StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerDie heilsame Wirkung von Kunst - Kreativprojekt mit jugendlichen Flüchtlingen

Die heilsame Wirkung der Kunst

Kreativprojekt mit jugendlichen Flüchtlingen

Hiltrud Hainmüller

Das Kreativprojekt wurde auf Anfrage der Schulleitung der Walther-Rathenau-Schule mit zwei Kunsttherapeutinnen (Prof. Dr. Monika Wigger, Dr. Henriette Schwarz) und zwei  Teilnehmerinnen der „Weiterbildung Sozial- und Heilpädagogische Kunsttherapie“ des Instituts für angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der Katholischen Hochschule Freiburg durchgeführt. Die beiden Praktikantinnen werden durch die o. g. Leiterinnen der Schule supervidiert.Der Vorschlag für dieses Projekt kam von unserem Schulleiter, Eberhard Fritz. Da an der Schule keine Werkstätten zur Verfügung stehen, sollte den Schülern eine Art Ersatz geboten werden. Im Vorfeld wurde gemeinsam mit uns Lehrern über geeignete Themenstellungen nachgedacht:

  • Wodurch können möglichst alle Schüler angesprochen und eingebunden werden?
  • Wie kann der Einzelne angeregt werden, mit künstlerischen Mitteln etwas zu gestalten, was ihn ganz persönlich berührt, was ihm etwas bedeutet, was ihn selbst, seine Persönlichkeit ausmacht? 

Wir konnten davon ausgehen, dass die meisten unserer Schüler Kunstunterricht oder etwas Vergleichbares nicht aus eigener Erfahrung kennen. Wir hatten zuvor schon bemerkt, dass viele Schüler Schwierigkeiten hatten, z. B. ein Blatt einzuteilen oder einen Stift zu führen. Darüber hinaus waren wir unsicher, ob Themen wie z. B. das Thema „Heimat“ nicht zu sehr durch traumatische Erfahrungen besetzt sind. Eine zusätzliche Schwierigkeit sahen wir darin, Themenstellungen überhaupt zu kommunizieren angesichts der geringen Deutschkenntnisse der Schüler. Ich stelle im folgenden die aufeinanderfolgenden Unterrichtsstunden und ihre Themenstellungen dar. Darüber hinaus werde ich meine Erfahrungen mit den jeweiligen Stunden kommentieren.

Einführungseinheit am 18. Februar 2016: „Jeder Mensch ist ein Künstler – man kann nichts falsch machen“

Vorbereitung: Am Vortag wurde die Vorstellung des Projekts gleich mit einer praktischen Übung verbunden. Jeder wurde ermuntert, darüber nachzudenken, was für ihn besonders wichtig ist, sei es ein Gegenstand, den er als Erinnerung von seiner Heimat mitgenommen hat oder etwas, das er vermisst, eine Landschaft oder ein Gegenstand, den er gerne besitzen würde. Die meisten Schüler fertigten dazu eine kleine Zeichnung an, die wir einsammelten und am nächsten Tag als Einstieg ins Kunstprojekt ausstellten.

Die Einführung wurde von der Klassenlehrerin moderiert – Kunsttherapeuten, Praktikantinnen und Schüler wurden wechselseitig vorgestellt. Anhand der Bilder konnten die Schüler zeigen, was für sie von Bedeutung ist: z. B. die Fahne des Herkunftslandes oder ein religiöses Symbol, ein großes Auto, eine wertvolle Uhr, ein uralter Baum, eine Landschaft mit Schafen, das Fußballteam aus der Heimat, das große Wasserrad aus der syrischen Stadt Hama…Wir versuchten gemeinsam mit den Therapeutinnen in etwa folgende Vorstellungen anhand von Bildern und mit wenigen Schlüsselbegriffen (Freundschaft, Glück, Frieden, übersetzt in die verschiedenen Sprachen) zu vermitteln: Eine Klasse mit Schülern aus 6 verschiedenen Nationen, verschiedenen Religionszugehörigkeiten und ebenso vielen verschiedenen Sprachen ist dabei, sich zu einer Gemeinschaft zu entwickeln, in der es nicht darum gehen kann, einander zu bekämpfen, sondern Freundschaft zu schließen. Die Kunst soll dazu beitragen, dass dies gelingen möge! – Dabei muss man nicht gut zeichnen können, man kann alle Ideen einfließen lassen, man kann nichts falsch machen. Dem Anderen die Hand zu reichen: ein Zeichen von Freundschaft. So erfolgte der Einstieg in die erste Übung.

Erste Übung: „Händefries“ (Gruppenarbeit)

Die handwerkliche Beschreibung der Durchführung des Projekts wurde im Vorfeld uns Lehrern von der Kunsttherapeutin Prof. Dr. Monika Wigger zugesandt. Aus ihr zitieren wir, damit interessierte Pädagogen eine Anleitung entnehmen können, wie sie eine solches Projekt selbst durchführen können.

„Material: Papier/Panoramaformat (durch aneinander befestigte Einzelblätter 35x100 cm), Bleistifte, Edding, Buntstifte, Gouache- und aus   Temperafarbe, Schaumstoffstempel für einfaches Drucken und Pinsel). Das Papier wird auf entspre-chend aufgereihte Tische gelegt, diese Tischpositionierung bleibt konstant für beide geplante Übungen. Alle Teilnehmen-den werden eingeladen nebeneinander zu arbeiten. Die Aufgabe besteht darin, Umrisse von den eigenen Händen zu zeichnen. Die Positionierung der Hände ist frei, es sollen sich aber alle Umrisse an einer Stelle berühren. Nach der Umriss-zeichnung wird dieser grafische Arbeitsschritt betrachtet. Anschließend wird dieser Aufgabenteil erweitert um die Möglichkeit der farbigen Weitergestaltung. Hierzu können jetzt alle Materialien des Materialbuffets benutzt werden. Die Handhabung der Materialien wird anschaulich gezeigt (learning by doing). Nach Fertigstellung wird das gemeinschaftliche Werk angeschaut und aufgehängt.“ (Zitat aus der Planung der Leiterinnen Prof. Dr. Monika Wigger und Dr. Henriette Schwarz)

Die Aufgabe wurde mit viel Freude und Schwung angegangen. Alle Schüler waren beteiligt – kein einziger zeigte sich unwillig oder gelangweilt – im Gegenteil, es machte den Schülern riesigen Spaß, sowohl die eigenen Hände als auch die anderer zu umkreisen und das ganze Werk farbig zu gestalten und mit Symbolen zu versehen. Auch hierbei wurden häufig die jeweiligen Farben der unterschiedlichen Landesflaggen in Berührung mit den Farben der deutschen Flagge gewählt, darüber hinaus wurde das Fries mit Herzen, Blumen und ähnlichen Symbolen ausgestaltet. Nach Fertigstellung wurde das Werk im Klassenzimmer aufgehängt und gemeinsam betrachtet.

