StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerDie Kunst der Feinabstimmung in Ethik und Moral

Die Kunst der Feinabstimmung in Ethik und Moral

Hiltrud Hainmüller

Alltäglich erleben wir uns selbst im offensichtlichen Widerspruch von Kompetenz und Performanz, moralische Fragen betreffend. Wir lügen, obschon wir wissen, dass es besser wäre, bei der Wahrheit zu bleiben. Wir registrieren mit Unbehagen, dass andere etwas haben, was wir nicht haben, und sind ihnen gegenüber deshalb nicht unbefangen. Oft genug wer­ den wir Zeuge von Schwächen anderer und fühlen uns ihnen gegenüber überlegen oder im Recht, wenn es Streit gibt. Natürlich können wir versuchen, uns zu bessern: Wir suchen stichhaltige, logisch einwandfreie Begründungen, brauchbare Prinzipien, die wir zum Maßstab unseres Handelns machen können. So stärken wir unsere moralische Urteilsfähigkeit und schaffen es vielleicht, uns von der relativ primitiven Kohlberg'schen Stufe 1 zur schwindelnden Höhe von Stufe 5 oder 6 emporzuarbeiten. Dann müssen wir bloß noch dafür sorgen, dass uns jemand folgt und wir in dieser schwindelnden Höhe nicht allein gelassen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass wir einsam sterben. Wie ist es zu schaffen, andere mit ins Boot zu nehmen und im Wildwasser des Lebens mit Freude zu paddeln, ohne unterzugehen?

In der Unterrichtspraxis werden vor allem in den Fächern Deutsch, Geschichte, Psychologie, Pädagogik und Kunst unter verschiedenen Überschriften Inhalte und Methoden gelehrt, die eng mit ethisch-­ moralischem Argumentieren zusammenhängen.

Zwischen den Zeilen lesen, Zwischentöne wahrnehmen...

Unter der Überschrift »Kommunikation« wird Schülern erklärt, dass es einen Unterschied zwischen Inhalts- und Beziehungsebene gibt, dass Menschen mit »vier Ohren« hören, und dass es unmöglich ist, »nicht zu kommunizieren«. Das bedeutet: Wenn Verständigung gelingen soll, muss ich darauf achten, was mir mein Gegenüber wirklich mitteilen möchte, denn Gesagtes und Gemeintes können auseinander fallen. Um die verschiedenen Seiten einer Botschaft zu erfassen, muss ich eine differenzierte Wahrnehmung entwickeln: Was sagen mir Blick und Körperhaltung? Auch das Schweigen des anderen ist ein Argument! In welcher Gemütsverfassung befindet sich mein Gegenüber? Was ist er in der Lage aufzunehmen? Was versteht er überhaupt von dem, was ich ihm antworten möchte? Ist er motiviert? Eine ethisch-moralische Argumentation, die diese Bedingungen von Kommunikation nicht mit einbezieht, wird Schiffbruch erleiden - da können die Prinzipien prima facie noch so logisch, vernünftig und integer sein. Alles spricht dafür, Körper, Emotionen und Motivationen eine Sprache zu verleihen, und zwar sowohl auf der Ebene der direkten Erfahrung (siehe Unterrichtsvorschläge zu szenischem Spiel, Körpererfahrung mit den sieben Todsünden) als auch auf der Metaebene, bei der Erschließung, Interpretation und Analyse von gesprochenen oder geschriebenen Texten und Bildern. Jeder Schüler sollte wissen, was ein Subtext ist. Gerade wenn es um Moral geht, sollte man, was das Lesen zwischen den Zeilen betrifft, kein Analphabet sein.

