Die Kraft der Bilder - Horst Rosenthal und Manfred Wildmann in Gurs
Gurs Zwei
Bernd Hainmüller
Vorbemerkung
Am 22. Oktober 2020 hat sich zum 80. Male die Deportation von mehr als 6.500 jüdischen Mitbürgern aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das französische Internierungslager Gurs am Fuß der französischen Pyrenäen gejährt. In der dreiteiligen Serie Gurs Eins - bis Drei werden Mosaiksteine des Komplexes Gurs-Deportation dargestellt. Als Beispiele für das damalige Geschehen ste-hen hier stellvertretend das Schicksal des zehnjährigen Manfred Wildmann aus Philippsburg und des 25jährigen Graphikers Horst Rosenthal aus Breslau, die fast zeitgleich in Gurs interniert waren. Mit künstlerischen Mitteln versuchten beide, das Geschehen in Gurs zu verstehen und Widerstand dagegen zu leisten.
Wohin geht die Reise?
Es gibt nur ganz wenige Filme, die den 22. Oktober 1940 festgehalten haben. Dazu gehört der ca. einminütige Film mit dem Titel „Bruchsal judenfrei! Die letzten Juden verlassen Bruchsal“ aus dem Stadtarchiv Bruchsal. Gezeigt werden ältere Männer, Frauen und Kinder, die, in dicke, lange Wintermäntel gehüllt, mit gebeugter Haltung, den Kopf meist gesenkt oder zur Seite blickend, mühsam Koffer, Decken und Taschen schleppen. Sie sind gehalten, zügig in einer Kolonne unter Aufsicht der Ordnungspolizei und unter den Blicken der Bevölkerung den Ort zu verlassen. Ein Standbild zeigt einen Jungen mit einer Strickmüt-ze auf dem Kopf und einem kleinen Koffer in der Hand, der auf die Kamera blickt. Hinter ihm stehen auf einer Mauer zwei Zuschauer, die die Kolonne abschätzend beobachten. Der Junge ist Manfred Wildmann; er stammt aus Philippsburg und war bei der Filmaufnahme zehn Jahre alt. Gemeinsam mit seinen Eltern und drei Geschwistern war die Familie Wildmann auf dem Weg zum Sammelpunkt am Bruchsaler Bahnhof, wo einer der sieben Deportationszüge nach Gurs stand.
Was hat er an diesem Tag erlebt?
„Um 8 Uhr morgens bekamen wir die Aufforderung, uns in einer Stunde auf dem Adolf-Hitler-Platz einzufinden. 50 Kilogramm Gepäck durften wir mitnehmen. Meine Eltern sagten: ‚Lasst uns alle warmen Klei-der einpacken, die wir haben - wenn es zu warm ist, können wir sie ausziehen, aber wenn es kalt ist, brauchen wir sie‘. Wir packten so schnell wir konnten. Dann mussten wir das Haus verlassen und zum Dorfzentrum gehen, wo ein Lastwagen auf uns wartete. Jeder aus dem Dorf stand herum und schaute zu. Nur eine Frau, die eine Nachbarin und immer freundlich zu meiner Mutter war, kam herüber und umarmte sie. Wenn jeder aus dem Dorf das getan hätte, hätte das, was folgte, nicht passieren können. Aber nur eine von 3.000 hatte den Mut, über die Straße zu uns zu kommen“
Was Manfred Wildmann in einem unveröffentlichten Interview mit dem Künstler Remmy Trimpin 2010 in Menlo Park (Kalifornien) schildert, spielte sich an diesem Dienstagmorgen in ähnlicher Weise in 153 badischen Gemeinden ab. In sieben Eisenbahnzügen aus Baden und zwei Zügen aus der Pfalz/Saarland wurden die Menschen abgeschoben. Leiter dieser koordinierten Aktion war der SS-Hauptsturmführer Adolf Eichmann. Der Deportationstransport war von langer Hand vorbereitet und organisiert worden.
„Ich liebte es schon als Kind, aus dem Fenster zu schauen“.
„Der Lastwagen fuhr uns nach Bruchsal. Dort war die Sammelstelle, wo die Leute aus allen Dörfern hingebracht wurden. Dann am Abend wur-den wir zum Bahnhof gebracht. Der Zug kam und wir waren sehr glücklich, als wir merkten, der Zug fuhr südwärts und nicht nach Norden. Wir hielten in verschiedenen Orten, auch in Freiburg. Am Morgen (Mittwoch, 23. 10. 1940) überquerten wir den Rhein in Breisach. Ich erinnere mich sehr gut daran, denn es war eine Behelfsbrücke. Die richtige Brücke war gesprengt worden, deshalb fuhren wir über die Behelfsbrücke. Ich erinnere mich sehr gut an ein Detail, denn ein Teil der originalen Brücke lag noch im Wasser. Es war früh am Morgen; wir saßen in regulären Passagierwagen mit Fenstern, aus denen man hinaus-schauen konnte. Ich liebte es schon als Kind aus dem Fenster zu schauen".