Kampfhähne beruhigen sich…

Es fiel beim Betrachten des Frieses sofort auf, dass eine Hand mit den Farben der kurdischen Flagge mit einem Kreuz durchgestrichen war. Wir entschieden uns, diese „Anfeindung“ zu thematisieren, wobei wir nicht wussten, wer der Urheber war. Vo-rausgegangen war nämlich am Vortag des Projekts ein Konflikt innerhalb der Klasse. Ein Schüler aus Bagdad erklärte, er wolle nicht weiter mit einem kurdischen Schüler aus dem Nordirak in einer Klasse bleiben, weil dieser ständig gegen „Nicht-Kurden“ zu Felde ziehen würde. Zwischen beiden Schülern hatte es bereits ein Streitschlichtungsgespräch mit einem Dolmetscher gegeben, nach welchem sich beide die Hand gereicht hatten. Angesichts dieser Bemühungen bedeutete die durchgestrichene „kurdische Hand“ eine Störung, die wir nicht unbeachtet lassen wollten. Ich zeigte auf diese Hand und eine Reihe von Schülern äußerten sich mit Worten wie „nicht gut“ und „schlecht“, „falsch“. Ich fragte daraufhin, was wir nun tun sollen. Ein Schüler verwies darauf, dass man ein Herz anstelle des Kreuzes malen könne. Daraufhin applaudierten alle. Auf dem Wandfries (das im Klassenzimmer hängt) ist jetzt das Kreuz mit einem Herz übermalt.

Zweite Übung: Ich bin gefragt- eine Collage zum „Selbst“ (Einzelarbeit)

Auch an dieser Stelle die handwerkliche Anleitung zu einer Übung, die zur Nachahmung nur wärmstens empfohlen werden kann.

„Bildnerische Identität (Portrait und Signatur) „Einzelarbeit und gemeinschaftliche Präsentation an einer „Präsentationsschnur“ , Material: Polaroid-Kamera, quadratische Papierformate, Filzstifte (Edding), Bunt und- Bleistifte, Gouache- und Temperafarbe, Collagenmaterial, Klebestifte, Zeichenblöcke im quadratischen Format.In der ersten Phase der Übung werden die Teilnehmenden eingeladen sich gegenseitig zu fotografieren (Portrait) Hierzu wird eine einfach funktionierende Sofortbildkamera eingesetzt. Schüler, die ihr Portrait angefertigt haben, können beginnen bildnerisch zu arbeiten. Hierzu können die Schüler aus den Mittel des Materialbuffets auswählen. Die Ergänzung durch die eigene Signatur und deren grafische Gestaltung komplettiert das Werk. Wenn alle Schüler ihre Arbeiten fertig gestellt haben, werden die Bilder gemeinsam aufgehängt und abschließend betrachtet.“ (Zitat aus der Planung von Prof. Dr. Monika Wigger und Dr. Henriette Schwarz)

Während dieser Übung waren die Schüler konzentriert bei der Sache. Jeder Einzelne war intensiv mit der Gestaltung seiner Collage beschäftigt. Es entstanden sehr individuell unter-schiedliche Exponate, die wir nach Fertigstellung an einer Schnur quer durchs Klassenzimmer aufhängten. Jeder Schüler präsentierte stolz sein Werk und versprachlichte – soweit dies zum damaligen Zeitpunkt möglich war – den Inhalt der Collage. Diese Collagen hängen bis heute an der Hinterwand des Klassenzimmers. Sie werden bis heute beim Sprachunterricht eingesetzt, wobei die Schüler selber registrieren, welche sprachlichen Fortschritte sie erzielen. Sie können inzwischen nicht nur Gegenstände benennen, sondern auch Gefühle und Stimmungen – etwas, das in einer Fremdsprache schwer auszudrücken ist. Ganz nebenbei konnten wir beobachten, dass die Kampfhähne vom Vortag (der kurdische Schüler, welcher sich, wie bereits oben erwähnt, mit einem „Nicht-Kurden“ im Clinch befand) während der Erstellung der Collage friedlich nebeneinandersaßen, sich gegenseitig Material reichten und ihre jeweiligen Schwerpunkte wechselseitig erklärten: So zeigte sich der eine als absoluter Motorradfan, der andere hingegen als Autonarr, der gerne Lastwagenfahrer werden möchte. Seit dieser gemeinsamen Arbeitssitzung gab es im Klassenverband keine die Arbeitsatmosphäre störende Auseinandersetzung mehr.