In diesem Heft gibt es einen Beitrag, der Schülern vermitteln möchte, mithilfe des Toulminschen Argumentationsschemas die Schlüssigkeit und Implikationen einer Argumentation aufzuzeigen. Als Beispiel wird der Klausurfall von Rainer Erlinger herangezogen.[1] Schüler gewinnen durch dieses Verfahren Erkenntnisse über zugrunde liegende Prinzipien und auch versteckte Implikationen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht sichtbar werden. Was jedoch verloren geht, sind die Zwischentöne, die sowohl in den Anfragen der Zeitungsleser als auch in den Antworten Erlingers eine große Rolle spielen. Moralisches Argumentieren läuft bei den Logikexerzitien Gefahr, blutleer zu wer­den, während Erlingers Antworten gerade durch die Kombination von Witz, Wissen, Einfühlung und Abwägen prinzipieller Erwägungen bestechen, zur Diskussion anregen und damit wirksam sind.

Prozessorientierung, je nach Bedürftigkeit

Unter den Überschriften Friedens- und Konfliktforschung, Mediation, Streitschlichtung oder Täter­ Opfer-Ausgleich werden Ergebnisse der Konfliktforschung in den Unterricht transportiert, die auf der Ebene der Theorie vor allem in die Formulierung so genannter »nonkognitiver« Ethiken Eingang gefunden haben. Danach entsteht Moral im Prozess und ist deshalb ohne dialogisches Prinzip undenkbar. Menschliche Beziehungen sind - verschiedene Bereiche wie etwa Erfahrung, Alter, Stellung innerhalb der Hierarchie, Krankheit-Gesundheit betreffend - asymmetrisch. Jeder moralisch handelnde Mensch muss ein Bewusstsein von dieser Asymmetrie entwickeln und entsprechend sorgsam mit dem Gefälle - oder der Differenz - umgehen. Er darf zum Beispiel seinen Vorsprung oder Vorteil nicht ausnutzen, auch wenn er vielleicht das bessere Argument im Kopf hat, sondern muss bereit sein, mit dem Gegenüber Beziehungsarbeit zu leisten. Dialoge sind eben nie herrschaftsfrei.

Es geht darin auch nicht nur um Richtig oder Falsch, sondern um Stimmigkeit, Resonanz, Lebbarkeit von Moral. Dabei versteht sich prozessorientierte Ethik komplementär zu prinzipienorientierter Ethik. Aber diese Komplimentarität sollte eben auch im Unterricht gelebt und gelehrt werden. Ebenso lehrt die Konfliktforschung, dass der Faktor Zeit berücksichtigt werden muss. »Sich Zeit nehmen«, »Zeit gewinnen« und »Zeit lassen« ist nicht nur bei Geiselnahmen oder in der Psychotherapie geboten. Überall, wo es darum geht, Einsicht zu gewinnen, Verstehen und Verständigung zu erzielen, positive Motivationen und Reife zu entwickeln, brauchen Menschen Zeit.

Schon Aristoteles weist in seiner Nikomachischen Ethik darauf hin, dass Tugenden der Einübung und Gewöhnung bedürfen, bis sie zur Selbstverständlichkeit werden. überall dort, wo es an dieser Einübung und Gewöhnung mangelt, entstehen Defizite, die nur schwer zu beheben sind. In tief greifenden Konflikten oder schwierigen Dilemma Situationen spielt der Faktor Zeit beim Versuch, konstruktive Lösungen zu finden, eine ebenso große Rolle wie das Erspüren von Stimmungen, Emotionen, Motiven und Erfahrungshorizonten. Beides - sowohl der sorgsame Umgang mit Asymmetrie als auch die Berücksichtigung des Faktors Zeit - lassen sich gut an dem im Heft bearbeiteten Fall von Fräulein Presber (»Die Sache mit Saturday«, S. 50) zeigen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die nachträgliche Introspektion des Fräuleins: Sie stellt fest, sie habe an zwei Krankheiten gelitten, von denen die eine ihr unbewusst geblieben, die andere bewusst gewesen sei. »Die eine Krankheit besteht darin, dass wir uns als das auserwählte Volk betrachten, alle farbig Geborenen jedoch als minderwertige Kreaturen verachten. Die andere Krankheit ist unsere heuchlerische Feigheit, die das seltene Mitleid mit den Negern auf hässliche Weise unterdrückt.«[2] Das ist schon eine sehr weit reichende Selbstreflexion. Sie bedarf jedoch einer Ergänzung. Das Fräulein erscheint nämlich als eine zutiefst liebesbedürftige Frau, die sich durch die »billigen« Geschenke des »Negers« nicht nur geschmeichelt, sondern anerkannt fühlte. Darin liegt für sie der Wert »wertloser« Gegenstände wie Haarspangen und dergleichen. Bei ihrer fatalen Entscheidung geht es also nicht nur um die Abwägung: Lügen - oder die Wahrheit sagen. Es ist wichtig, die Hintergründe des Davor und Danach zu reflektieren, wenn man aus solchen Fällen etwas lernen möchte. Wenn Mut statt Feigheit gefordert wird, darf nicht versäumt werden, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit hinter der Fassade zu erblicken, welche Schuld und Scham erzeugt.