"Frauen im Zug heulten und schluchzten den ganzen Tag, weil sie alles hatten zurücklassen müssen, ihre teure Bettwäsche aus der Mitgift zum Beispiel. Und ich erinnere mich, dass meine Mutter sagte: „Ich würde über solche Sachen nicht heulen. Ich halte meine Tränen zurück für Sachen, die es wert sind, darüber zu weinen“. Von Mulhouse aus fuhren die Züge durch das besetzte französische Gebiet bis zum Bahnhof von Chalon-sur-Saône an der Demarkationslinie zum unbesetzten Teils Frankreichs. Ich schlief von Zeit zu Zeit. Wir waren vier Tage im Zug und ich hatte viel Zeit, aus dem Fenster zu schauen. Niemand brachte irgendetwas zum Essen, weil die Leute ja ihre Lebensmittel selbst hätten mitnehmen sollen. Und am zweiten oder dritten Tag waren keine deutschen Wachen mehr im Zug. Es waren französische Offiziere, die durch den Zug gingen und ich weiß noch, dass mein Vater bemerkte, dass die französischen Offiziere viel freundlicher und höflicher seien als die deutschen Offiziere. Ich weiß nicht, wie oft der Zug gehalten hat, aber wir brauchten vier Tage für die Zugfahrt, die eigentlich nur einen Tag hätte dauern sollen. Du konntest deine Füße nicht ausstrecken, weil es nur Sitzplätze gab und der Zug überfüllt war. Die Toiletten waren ziemlich dreckig und ich glaube nicht, dass es Wasser zum Waschen oder ähnliches gab. Zum ersten Mal sah ich das Meer, das hat mich stark beeindruckt. Es war in Sete. In Toulouse lernte ich meine ersten franzö-sischen Worte: „Hommes“ und „Femmes“ auf den Toilettentüren“.
Am Freitag, den 25. Oktober 1940, morgens erreichten die Züge Oloron-Sainte-Marie. Von dort aus wurden die Deportierten per LKW in das rund 20 km entfernte Internierungslager Gurs verbracht.
Manfred Wildmanns Reaktion: Ich muss das Leben dort zeichnen!
Das Lager Gurs war nach übereinstimmenden Aussagen das schlimmste aller Internierungslager der Vichy-Regierung in Südfrankreich. Manfred Wildmann hatte keine Vorstellung davon, was ein Lager war. Sehr präzise und gut beobachtend, begann er, das Alltagsleben in Gurs zu zeichnen: Den Stacheldraht, die zugigen Baracken, die offenen Küchen draußen, die Latrinen, den Schlamm, den Matsch, die Wachen, die das Lager bewachten, die Lavabos (Waschhütten). Eines seiner Bilder trifft den Kern der Lebensumstände im Lager sehr deutlich: Beim Versuch eines Jungen, ein Baguette ins Lager zu schmuggeln, wird er vom Wachmann erwischt. Lebensmittel zu ergattern, war überlebenswichtig: Täglich starben zwischen 20 und 30 Men-schen an Unterernährung. Der zehnjährige Manfred stärkte durch seine Zeichnungen seinen Überlebenswillen.