2. Unterrichtseinheit am 15. März 2016: "Das Ei als Symbol für Entwicklung und Leben".

Nach der erfolgreichen Durchführung der ersten Einheit bekundeten wir Interesse, das Kreativprojekt fortzusetzen. Zwei noch in Ausbildung befindliche Kunsttherapeutinnen erklärten sich dazu bereit unter Supervision die Arbeit in der Klasse fortzusetzen. Beide sind schon aufgrund ihrer Ausbildung sehr sensibilisiert, was die Frage der Traumatisierung von Flüchtlingen betrifft. Sie wählten deshalb sorgfältig ein weiteres Thema, welches sich wiederum als sinnvoll erweisen sollte: Entwicklung und Geborgenheit. Gewählt wurde das Ei als Symbol für Entwicklung und Leben. Eigentlich war geplant, den Begriff der Entwicklung und Geborgenheit im Deutschunterricht vor Beginn der Kunststunde einzuführen. Wir entwarfen dazu Arbeitsblätter zur Entwicklung des Menschen und seine verschiedenen Altersstufen. Auch Schlüsselbegriffe wie „Entwicklung“, „Geborgenheit“ und „Sicherheit“ sollten - in die verschiedenen Sprachen übersetzt - vorbereitend entwickelt werden. Wir wollten erfragen, ob das Ei - das Projekt fand kurz vor den Osterferien statt - auch in der jeweiligen Kultur der Schüler eine Rolle spielt. Das Ei sollte als Symbol für Leben und Fruchtbarkeit in verschiedenen Kulturen vorgestellt werden. Mit all diesen gutgemeinten Vorbereitungsbemühungen kamen wir jedoch nicht zum Zug, da eine Schülerin kurz vor Beginn des Projekts während des Unterrichts aufgrund einer posttraumatischen Störung einen Zusammenbruch erlitt und notärztlich behandelt werden musste. Es war das eingetroffen, was wir alle immer schon befürchtet hatten – allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem wir überhaupt nicht damit gerechnet hatten. Wir standen  vor einer aufgewühlten Klasse. Der Plan, Styroporeier in Farbe zu tunken und mittels dicker Strohhalme gemeinsam über eine große weiße Papierfläche zu blasen, sodass sich bunte Muster ergeben, schien zunächst gefährdet, erwies sich jedoch dann als äußerst sinnvoll. Diese gemeinschaftliche Aktivität wirkte in dieser Situation entspannend – die Schüler hatten Spaß und konnten wieder durchatmen. Anschließend hatte jeder Gelegenheit, sein Ei zu bemalen und es vor der Klasse zu präsentieren. Die ursprüngliche Idee, in einer weiteren Sitzung die Eier entlang des Themas „Geborgenheit“ in ein Nest zu legen, konnte aus Zeitgründen nicht weiterverfolgt werden. Sie wurde zunächst durch die Osterferien unterbrochen. Die Papiere mit den bunten Mustern (entstanden durch die gemeinschaftliche „Blas-Aktion“) sollten in einer weiteren Stunde als Einband für ein „Glücksheft“ Verwendung finden.



3. Unterrichtseinheit am 12. April 2016: Das Glücksbuch – ein Heft für positive Erlebnisse, Gedanken, Stimmungen

Vorbereitet wurde diese Aufgabe, indem Bildkarten auf den Tischen verteilt wurden, von denen sich jeder Schüler eine Karte aussuchen konnte, die ihm besonders gut gefällt. Eine weitere Sprachübung bestand darin, den Grund für die Auswahl anzugeben und das jeweils ausgewählte Bild zu beschreiben. Im Anschluss daran wurde die Aufgabe erteilt, einen Ein-band für das Glücksheft zu erstellen. Zufällig enthielt eine Karte die Abbildung eines Pfaus. Dazu muß man wissen: der Pfau ist die oberste Gottheit der Jesiden. Wir hatten also mit dieser Karte voll ins Schwarze getroffen. Eine Schülerin griff freudig nach dieser Karte und zeichnete diesen Pfau ab. Ihr Glücksbuch sollte unter diesem guten Stern stehen.

Den Schülern wurde erklärt, dass sie den Einband des Glücksbuchs jeweils individuell gestalten können – auch unter der Verwendung der erstellten Papiere. Diese wollte jedoch keiner zerschneiden- das gemeinschaftliche Werk sollte erhalten bleiben! Jeder wählte ein eigenes Motiv für seinen Einband. Auch bei dieser Arbeit waren die Schüler hochkonzentriert. Eine Schülerin zeichnete eine Karte ab, auf der eine lachende und eine traurige Maske abgebildet war. Sie fertigte die Zeichnung mit großer Hingabe an, obwohl sie an ihrer Schreibhand einen hinderlichen Verband trug. Diese Schülerin war oft depressiv, hatte bereits einen längeren Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie hinter sich und kann selbst entscheiden, wie lange sie jeweils dem Unterricht beiwohnt. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese Kunststunden zu ihren Lieblingsstunden zählten. Sie erklärte mir freudestrahlend ihre Zeichnung mit den deutschen Worten „hell“ und „dunkel“. Die Glückshefte durften die Schüler mit nach Hause nehmen. Mir ist nicht klar, ob die mit dem Buch verbundene Absicht, darin positive Erlebnisse zu sammeln oder zu zeichnen, allen klar wurde. Die Kommunikation über solche Fragen ist noch schwierig. Es entstand auch die Idee, immer mal wieder im Unterricht bei positiven Ereignissen darauf zu verweisen, dass sie Eingang in das Glücksbuch finden können – aber auch solche Interventionen sind beim derzeitigen Stand der Sprachentwicklung noch schlecht kommunizierbar. Man müsste das dann schon an einem eigenen Beispiel zeigen, was aber möglicherweise zu sehr die Gestaltungsfreiheit einschränkt. “Glück“ ist schließlich etwas sehr Subjektives, es lässt sich nicht verordnen. Freude allerdings lässt sich teilen, was auch wiederum glücklich macht. Sowohl Therapeuten als auch Lehrer stehen vor solchen Maßfragen, die im Unterricht stets mitbedacht werden müssen. Auch die Frage, inwieweit Werke anschließend besprochen oder einfach nur unkommentiert betrachtet werden, muss jeweils neu entschieden werden. Arbeiten sollten nicht „beurteilt“ werden, keiner soll sich „bloßgestellt“ fühlen, Arbeiten sollen aber „anerkannt“ werden, Schüler wollen auch in ihrem Tun und ihren Anliegen „gesehen“ werden. Dabei handelt sich jeweils um einen Balanceakt, der mit viel Empathie und Einfühlung vollzogen werden muss.