Damit Moral nicht »zum Töten« verführt...

...müssen die Forschungsansätze der Kommunikationstheorie, der Konfliktforschung und der Kogni­ tionspsychologie in die Metadiskussion um ethisch­ moralisches Argumentieren integriert werden. Nur in der Komplementarität von Prinzipien- und Prozessorientierung sowie der Fürsorge- und Gerechtigkeitsethik kann Moral gestaltet werden, die unser Zusammenleben erträglicher macht. Detlef Horster ist der Frage nachgegangen, ob sich in der modernen Gesellschaft noch moralische Regeln mit universeller Geltung finden, die für alle verbindlich und gültig sind.[3] Dabei diskutiert er kognitive und nonkognitive Begründungsansätze der Ethik - und kommt, wie viele andere seines Faches, zu dem Ergebnis, dass man sich mit kognitiven Begründungsansätzen auf der sicheren Seite befindet. Objektive Prinzipien, die einem gewissen pragmatischen common sense entsprechen, ließen sich sehr wohl in allen Kulturen ausfindig machen. In Anlehnung an Ross ist er der Auffassung, dass man die Richtigkeit oder Falschheit einer moralischen Handlung nicht an einem einzigen moralischen Prinzip messen kann, sondern an »Prima­facie-Pflichten«, die in konkreten Situationen durchaus kollidieren können. Prioritäten müssen dann jeweils individuell bzw. im Diskurs gesetzt werden.

Prima-facie-Pflichten

  1. Wahrhaftigkeits- und Wiedergutmachungspflichten (fidelity, reparation),
  2. Dankbarkeitspflichten (gratitude),
  3. Pflichten verteilender Gerechtigkeit (justice),
  4. Pflichten der Wohltätigkeit (benefice),
  5. Pflichten sich selbst gegenüber, sich zu vervollkommnen (self-improvement),
  6. die Pflicht, anderen nicht zu schaden (nonmaleficence).

Der Zugang zu moralischen Fragen auf der Folie dieser »Prima-facie-Pflichten« scheint mir sinnvoll, da er in der Tat allgemein verständlich ist und nicht auf ein einzelnes Prinzip festlegt. Somit werden auch beim moralischen Argumentieren Haarspaltereien und Prinzipienreiterei vermieden.[4] Beim moralischem Argumentieren geht es um den angemessenen Umgang miteinander. Moral wird intersubjektiv, zwischen Personen verhandelt und entsteht im dialogischen Prozess. Dabei muss die Betrachtung der Körper mit einbezogen werden: Welche Haltung zeigt ein Mensch? Mit welcher Stimme spricht er zu uns? Was sagt sein Blick? Die nonkognitiven Ethiken sind hier eine wertvolle Ergänzung.