Von Manfred Wildmann gibt es insgesamt 12 Bilder, die der Zehnjährige in Gurs gezeichnet hat. Sie befinden sich heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, dem sie Wildmann vermacht hat. Es sind eindrückliche Zeitdokumente eines Jungen, der das Ungeheuerliche, was er in Gurs gesehen und erlebt hat, gezeichnet hat, um es für die Nachwelt aufzuheben. Im März 1941 erreichte die Familie Wildmann die „Umsiedlung“ ins Lager Rivesaltes (bei Perpignan), das etwas weniger schrecklich war als Gurs. Dort begannen die Eltern Gespräche mit Vertretern der im Lager tätigen schweizerischen und französischen Hilfsorganisationen. Im November 1941 konnte Manfred Wildmanns Schwester Hannelore das Lager verlassen und wurde in einem Kinderheim des Schweizerischen Roten Kreuzes nahe Pringy (bei Annecy) versteckt. Manfred wurde im Februar 1942 aus Rivesaltes in das Kinderheim Schloss Grammont (bei Lyon) geschmuggelt. Seine Schwester Margot konnte das Lager im April 1942 verlassen und wurde in einem Heim jüdischer Pfadfinder versteckt. Die Mutter Rebekka und der älteste Bruder Hugo blieben in Rivesaltes und wurden mit den ersten Deportationskonvois im August 1942 über Drancy nach Auschwitz deportiert und dort getötet. Der Vater Heinrich, der zwischenzeitlich in einem Krankenhaus in Perpignan behandelt wurde, kam mit einer der letzten Transporte aus Frankreich ebenfalls nach Auschwitz und wurde dort ermordet. Die beiden Geschwister Hannelore und Manfred wanderten nach der Befreiung 1945 in die USA nach Menlo Park (Kalifornien) aus, wo Manfred ein Ingenieursstudium absolvierte und Sylvia Birnbaum aus Leipzig heiratete, die als Kind ebenfalls, versteckt in Belgien, den Holocaust überlebt hatte. Manfred Wildmann starb am 24. März 2020 im Alter von 90 Jahren in einem Altenheim in Palo Alto (Kalifornien).Ich hatte das Glück, ihn an Weihnachten 2019/20 zu besuchen und er übergab mir Kopien der Bilder und sein bisher unveröffentlichtes Interview über die Deportation aus dem Jahre 1990.
Horst Rosenthal: Der Gurs-Alltag in Comic-Form
Fast zeitgleich mit der Familie Wildmann wurde am 28. Oktober 1940 Horst Rosenthal nach Gurs eingeliefert. Er war im Juli 1933 aus Breslau nach Frankreich geflohen. In sieben Jahren hatte er bereits sieben Internierungslager passiert, bevor er in Gurs landete. Er wusste, was auf ihn zukam: Die Hölle auf Erden. Er hatte in den sieben Jahren Flucht sehr gut französisch gelernt, das zeigen die wenigen Dokumente, die es über ihn gibt (ein Foto zählt leider nicht dazu). Auch Horst Rosenthal, der seine Ausbildung als Grafiker hatte unterbrechen müssen, setzte das Lagerleben „ins Bild“. Er wählte dazu die Kunstform des Comic mit der zu dieser Zeit bereits international berühmten Comicfigur Mickey Mouse.
„Veröffentlicht ohne Genehmigung von Walt Disney“ – steht auf dem Titelbild seines 16 Blätter umfassenden Comics „Mickey au Camp de Gurs“. Die Texte zu den Zeichnungen sind in französischer Sprache verfasst. Er erzählt darin die Geschichte der kleinen, frechen, wilden, freiheitsliebenden Maus, die unfreiwillig nach einer Polizeikontrolle im Lager Gurs landet. Der Grund der Verhaftung: Mickey kann keine Papiere vorweisen:
„Aber plötzlich ….. hielt mich ein Gendarm an. * !!! Ö * ??? !!! – sagte er. Es war baskisch! Da ich diese Sprache nicht verstehe, sagte ich nichts. Da ich weiterhin schwieg, wurde der Gendarm wütend: - Hurensohn, deine Papiere!!! - Meine Papiere!?? Ich hatte noch nie Papiere. Ich, keine Papiere! Ich, international! – – Ah, Sie sind Ausländer? Auf, zur Wache! – Und so bin ich nach ... GURS gekommen!!! Mein erster Eindruck war ziemlich schlecht. Soweit das Auge reicht, standen Hunderte kleiner Hundehütten in einer Reihe, zwischen denen eine emsige Menschenmenge mit mysteriösen Aufgaben beschäftigt war“. Der Frage der Identität wird im Lager durch ein Verhör weiter nachgegangen:
„Ihr Name? – fragte der Kopf. – Mickey. – – Der Name Ihres Vaters? – – Walt Disney. – – Der Name Ihrer Mutter? – – Meine Mutter? Ich habe keine Mutter! - Wie bitte? Sie haben keine Mutter? Sie, Sie machen sich über mich lustig! - Nein, wirklich, ich habe keine Mutter!! – Ohne Witz! Ich kannte Typen, die keine Väter hatten, aber keine Mütter ... Nun, machen wir weiter. – Sind Sie Jude? – Wie bitte? – Ich frage, ob Sie Jude sind!! – Zu meiner Schande war ich in dieser Angelegenheit völlig ahnungslos. Welche Nationalität? - - Ähm ... Ich wurde in Ameri-ka geboren, aber ich bin international! - - International! INTERNATIONAL!! Sie sind also Kommu... Und mit einer schrecklichen Grimasse tauchte der Kopf wieder in seinen Stapel Papiere ab“.