4. Unterrichtseinheit am 10. Mai 2015: Ein Ort, an dem ich mich geborgen fühle

Eine weitere Aufgabe zum Thema „Entwicklung und Geborgenheit“ bestand darin, einen Ort zu gestalten, an welchem sich der jeweilige Schüler geborgen und wohl fühlt. Die ursprüngliche Idee, dazu auch für das Ei ein Nest zu bauen, wurde von zwei Schülern aufgegriffen. Alle anderen gestalteten diese Aufgabe frei. Als Material erhielten sie Schuhkartons, freie Kartonflächen, Zeichenpapier, Draht, Moos, Ton, weiche Stoffe, Buntstifte. Zu diesem Thema entstanden ganz besonders anrührende Werke, die hier beispielhaft erwähnt werden.

  • Zwei Schüler aus Afghanistan formten aus Ton Ziegen, aus Stoff und Flachs einen Schäfer und schufen mit Moos ein Schäferidyll, wie sie es aus ihrer Heimat kennen.
  • Ein Schüler aus Eritrea gestaltete eine ähnliche Landschaft mit Kühen und Bäumen.
  • Ein Schüler aus Hama formte einen Bauernhof und ein Tiergehege und meinte: „das ist wie bei mir zuhause und wie im Mundenhof“ (wir hatten in der Woche zuvor den Mundenhof besucht) – ein Ort, an dem sich die Schüler sehr wohlfühlten, nicht zuletzt, weil er sie ein wenig an ihre Heimat erinnerte)
  • Ein Schüler baute ein Nest für sein Ei in einem Schuhkarton. Anschließend war er ratlos, wie er eine Henne in den Karton bringen sollte. Ermuntert durch die Therapeutin gestaltete er dann aus Draht eine Henne in der Größe des Kartons, die er zum „Ausbrüten“ freudestrahlend auf den Karton setzte.

Der Vogelflug in die Freiheit…

Zwei Schülerinnen aus Sindjar fertigten gemeinsam eine Zeichnung an, die einen Ort darstellt, der alles andere als Geborgenheit ausstrahlt: eine graue Gefängnismauer, ein vergittertes Fenster, aus welchem zwei Arme ragen mit Händen, die einen Brief halten, auf der Mauer ein Schriftzug auf arabisch (der Inhalt wurde uns am Tag danach von dem arabisch sprechenden Lehrer übersetzt): „An alle Familien und Jesiden: Helft mir!“ . Seitlich neben dem Gitterfenster zwei Vögel als Freiheitssymbol. Eine der beiden Schülerinnen hatte drei Wochen zuvor den oben bereits erwähnten posttraumatischen Zusammenbruch erlitten – sie war vier Monate zuvor in der Gefangenschaft des IS gewesen. Nun malte sie – beschützend begleitet von ihrer Freundin – dieses Bild. Aus kunsttherapeutischer Sicht war es wichtig, dass die Schülerin selbst entscheidet, was mit dem Bild geschehen soll. Da die Schülerinnen das Bild zu zweit gemalt haben, aber nicht in der selben Unterkunft wohnen, erstellte ich zwei Kopien. Die Schülerin entschied sich dafür, das Bild mit nach Hause zu nehmen, ihrer Freundin eine Kopie zu überlassen und eine weitere Kopie in der Klasse zu lassen. Alle drei Bilder sollen durch eine Glasrahmung geschützt werden.

5. Unterrichtseinheit am 7. Juni 2016: "Eine Welt, in der ich leben möchte".

Vorüberlegungen

 Anknüpfend an das Thema „Ein Ort, an dem ich mich geborgen fühle“ wurde das Thema „Eine Welt, in der ich leben möchte“ vorgeschlagen. Die Frage in der Vorbesprechung war, wie Begriffe wie „Welt“, „Fantasie“, „Wunsch“ übersetzt werden können, um die Themenstellung adäquat zu vermitteln. Geplant war eine „Vorentlastung“ (Fachbegriff aus der Fachdidaktik DaF/DaZ) durch Bildkarten.

Durchführung

Der Einstieg in jede Kunststunde beginnt mit einem Ritual: Es werden Bildkarten auf dem Tisch verteilt, jeder Schüler sucht sich eine Karte aus, die ihm besonders gut gefällt und stellt diese den anderen vor. Karten mit Bildern aus Fantasiewelten, wie z. B. eine Unterwasserwelt, Weltraumfahrten und dergleichen waren im Angebot, sodass wir begleitend die oben genannten Begriffe erklären und somit die Themenstel-lung vermitteln konnten: „Gestaltet eine Welt, in der ihr gerne leben möchtet.“ Jeder konnte alleine oder in der Gruppe arbeiten.

Material

Jeder erhielt eine Sperrholzplatte (50 x 50cm), Draht, Ton, Styropor, Moos, Äste, Muscheln, Rinden, kleine Papphühner, bunten Filz, Stoffe, Farben. Als Werkzeug standen zur Verfügung: Zangen, kleine Handsägen, Scheren, Heißkleberpistolen, Hammer, Pinsel, Bleistifte und Lineale.

Welten, die entstanden sind

Das Blumen-Café

Ein Schüler gestaltete mit viel Liebe und Sorgfalt sein eigenes Cafe´. Von diesem Schüler wissen wir, dass er sehr gut einheimische Gerichte aus seinem Herkunftsland kochen kann, dass er sehr zuverlässig und fürsorglich ist. Er hatte viel Freude bei der Gestaltung.

Das Haus am Bach mit Brücke

Ein Schüler, der sonst oft im Unterricht unaufmerksam ist und sich leicht ablenken lässt, hat mit großer Konzentration sein Haus mit freundlich einladender Umgebung gestaltet. Besonderen Wert legte er auf die kunstvolle Modellierung des Brückengeländers. Er erzählte, sein Vater habe Skulpturen hergestellt, er selbst habe Freude am Gestalten, eine große Affinität zu Wasser (guter Schwimmer) und könne sich einen Beruf in dieser Richtung vorstellen, der mit Wasser oder Handwerklichem etwas zu tun hat.