Der jüdische Philosoph Levinas behauptet, es sei der Blick des Anderen, der uns zur Verantwortung aufrufen würde. Er sieht eine ethische Dimension in der Art und Weise, wie ich das »Antlitz« des Anderen erfasse und inwieweit ich mich dadurch bewegen lasse, verantwortungsvoll zu handeln. In zahlreichen literarischen Beispielen ist von dieser bewegenden Wirkung des Blicks die Rede: So ist es beispielsweise von lnstetten in Fontanes Roman »Effi Briest« nicht möglich, den Blick des sterbenden Rivalen Crampas zu vergessen, den er im Duell getötet hat. Mit Blicken kann man treffen, töten, verurteilen, um Gnade flehen, glänzen...

Die Berücksichtigung des Faktors Zeit und Überlegungen zum angemessenen Umgang mit asymmetri­ schen Beziehungen finden sich vor allem in der Fürsorge- und Anerkennungsethik. Die Philosophin Judith Butler beschäftigt sich in ihrem Werk »Kritik der ethischen Gewalt« mit dem Prozess der Konstitution des Subjekts und der intersubjektiven Bedeutung des jeweils Anderen für uns. Sie geht dabei von unhintergehbaren Tatsachen aus: Es ist uns Menschen nicht möglich, umfassend über unsere Person Rechenschaft abzulegen. Als Individuen sind wir nicht nur rational denkende Wesen, sondern verletzlich, gefährdet und fehlbar. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass wir uns wechselseitig in dieser Verletzlichkeit und Gefährdung anerkennen müssen. Das bedeutet als moralische Maxime die Pflicht zur Bescheidenheit und Großzügigkeit: Urteile müssen gefällt werden - Urteile müssen aber auch ausgesetzt werden.

1. »Die Bekanntschaft mit den sieben Todsünden« - oder »Die Begegnung mit dem inneren Schweinehund«[5]

Am Beginn der Einheit können eine Bildbetrachtung und ein Lehrervortrag stehen: Die sieben Todsünden werden jeweils in ihrer Bedeutung für die christliche Morallehre des Mittelalters (umgesetzt z. B. in »Die sieben Todsünden« von Hieronymus Bosch) und die Arbeit mit dem Körper und der Psyche in der modernen Theaterpädagogik (siehe M 1, S. 57) vorgestellt.

Die Sieben Todsünden im Mittelalter

Nach der mittelalterlichen Theologie entstehen Sünden aus sieben schlechten Charaktereigenschaften:

  1. superbia (Stolz, Eitelkeit, Hochmut, Arroganz),
  2. avaritia (Geiz, Habsucht),
  3. invidia (Neid, Missgunst, Eifersucht),
  4. ira (Zorn),
  5. luxuria (Wollust, Unkeuschkeit),
  6. gula (Gefräßigkeit, Völlerei, Unmäßigkeit, Maßlosigkeit),
  7. acedia (Faulheit, Trägheit des Herzens).

Diese Charaktereigenschaften werden als Wurzel, das heißt Ursachen für Sünden angesehen. In der freien Enzyklopädie Wikipedia finden sich gute Beschreibungen der jeweiligen Todsünden, auch in den Bezügen zur Antike mit interessanten Abbildungen, zugeordneten gebräuchlichen Sprichwörtern sowie Bewertungen in verschiedenen Epochen.

Aufgabe: Erarbeite ein Referat zum Thema »Die Sieben Todsünden«, unter Berücksichtigung verschiedener bildlicher Darstellungen aus verschiedenen Epochen, zum Beispiel Figuren am Freiburger Münster (siehe auch den Artikel über Weltbilder des Mittelalters) oder in der modernen Malerei, etwa die Darstellungen von Emil Nolde oder Otto Dix.