Indem der Betrachter Mickeys Streifzügen durch das Lager folgt, erhält er tiefe Einblicke in das Lagerleben. Das zeigt sich bei der Zensur aller ein- und ausgehenden Briefe: „Mir ist es gelungen, den Mann zu ent-decken, der die meisten Briefe erhält. Es ist Monsieur Zensur. Er erhält sogar Briefe, die nicht für ihn sind. Und er liest sie trotzdem. Was für eine Frechheit, oder? Und wenn er eine Passage nicht mag, schneidet er sie raus, bevor er den Brief verkauft. Stellen sie sich das mal vor!“
Abb. 8: Der Zensor im Lager.
Durch die unbekümmerte, leicht kindlich naive und unvoreingenommene Art der Wahrnehmung Mickeys wird die perfide Beamtenwillkür entlarvt, ihre Vertreter im Lager als die eigentlich Kriminellen bloßgestellt.Hunger und Krankheiten waren ständige Begleiter im Lager. Die Es-sensrationen reichten nicht zum Überleben. Mickey muss das Brot mit der Lupe suchen: „Plötzlich eilten alle in eine Ecke der Baracke. Es war die Stunde der Brotverteilung. Überhaupt war das Wiegen des Brotes von einem fei-erlichen Ritual begleitet, dessen Geheimnis ich mir nicht erschließen konnte. Jedoch sah ich, dass das Volumen des Brotes während der Ze-remonie schnell abnahm und als ich schließlich meine Ration erhielt, war es schwierig, sie mit bloßem Auge zu erkennen“.
Manfred Wildmann rettete sich dorthin, wo Horst Rosenthal nicht hinkam.
Insgesamt zeichnete Rosenthal in Gurs drei Comics: Mickey au Camp de Gurs; La Journée d'un Hébergé und Petit Guide à travers le Camp de Gurs. Die Comic-Hefte gingen im Lager von Hand zu Hand. Nicht um-sonst hieß die Kindergruppe des Lagers „Les Mickeys de Gurs“. Rosent-hals Comics waren Trost und Anklage zugleich. Mit der liebenswerten, frechen, kleinen Maus konnten sie sich identifizieren. Sie war in allem das Gegenteil der menschenverachtenden Wachmannschaften. Rosenthal brandmarkte und entlarvte den Kern der schrecklichen Geschehnisse in Gurs vor der Folie einer freiheitsliebenden, lebensbejahenden Haltung, die sich die Würde nicht nehmen lässt. Das macht sie einmalig als konkretes Signal des kulturellen Widerstands in dieser Vorhölle von Auschwitz. Im letzten Blatt des Mickey-Comics beschäftigt sich Horst Rosenthal mit der Flucht aus Gurs: „Also wirklich, die Luft der Pyrenäen bekam mir ganz und gar nicht mehr. Und da ich nur ein Cartoon bin, habe ich mich mit einem Radiergummi ausradiert ... Und ... hop ... !! Die Gendarmen können mich jeder Zeit suchen kommen, im Land von F... [Freiheit], G... [Gleichheit] und B... [Brüderlichkeit].?(Ich spreche von Amerika!)“.
Manfred Wildmann starb am 24. März 2020 im Alter von 90 Jahren in einem Altenheim in Palo Alto (Kalifornien). 1942 war es den Eltern ge-lungen, ihn – ebenso wie seine beiden Schwestern – mit Unterstützung von Hilfsorganisationen in das Kinderheim Schloss Grammont (bei Lyon) zu schmuggeln, wo er bis Kriegsende blieb und dann in die USA auswanderte. Rosenthals Aufenthalt in Gurs endete ebenfalls Ende Juli 1942. Er wurde in das Lager Rivesaltes verlegt. Sein Name stand auf der Liste des Deportationszugs Nr. 31, der am 11. September 1942 Drancy mit dem Ziel Auschwitz verließ. Vermutlich wurde er dort kurz nach der Ankunft ermordet, weil er einen gelähmten linken Arm hatte, also „arbeitsunfähig“ war. Einen Monat vorher war er 27 Jahre alt geworden.
Wer Horst Rosenthals Comics (in Französisch) lesen will, findet sie hier:
Mickey à Gurs : Les Carnets de dessin de Horst Rosenthal (Callevy - Mémorial de la shoah) (French Edition) Kindle Ausgabe
Dieser Artikel erschien in der Badischen Zeitung - Magazin.- am 17. Oktober 2020.