Eine mehrstöckige Wohnlandschaft

Eine Gruppe von Mädchen suchte zunächst nach geeigneten Bildern im Internet und einigte sich dann schnell darauf, ein mehrstöckiges Haus zu konstruieren mit gemütlicher Einrichtung, umgeben von hübschen Blumenbeeten. Das gezeigte Bild ist erst das erste Stockwerk. Weitere sollen folgen.

Das blaue Haus

Es wurde von zwei Jungen gefertigt, die seit dieser gemeinsamen Arbeit eine Freundschaft verbindet. Auch für dieses Haus ist charakteristisch, dass es eine freundliche Umgebung hat und selbst durch Farbe und Verzierungen einladend wirkt.

Die gute und die schlechte Welt

Zwei junge Männer gestalteten eine „gute Welt“ und eine „schlechte Welt“, die durch eine Mauer voneinander getrennt sind. In der „schlechten Welt“ befinden sich zwei Gefängnisgebäude. In einem Trakt befindet eine schlafende Frau, im anderen eine männliche Figur, die mit verzweifeltem Gesichts-ausdruck am Gitterfenster steht. Die gute Welt gleicht einem Park, dort sitzt ein Paar auf einer Bank, die Frau ist in ein Buch vertieft. Die beiden Künstler erzählten dazu eine Geschichte: In der schlechten Welt herrschen Kampf, Unfreiheit, Aggressivität, Not. In der guten Welt sind die Menschen friedlich. Wer lernt, sich Mühe gibt und anderen Menschen hilft, befindet sich in der guten Welt – andernfalls landet er in der schlechten. Jeder Mensch muss selbst entscheiden, welcher Welt er angehören möchte. Gemeinsam erarbeitete Textfassung nach der Betrachtung des Kunstwerks: Die gute und die schlechte Welt.

„Die gute Welt ist wie ein Garten. Ein Mann und eine Frau sitzen auf einer Bank im Garten. Im Garten ist es schön. Die Frau und der Mann sehen vor sich eine Mauer. Hinter der Mauer ist die schlechte Welt. Dort sind zwei Häuser. Es sind Gefängnisse. In den Gefängnissen sind zwei Menschen. Sie sind Gefangene. Sie sind nicht frei. Sie haben Hunger und Durst.

Die Frau in der guten Welt hat ein Buch in der Hand. Sie liest und lernt. In der guten Welt sind die Menschen glücklich. Sie gehen spazieren im Wald, sie helfen anderen Menschen, sie tanzen in der Disco, sie singen, sie lieben sich.

In der schlechten Welt sind die Menschen traurig. Sie sind nicht frei und weinen. In der schlechten Welt sind die Menschen böse, sie schießen, sie legen Feuer, sie kämpfen, sie sind aggressiv.

Die Menschen müssen sich entscheiden, in welcher Welt sie leben wollen".

6. Unterrichtseinheit am Dienstag, 28.06.2016: Fortsetzung von "Eine Welt, in der ich leben möchte".

Dieser Termin fand unter veränderten Bedingungen statt. Wir hatten 3 neue Schüler, die in die Arbeit mit eingebunden wurden. Das zentrale Thema der Stunde war anknüpfend an die vergangene Stunde „Eine Welt, in der ich leben möchte“. Bereits bestehende Objekte wurden ausgebes-sert, verändert und /oder erweitert. Das Objekt „ Blumencafe“ wurde ergänzt durch ein Haus – sodass ein gemütliches Cafe entstanden ist, in dem sowohl innen als auch außen Platz ist.

Im Objekt „Die gute und die schlechte Welt“ wurden Ausbesserungsarbeiten und Veränderungen vorgenommen. Die Menschen in der „guten Welt“ haben die Blickrichtung geändert: die Bank im Park ist jetzt so platziert, dass das Paar nicht mehr auf die Trennmauer zur „schlechten“ Welt schaut, sondern auf den vor ihm liegenden Park, indem sich ein Hund und eine Muschel befinden. Das Fell des Hundes hat dieselbe Farbe wie die Haare der Menschen auf der Bank – Mensch und Tier wirken, als würden sie freundlich miteinander kommunizieren. Durch die Muschel entsteht atmosphärisch ein gefälliges Ambiente. Die Menschen sind nicht mehr fixiert auf die Mauer, hinter der sich das Gefängnis befindet, sondern ihr Blick öffnet sich in eine freundliche Umgebung hinein.

Das Objekt „blaues Haus“ wurde ergänzt durch einen weiteren Gebäudekomplex „Aldi Süd“ , vor dem ein rauchender Mann steht („ weil man im Geschäft nicht rauchen darf“). Ein „Aldi Süd“ – Laden befindet sich tatsächlich in der Nähe des Flüchtlingscamps und ist ein wichtiger Bezugspunkt für die Bewohner geworden.

Das Objekt „Haus am Bach“ wurde farblich neu gestaltet, die Brücke wurde renoviert, im Haus selbst gibt es ein Bett, auf dem sich ein Mensch , umhüllt von einer weich fallenden Zudecke, ausruht.

Das Objekt „ Mehrstöckige Wohnlandschaft“, welches ursprünglich mehrere Stockwerke erhalten sollte, bleibt jetzt doch einstöckig. Es erhielt eine freundliche Umgebung (einen grünen Rasen, Blumenbeete, Blüten auf dem Dach sowie einen gefälligen Anstrich).

Neu entstand das Objekt „Gartenlaube“ mit Moosüberdachung, Tischchen und Sitzgelegenheit – Ein Objekt, welches von einem der neu hinzugekommenen Mädchen mit Begleitung der Kunsttherapeutin gestaltet wurde. (Das Mädchen blieb so nicht alleine und hatte Gelegenheit, sich einzubringen).

Zeitgleich wurden auch andere Themen und Materialien gewählt:

Zwei Mädchen versuchten gemeinsam in einer Art dialogischen Malens verschiedene Farbkompositionen auszuprobieren. Andere malten Vogel – und Blumenmotive sowie einen Drachen. Ein neu hinzugekommenes Mädchen, welches vor allem die Aufmerksamkeit der Jungen genossen hat, präsentierte sich, indem sie einen munteren, farbenfrohen Hasen malte.