Die Sieben Todsünden in der Kommunikationstheorie und Theaterpädagogik

Der Theaterpädagoge Sammy Molcho geht davon aus, dass wir als Menschheit zwar die Zivilisation durchlaufen haben, aber in unserem Körper Bestandteile der Tiere in uns tragen. Er folgt damit dem Vererbungssatz, der besagt, dass die Ontogenese die Rekapitulation der Phylogenese umfasst. Die sieben Todsünden sieht er nicht unter einem moralischen Aspekt, sondern als Ausdruck für das »tierische« Erbe, das tief in unseren Körper und unser emotionales Gedächtnis eingegraben ist. In seinen Zeichnungen (siehe M 1) zeigt er, wie sehr dieses Erbe in Körperhaltungen seinen Ausdruck findet und bis in die Physiognomie hineinspielt. Indem wir versuchen, entsprechende Körperhaltungen einzunehmen, kann es gelingen, auf diese weitgehend unbewussten Anteile des emotionalen Gedächtnisses zu stoßen. Molcho korrespondiert darin den Auffassungen eines Klassi­kers der Schauspielmethodik, K. S. Stanislawski, dessen Credo lautete: »Die Rolle muss man erleben, das heißt, mit ihr analog Gefühle empfinden.« Wichtig war Stanislawski die Bedeutung des Verkörperns einer physischen Handlung, die Annäherung an die Figur vom Äußeren, also vom Körper aus. Nach dieser Theorie ist es also möglich, erlernte Gefühls- und Denkmuster zu reflektieren, indem man sie körperlich erspürt, ihnen so fundamental begegnet und sich dadurch mit ihnen auseinanderzusetzen lernt.

Übungen: Von der Körperarbeit über die Versprachlichung zur szenischen Darstellung

Phase 1: In einem Spielraum sind einzelne Stühle verteilt sowie Bilder (unter Verwendung von Molchos Zeichnungen, wobei die Darstellungen einzelner Todsünden hochkopiert und im Raum auf verschiedene Plätze verteilt aufgehängt werden). Die Teilnehmer werden aufgefordert, sich frei im Raum zu bewegen und dann bei einer Abbildung einer Todsünde stehenzubleiben, diese genau zu studieren und selbst die entsprechende Körperhaltung einzunehmen. In dieser Körperhaltung bewegt er sich im Raum, ohne die anderen zu beachten, er bleibt »bei sich« mit und in dieser Haltung.

Phase 2: Jeder Teilnehmer sucht sich einen Stuhl aus als sein »Objekt der Begierde« und nimmt in der jeweiligen Haltung auf diesem Stuhl Platz. Anschließend beginnt er, den Stuhl zu untersuchen, zu drehen, zu wenden, ihn in verschiedenen Stellungen auszuprobieren und eine herauszufinden, mit der er sich seiner Charaktereigenschaft entsprechend zu dem Stuhl in Beziehung setzen kann, die Faulheit etwa schmiegt sich bequem in einen gekippten Stuhl usw.

Phase 3: Einzelne »Todsünden« bewegen sich aufeinander zu. Erst nehmen sie gegenseitig wieder entsprechende Körperhaltungen ein, dann beginnen sie sprachlich miteinander in Beziehung zu treten, wobei jeder seiner Rolle entsprechend mit Worten und Gegenständen agiert. Zuerst werden nur einzelne Ausrufe (z. B. „Schnauze“, „Voll Geil“, „her damit“, »haben«, »raffen«) ausgetauscht, dann ganze Sätze (»Lass mich bloß in Ruhe«, »Findest du mich cool?«, »Ich hab Recht«), Redewendungen oder Fragen.

Phase 4 (Reflexionsphase): Wie ist es einem in der Rolle ergangen, welche Beobachtungen hat man gemacht - mit sich selbst, mit den anderen?

