen den Fluch aus Identität und Differenz in Ähnlichkeiten übersetzen, wir müssen die Geschichten und Bilder, mit denen wir jeweils individuell und kollektiv aufgewachsen sind, übersetzen in Geschichten und Bilder, die für alle verständlich sind.“ (Carölin Ehmke, S. 174 ff)

Dazu gehören die Geschichten von Berivan, Nesrin und Hasan , vom Pfau Taus – I-Melek ebenso wie die Geschichten, die wir uns über das Dreisamufer erzählen. In meinem Dossier zum Thema „Die Welt, in der ich leben möchte“, stünde auch die Türhüterlegende aus Kafkas Prozess und Kant mit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ in der er über das Weltbürgerrecht sagt: „und da bedeutet Hospitalität das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.“ – und dieses Besuchsrecht existiert „wegen des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie (die Menschen) sich nicht ins Unendliche zerstreuen können. Niemand hat an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht als der andere."

Was es mit der Kunst der Fuge auf sich hat

Eine Antwort bin ich noch schuldig: was es mit der Kunst der Fuge auf sich hat. „Die Kunst der Fuge“ ist eine Komposition von Johann Sebastian Bach, die unvollendet geblieben ist. Es gibt nur einen offenen, musikalischen Text, er ist kontrapunktisch polyphon komponiert mit offenem Ausgang. Es gibt keinerlei Hinweise, welche Instrumente dieses Werk spielen sollen. Es gibt keinen richtigen Klang, keine perfekte Interpretation. Carolin Emcke verwendet dieses Bild, um ihren ureigenen Begriff von "Heimat" zu verdeutlichen: „So wünsche ich mir Deutschland, wie diese „Kunst der Fuge“, es gibt eine Vorlage, eine Partitur, die besteht aus Bildern und Geschichten, aus Phantasien und Büchern, aus Musik und einer Verfassung. Aber sie ist nicht zuende geschrieben. Wir können sie ausführen und weiterschreiben, aber es gibt keine Vorgaben, wer mitspielt und wie es klingen wird, dieses musikalisch offene Werk“. (S.166) Was sich Caroline Ehmke hier für Deutschland wünscht, wünsche ich mir für den Ethikunterricht. Dass Sie und wir alle uns um die Kunst der Fuge bemühen, in einer Welt, die aus den Fugen geraten zu sein scheint.

Literaturliste:

Carolin Emcke; Weil es sagbar ist –über Zeugenschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt 2016 
Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt –über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018 
Jan Ilhan Kizilhan, Nachtfahrt der Seele – Von einem, der auszog, das Licht zu suchen, Berlin 2018 
Geert Hofstede zitiert in: Ann-Kathrin Eckardt, Die ehrliche Bilanz meiner Flüchtlingshilfe, München 2017 
Khaled Hosseini, Am Abend vor dem Meer, Frankfurt 2018 
Ute Guzzoni, Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze, Freiburg 2014 


Weitere Titel über Jesiden, Geschichte, Religion, Verfolgung durch den IS:

Jan Ilhan Kizilhan, Das Lied der endlosen Trockenheit ,München 2016 (Roman)
Farida Khalaf, Das Mädchen, das den IS besiegte, Köln 2016
Shirin mit Alexandra Cavelius und Jan Ilhan Kizilhan, Ich bleibe Tochter des Lichts, Köln 2016
Nadia Murad, Ich bin eure Stimme, Köln 2017 (Friedensnobelpreisträgerin 2018) 
Jan Ilhan Kizilhan, Die Psychologie des IS: Die Logik der Massenmörder, Berlin 2016

Philosophischer/psychoanalytischer Hintergrund:

Peter Bieri, Wie wollen wir leben?, München 2013
Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2001
Wilhelm Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt 1976
Donna M. Orange, Nourishing the inner Life of Clinicians and Humanitarians: The Ethical Turn in Psychoanalysis, New York 2016 – (Reflexionen über Emmanuel Levinas, Paul Ricoeur, Jacques Derrida, Dietrich Bonhoeffer, Primo Levi und andere)