Ein weiterer neu hinzugekommener Junge malte zusammen mit einem anderen Jungen (der eigentlich gar nicht mitmachen, sondern „Deutsch lernen“ wollte) die jesidische Fahne, die er zum Abschluss stolz präsentierte. (eine gute Möglichkeit, in der Klasse durch gemeinsames Tun anzudocken).

Ein Schüler, der statt sich künstlerisch zu betätigen eigentlich Deutsch lernen wollte, setzte sich nach einer Weile in eine eigene Ecke und malte ein Bild, in welchem er seine Erfahrungen mit dem Genozid darstellte, den der IS an der jesidischen Bevölkerung verübt hat. Zwei große schwarz umrandete Augen, aus denen Tränen – rot wie Blutstropfen – fließen. Dazu das Datum der Flucht und die Worte „Stop Yesid Genozid“ . Durch kleine Bleistiftzeichnungen wurde der Genozid in seiner ganzen Grausamkeit dargestellt. Das schwarze Rechteck, beschriftet mit „IS“ symbolisiert Tod und Verderben, die durch den IS ausgelöst wurden. Den Rahmen bildet eine Farbkomposition von rot, schwarz blau – Gewalt – Tod – Bodenlosigkeit – Verzweiflung sprechen aus dem Bild. Der Schüler erfährt während des Malens eine einfühlsame Begleitung. Er kann äußern, dass es ihm schwerfällt, nach dem Malen wieder in die „Wirklichkeit“ zurückzukehren. Dennoch möchte er, dass das Bild aufgehängt wird. Inzwischen steht der Schüler gelegentlich vor seinem Bild und erzählt bruchstückhaft von seinen Erlebnissen. Ich habe das Gefühl, er dosiert diese Erzählungen in dem Maße, wie es für ihn „bekömmlich“ ist.

Nachbesprechung:

In einer gemeinsamen Nachbesprechung erhielt ich von der Kunsttherapeutin die Anregungen, gemeinsam mit den Schülern im Deutschunterricht aus den Objekten eine Art Stadt entstehen zu lassen. Jeder soll sein Objekt so platzieren, wie er es für richtig hält. Vielleicht lassen sich Wege vom einen zum anderen bauen – vielleicht werden die Objekte auf irgendeine Art miteinander verbun-den (Park, Wald, Bach, Bus usw.)… Alles lässt sich versprachlichen. Wir können zu den Objekten Geschichten erfinden zu dem Thema „Die Welt, in der wir leben möchten“.

Dein Baum – Unsere Landschaft

Die letzte Kunststunde am 12. 7. 2016 vor den Sommerferien fand wiederum unter veränderten Bedingungen statt – es waren nochmals neue Schüler hinzugekommen , weitere Schüler aus der Parallelklasse sollten „beaufsichtigt“ werden – ausnahmsweise waren auch mal tatsächlich alle Schüler anwesend, sodass wir total überfüllt waren und die Entscheidung trafen, vorerst die Gruppe zu teilen und in zwei verschiedenen Räumen zu arbeiten. Die Mädchen fanden sich sofort gemeinsam in einem Raum- die Jungen im anderen. Diese Trennung ist auch sonst oft gegeben, da die meisten Mädchen in unserer sogenannten Schreibschule sind (Alphabetisierungsgruppe) und bisher nur ein Mädchen bei den „Fortgeschrittenen“.

„Dein Baum“ – so lautete das erste Thema. Jeder sollte nach eigener Vorstellung einen Baum malen. Zur Verfügung standen Ölkreiden, Buntstifte und bunte Filzstifte, ein quadratisches Papier (45x45). Mit unterschiedlichem Elan gingen die einzelnen Schüler ans Werk. Einige vertieften sich in die Gestaltung und malten mit viel Sorgfalt und Hingabe – andere waren schnell „fertig“, warteten auf weitere „Anweisungen“ und genossen die ihnen durch die schnelle „Erledigung“ der Aufgabe entstandene Pause. Einige Baumbilder enthielten Ergänzungen durch Darstellung von Menschen, Tieren Blumen.

„Gemeinsam eine Landschaft gestalten“

Der zweite Teil bestand aus einer Gemeinschaftsaufgabe. Eine etwa 4 m lange und 2m breite Papierrolle (Fotokarton) wurde auf zusammengerückten Tischen ausgebreitet – die Schüler gruppierten sich um den Tisch und erhielten die Aufgabe, ihre Bäume nach eigener Vorstellung zu platzieren und ein Gesamtbild entstehen zu lassen, indem um die Bäume herum eine Landschaft gestaltet werden sollte , bestehend aus Bergen Flüssen, Straßen oder dergleichen. Hier zeigte sich zunächst die Schwierigkeit, das Wort „Landschaft“ zu erklären. (Diesen Teil würde ich in einer vorbereitenden Stunde durch Vorentlastung – Bilder und Vokabeltraining – künftig besser vorbereiten). Zunächst ordneten die Schüler ihre Bilder symmetrisch an. Mir fiel auf, dass die Aufgabenstellung: „Verteilt die Bäume, wie ihr möchtet, ihr habt die Wahl, ihr könnt entscheiden, entscheidet gemeinsam…“ immer noch ungewohnt ist. Die sprachlich fortgeschrittenen Schüler haben die Aufgabe besser verstanden. Einige begaben sich mit viel Schwung an die Arbeit – andere Schüler klinkten sich bei dieser Aufgabe aus ( teils, weil sie die Aufgabe nicht ganz verstanden haben, teils weil auch zu wenig Raum für gemeinsame Entscheidungen war – es waren einfach zu viel Schüler) . Hinzu kam, dass eine gewisse Spannung im Raum lag, weil ein Schüler, der sich sonst an Gemeinschaftsaufgaben praktischer Art eher beteiligt, extrem schlecht gelaunt war, andere hänselte und sich einige Male einen Schlagabtausch auf Arabisch lieferte. Das beeinträchtigte die Atmosphäre so, dass ich ihn , nachdem „Integrationsversuche“ gescheitert waren, herauszog und er mir dann auf dem Flur berichtete was ihn wirklich bewegte ( er hatte im Camp eine gewaltsame Auseinandersetzung mit Polizeieinsatz und jetzt - berechtigt – Angst vor den Folgen). Ich erwähne dies deshalb, weil solche Ereignisse zum Alltag dazugehören und das Geschehen stark beeinflussen. Ich erteilte dem Schüler die Erlaubnis – daraufhin war die Atmosphäre entspannt und locker – viele beteiligten sich an der Gemeinschaftsarbeit – einige hingen rum und spielten mit ihren Handys, zum ersten Mal fand die Arbeit auch unter arabischer Begleitmusik statt.