Phase 5: Szenische Gestaltung einzelner Geschichten, in denen die jeweiligen Eigenschaften aufeinandertreffen.[6]

Auswertung der Erfahrungen

Vielleicht ist der eine oder andere Leser unsicher, ob solche Übungen funktionieren, und fragt sich, worin der Erfolg liegen kann. Zur Frage des Gelingens: Die Übungen erforderten Konzentration und eine gute, sichere Anleitung. Sie wurden positiv aufgenommen, und die Gruppe hat viel Spaß dabei gehabt. Und der Erfolg? Durch das Hineingehen in die Körperhaltung wird einem tatsächlich viel bewusster, wie sich etwas anfühlt: Spielt man zum Beispiel die Faulheit, so wird direkt spürbar, wie sehr man sich durch diese »Sünde« isoliert. Alles und jeder wird einem zu viel - man möchte mit niemandem mehr in Beziehung treten, selbst Liebe oder angenehme Dinge sind zu viel. Man wird sich dieser Gefühle und Wirkungen in Bezug auf andere und sich selbst bewusst.

2. Kain und Abel auf der Suche nach Verständigung

Diese Aufgabenstellung ist zusammen mit Frieds »Der Präventivschlag« im letzten Heft von »Ethik & Unterricht«[7] bereits enthalten. Inzwischen liegen Erfahrungen mit der Aufgabe vor, die unmittelbar in den Zusammenhang des Moralischen Argumentierens gehören. Ich hatte ursprünglich erwartet, dass die Schüler Kain und Abel zu einer vernünftigen Lösung bewegen würden. Die Schüler haben mich jedoch eines Besseren belehrt und gezeigt, dass der harmoniesüchtige Gutmensch mit solchen Konflikten an seine Grenzen gerät.

Kurze Zusammenfassung der Texte

In der alttestamentarischen Fassung der Geschichte von Kain und Abel geht es um den Zusammenhang von Neid, Eifersucht, Hass und Gewalt. In der modernen Fassung der Geschichte von Erich Fried mit dem Titel »Der Präventivschlag« wird Kain von Abel getötet, der seinem Bruder zuvorkommen will und damit vermeintlich als »von Gott auserwählter, geliebter Sohn« Vollstrecker des göttlichen Willens ist. Beide Geschichten zeigen, dass Neid und Eifersucht korrespondierende »Todsünden« zu Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit sind. Beide Haltungen werden von uns Menschen eingenommen, wenn wir uns »vom Vater« »ungerecht behandelt« - oder, vice versa, »auserwählt« - fühlen. Jeder kann Kain oder Abel sein, Kränkungen oder ldealisierungen können tiefgreifenden Hass oder maßlose Hybris erzeugen.

Abb. 1:  Francisco Goya (1746-1828): Duelo a garratazos, Prado Madrid 

Aufgabe: Schreibe einen Dialog zwischen Kain und Abel, in dem Abel sich bemüht, mit Kain zu reden, um zu verhindern, dass Kain ihn tötet. Spielt danach die Dialoge vor der Klasse.

Die Auswertung der Dialoge[8] im Schülergespräch ergab verschiedene Einsichten in den Prozess moralischen Argumentierens, wobei die Faktoren Zeit und Asymmetrie - wie bereits im allgemeinen didaktischen Teil dieses Artikel ausgeführt -eine Rolle spielen: Bei tief sitzendem Hass ist es nicht möglich, diesen von heute auf morgen auszulöschen. Dazu die Einschätzung eines Schülers: »Der Hass sitzt zu tief, die können sich nicht einfach mit richtigen Argumenten einigen.« Man benötigt Zeit. Im zweiten Dialog, wird ganz deutlich: Es ist schon ein Gewinn, wenn man beim Gegenüber erreicht, dass »über eine Sache geschlafen« wird. Die Einschätzung der Schülerin, die den Dialog geschrieben hat: »Das ist das einzige, was Abel möglich war. Zeit gewinnen ... das war das einzige, was mir wirklich glaubwürdig erschienen ist.« Die Verantwortung in Konfliktfällen liegt oft bei der Seite, die im Vorteil ist.