Der Gruppenprozess lässt sich etwas folgendermaßen beschreiben. Ein Schüler gestaltete einen Park und leitete andere an zu Zeichnung von Straßenverläufen, Blumen, Tieren usw… Am anderen Ende des Kunstwerks gruppierten die Mädchen ihre Bäume zu einer Art Wald, der durch Vögel, Blumen und eine Sonne belebt wurde. Immer wieder wird im Bild die jesidische Fahne dazu gefügt- es kommt mir vor wie ein Logo.. Die Mädchen benutzten zur Ausgestaltung auch metallisch glänzenden Glitzersand, der mit Kleister aufgetragen werden musste – wobei sich ein Junge daran beteiligte , sorgfältig diese Glitzersand aufzutragen, ohne die Farbe der Bäume zu verwischen. Er hatte seine Freude an diesem Glanz (dem der Farbe und dem des Mädchens, neben dem er arbeitete). Für mich hatte dieser Waldteil etwas Magisches – ich habe ihn „Zauberwald“ genannt und überlege, daraus eine Geschichte gemeinsam mit den Schülerinnen zu entwickeln. Ein weiterer Schüler – eher um die Gesamtplanung bemüht – malte einen Fluss, der sich vom Park bis zum Wald durch die ganze Landschaft schlängelt. Ein Schüler, der in den Stunden zuvor das Blumencafe erstellte, wollte seine eigene Fabrik in der Landschaft verorten. Dabei wurde er von dem Schüler, der die Parkanlage konzipierte, „korrigiert“ – woraufhin sich der Künstler des Blumencafes dann ganz zurückzog. Ganz ähnlich Prozesse bestimmen ja auch das übrige Unterrichtsgeschehen. Die Beobachtung war für mich hilfreich, weil ich daraus auch weitere Schlüsse für die Arbeit innerhalb der Gesamtgruppe und die Binnendifferenzierung ziehen kann. Besondere Bedeutung erhielten die Darstellungen eines Kamels und eines Wolfes: „F. ist das Kamel – das ist das Kamel von F.“ , „B. ist der Wolf – oder ist das der Wolf von B.?“ Es gab viel Gelächter, wobei es auch um die Frage der jeweiligen Position innerhalb der Klasse ging. – Insgesamt ist eine vielfältige Landschaft entstanden, die sowohl einige Elemente aus der alten Heimat als auch viele Elemente aus der „neuen Welt“ enthält – sogar unsere Schule wurde – mit Namen! –auf dem Bild dargestellt. Bemerkenswert finde ich auch, dass es keine „offene “Landschaft geworden ist. Die Straßen beginnen und enden innerhalb des Objekts – kein Weg führt hinaus – vielleicht das Bedürfnis nach geschütztem Raum - wie er ja durch diese besondere Art der Klasse momentan noch gegeben ist?

Am darauffolgenden Tag führten wir eine gemeinsame Bildbetrachtung durch – die Schülerinnen und Schüler beschrieben mit eigenen, ihnen zur Verfügung stehenden Worten die Landschaft. Sie erklärten unserem arabisch sprechenden Lehrer, der in dieser Stunde anwesend war, den Entstehungsprozess des Gemäldes, gaben Auskunft darüber , wer jeweils welchen Baum und Landschaftsteil gemalt hat, was sie sich dabei gedacht haben. Auch Gefühle können jetzt schon ganz gut sprachlich ausgedrückt werden. Es sind deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Als krönenden Abschluss haben wir dem Lehrer unseren RAP „Gute Welt, schlechte Welt“ vorgesungen.



Überlegungen aus pädagogischer und kunsttherapeutischer Sicht

Mit fiel auf, dass die Schüler mit großer Konzentration, ich möchte fast sagen „Hingabe“, an ihren Häu-sern, Landschaften und Gärten gearbeitet haben. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie durch diese Arbeit ein Stück weit zu sich selber finden. In den begleitenden Gesprächen war es möglich, über Vorlieben, Interessen, Vorstellungen von Schönheit und Zukunftsplänen zu sprechen. Aus kunsttherapeutischer Sicht symbolisiert „das Haus“ sowohl Geborgenheit als auch Gestaltungswillen hinsichtlich eines „Sich-Einrichtens“. Das stimmt mit meinen Beobachtungen überein. Einerseits haben die Schüler an Bekanntem, Vertrautem angedockt, darüber hinaus aber Neues gestaltet, das auf die Zukunft verweist. Das entspricht in etwa auch der Grundstimmung in der Klasse. Man kann von einem „Angekommen Sein“ sprechen und mehr oder weniger starken Impulsen, gestalterisch mit den Herausforderungen der Zukunft umzugehen. Vieles in diesen Kunststunden entsteht aus dem Bereich des Unbewussten und wird durch die Gestaltung sichtbar. Kleine Beete werden umzäunt, die aufkeimenden Pflänzchen sind schutzbedürftig, sie wollen gehegt und gepflegt sein. Das Brückengeländer ist mit einem gefälligen Ornament verziert – das Schöne darf nicht verloren gehen, es gehört unbedingt dazu. Die Darstellung der bitteren Erfahrungen aus „der schlechten Welt“ setzen zugleich Gedanken an die Möglichkei-ten einer guten Welt frei.

Auswirkungen auf den übrigen Unterricht

Wir versuchen immer, an den darauffolgendenen Tagen im Sprachunterricht direkt am Kunstunterricht anzuknüpfen:

  • Beschreibung der einzelnen Kunstwerke (hier vor allem Wiederholung bekannter Wörter, Mobilisierung der aktiven Sprachkompetenz)
  • Gemeinsames Verfassen der Geschichte zum Kunstwerk „die gute und die schlechte Welt“ (siehe oben).

Der Satzbau entspricht in etwa dem jetzigen Stand des Sprachvermögens. Bekannte Vokabeln werden eingesetzt und neue erarbeitet. Dabei inhaltliche Vertiefung auf der semantischen Ebene, verbunden mit der Erarbeitung neuer Vokabeln, die für die Geschichte und das Leben der Schüler bedeutungsrelevant sind:

Neue Verben in diesem Fall: „Sich lieben“, „ sich selbst lieben, sich gegenseitig lieben“, „sich entscheiden“. Neue Nomen: Die Mauer, die Mauern - das Gefängnis, die Gefängnisse – der Gefangene, die Gefangenen – die Welt, die Welten (auch metaphorische Bedeutung) – die Freiheit, die Freiheiten (frei sein). Hierbei wurde ein weiteres Kunstwerk mit einbezogen, welches in der Stunde zuvor entstand.

  • Weitere Wortschatzerweiterung zu den Feldern „Material und Werkzeug“ (Auflistung anhand der oben genannten Begriffe, Zuordnungsübung zu den Oberbegriffen „Material“ und „Werkzeug“.

Über die konkreten offensichtlichen Auswirkungen dieser Unterrichtsstunden auf den Sprachunterricht hinaus sind diese Stunden wertvoll hinsichtlich der Identitätsarbeit. Die Grundfragen werden berührt: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was gehört zu mir? Wem bin ich zugewandt? Mit wem kann ich Freude teilen? Was steckt in mir? Welche Schlüsse ziehe ich aus meinen Erfahrungen? In begleitenden Gesprächen mit Lehrern, Anleitern und Mitschülern findet ein zwangloser Austausch in entspannter Atmosphäre über „kleine Dinge“ und wichtige Lebensfragen zugleich statt – der Prozess des Entstehens ist dabei genauso wichtig wie das Ergebnis, auf das die Schüler meistens mächtig stolz sind.

Das Angebot, sich mit Identitätsfragen nicht nur auf der kognitiven Ebene zu beschäftigen, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Es ermöglicht eine für das Individuum notwendige „Integration“, die des eigenen „Selbst“ in Beziehung zum Anderen und der neuen Umgebung. Der Kunstunterricht trägt dazu bei, den Boden zu bereiten, das Feld zu bestellen und sich in der neuen Landschaft verorten zu können.

Einige Gedanken zum Kreativprojekt aus pädagogischer Sicht

„Es reicht schon zu leben, um vollkommen zu sein“ (Fernando Pessoa)

Wie dieser Bericht zeigt, hat sich das Kreativprojekt im Rahmen unserer pädagogischen Arbeit in der Klasse bisher als äußerst produktiv erwiesen. Die Schülerinnen und Schüler freuen sich auf diese Stunden und sind jeweils konzentriert bei der Sache. Sie haben hier die Gelegenheit, zu sich selbst zu kommen – sie können jenseits des überaus anstrengenden Sprachbads in einer entspannten Atmosphäre einer kontemplativen und doch zugleich anspruchsvollen Tätigkeit nachgehen, bei der ihre Gefühle, Stimmungen, Fantasien, Wünsche, Hoffnungen mit künstlerischen Mitteln Gestalt annehmen können. Sie fühlen sich dabei von den begleitenden Erwachsenen angenommen und beschützt. Auch wenn wir uns davor hüten, diese Arbeit für die Erweiterung der Sprachkompetenz zu instrumentalisieren, so ist sie doch dieser Erweiterung dienlich. Vieles kann hier gezeigt werden, wofür es keinen – oder noch keinen - sprachlichen Ausdruck gibt. Zunehmend können Schüler aber auch anhand ihrer eigenen Kunstwerke einen sprachlichen Ausdruck für Gefühle, Empfindungen, Ideen, Formen und Farben finden, was sie wiederum für sich selbst als Erfolg in Besitz nehmen können. Die Atmosphäre in diesen Kunststunden habe ich stets als heilsam empfunden - und zwar für alle Beteiligten. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch…“ diese Worte Hölderlins kommen mir in den Sinn, verbunden mit der Hoffnung, dass wir diese Arbeit fortsetzen können. 

Die Zusammenarbeit zwischen Kunsttherapeuten und Pädagogen hat sich als fruchtbar und hilfreich erwiesen. Aus kunststherapeutischer Sicht erfolgt die Themenwahl vor allem unter Berücksichtigung der Verletzlichkeit der Jugendlichen.Es wird an positiven Vorstellungen angesetzt, die wohltuende Gedanken und Ideen freisetzen; es gibt vielfältige Wahlmöglichkeiten; es herrschen weder Zwang noch Leistungsdruck; man muss nicht mit Material arbeiten, welches als unangenehm empfunden wird; man kann nichts falsch machen – im Gegenteil: man ist in jedem Falle „richtig“; man kann um Rat fragen; man wird nicht be- und schon gar nicht verurteilt oder verlacht; wechselseitig wird Respekt gezollt; Arbeiten werden gewürdigt; Freude wird geteilt; jeder hat das Recht, über sein Produkt zu bestimmen; Teilnahme am Projekt steht jedem frei (wer stattdessen etwas anderes lernen möchte, kann dies tun – davon machen gelegentlich auch Schüler Gebrauch); keiner wird fürsorglich belagert oder paternalistisch bevormundet; Gesprächsmöglichkeiten werden angeboten, aber nicht aufgezwungen; jeder Mensch ist ein Künstler, keiner ist darin besser oder schlechter als ein anderer – es reicht, einfach zu sein.