Dabei geht es häufig darum, eine Balance herzustellen, wo eine Schieflage entstanden ist (siehe Dialog 1, in welchem Abel initiativ wird mit seinem Tauschvorschlag). Es gibt ein starkes Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit, wobei nicht jeder dasselbe erhält, aber jeder das, was für ihn gut ist; und wenn kein Konsens erzielt werden kann, ist es sinnvoll, sich aus dem Weg zu gehen (siehe Dialog 3 - eine Lösung, die auch von Gottvater wohlwollend begrüßt wird). Auch hierzu die Meinung des Autors: »Einen anderen Ausweg hab ich nicht gesehen. Der Hass sitzt zu tief Manchmal muss man Streithähne trennen. Vielleicht - nach Jahren - können sie sich dann wieder begegnen.« In jedem Fall ist es nötig, den Konflikt direkt anzusprechen - wobei man sich in die Augen sieht und unterschwellige Gefühle, Motivationen und Interessen offen ausgesprochen werden. (Das ist in allen drei Versionen enthalten).

Schülermeinung: »Man muss darüber sprechen, die Geschwister müssen zeigen, dass sie die Verletzung des anderen sehen. Sie müssen sich so­lidarisieren, wenn die Eltern ungerecht sind. Man muss auf den andern zugehen, aber man darf keine zu hohen Erwartungen stellen.« An dieser Stelle wurden die Schüler auch auf Kommunikationstheorie und Konfliktforschung verwiesen. Es kommt nicht darauf an, aus einer Situation als moralischer Sieger hervorzugehen, sondern in einer Ich-du-Begegnung sich wechselseitig ins Herz zu sehen und gemeinsam ein Stück voranzukommen.


Anmerkungen

[1] Siehe R. Erlinger, München: Gewissensfragen, Süddeutsche Zeitung. Edition 2005.
[2] Siehe das Material im Beitrag von H -P. Mahnke auf S. 50.
[3] Detlef Horster, Was soll ich tun? Moral im 21. Jahrhundert, Leipzig: Reclam 2004. Horster ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Hannover.
[4] Dass daraus jedoch die Ablehnung nonkognitiver Ansätze erfolgen soll, wie Horstet das behauptet, ist mir nicht einsichtig. Er beschreibt zutreffend, dass es bei nonkognitiven Ansätzen wesentlich um das Einbeziehen der moralischen Gefühle und um die Anschlussmotivation geht, die stets einer Einsicht folgen muss, wenn diese in Handlung übergehen soll. Genau da liegt aber die Schnittstelle zwischen Kompetenz und Performanz. An dieser Stelle seien nicht mehr - so Horster - Ethik und Moral gefragt, und er verweist auf die Psychologie als gesonderte Disziplin, die sich mit diesen offenen, bisher weitgehend ungeklärten Fragen zu beschäftigen habe. Demgegenüber bin ich der Ansicht, dass Erkenntnisse dieser Nachbardisziplin - wie oben ausgeführt - unbedingt einbezogen werden müssen, wenn von moralischer Argumentation die Rede ist. Ebenso müssen Ansätze nonkognitiver Erhiken hinzugezogen werden, wenn es im Unterricht um die Einübung von Kompetenzen geht.
[5] Dieser Vorschlag geht zurück auf einen Entwurf, der von der Theaterpädagogin Christiane Trzeschan entwickelt wurde. Frau Trzeschan ist derzeit Referendarin am Staatlichen Zentrum für Didaktik und Weiterbildung in Beruflichen Schulen, Seminar Freiburg. Erprobt wurde der Entwurf gemeinsam mit einer Referendargruppe.
[6] Ausgewählt werden können fiktive Geschichten, Fabeln etc„ aber auch reale Geschichten, wie sie z. B. einem Teil der »Gewissensfragen« von Erlinger zugrunde liegen; die sind voll von unseren modernen »Todsünden« wie Geiz, Raffgier, Überheblichkeit usw.
[7] E&U, Heft 4/2005 Material Extra, S. 7.
[8] Drei Beispiele für Schülerdialoge finden sich auf unserer Homepage www.ethik-und-unterricht.de.