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Die Entdeckung der Kindheit

Die mehrfache Entdeckung der Kindheit

Bernd Hainmüller

Eine grundlegende Erkenntnis, die wir Philippe Aries[1] und seiner bahnbrechenden Arbeit über die »Geschichte der Kindheit« verdanken, lautet: Das, was wir heute Kindheit nennen, hat es nicht immer gegeben. Natürlich hat es immer Kinder gegeben, im Mittelalter wie in der Antike und zu allen Zeiten. Aber eine ganz andere Frage ist, ob die Menschen früherer Zeiten die Phase des Kindseins in gleicher Weise erlebt und erfahren haben wie wir heute. Nach unserem Verständnis wird Kindheit "als besonderer sozialer Status wahrge­nommen und als Freiraum begriffen «[2] , ein Freiraum, den eine Gesellschaft ihren körperlich, geistig und seelisch noch nicht voll entwickelten Indivi­duen gewährt und in dem sie spielend und lernend Erfahrungen sammeln sollen und können mit dem Ziel, später eine eigenständige Rolle im jeweiligen sozialen Bezugsrahmen wahrzunehmen. Dieser Freiraum wird geschaffen, er wird institutionell organisiert (beispielsweise durch Kindergarten und Schule), und er wird mit bestimmten Schutzmaßnahmen abgesichert (etwa mit Hilfe des Jugendschutzgesetzes). Aber dieses Verständnis von Kindheit ist historisch betrachtet noch recht jung. Erst seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Betrachtungsweise und diese Einschätzung kindlicher Existenz angebahnt, und etwa ab dieser Zeit spricht man von der "Entdeckung der Kindheit". Genau genommen müßte man allerdings von einer Wiederent­deckung« sprechen, denn die Kindheit wurde mehrfach entdeckt im Laufe der Geschichte. Schon für die Zeit des Hellenismus hat man von einer Entdeckung der Kindheit" gesprochen.[3] Als Indiz dieser Entdeckung gilt die deutliche Zunahme von bildlichen Darstellungen von Kindern im Hellenismus und besonders von individuellen Kinderbildern in der römischen Kaiserzeit. [4] In der klassischen Zeit waren Kinder nichts anderes als kleine und unfertige Erwachsene, die, eben weil sie noch keine "fertigen Erwachsenen" waren, mit strengen Erziehungsmaßnahmen zurechtgebogen werden mussten. Beliebte Bilder hierfür waren das Zurechtbiegen und Beschneiden junger Bäume, denen man auf diese Weise die rechte Form gibt, das Zähmen und Dressieren von Tieren oder das Einprägen eines Siegels in Wachs:

Platon, Protagoras 325d: Wenn der Knabe gutwillig gehorcht, gut, wo nicht, suchen sie ihn wie ein Holz, das sich geworfen und verbogen hat, wieder gerade machen durch Drohungen und Schläge«. [5]

Plutarch, Lib Educ 2 F: Sind nicht die Pferde, die als Füllen gut zugeritten worden sind, ihrem Reiter gehorsam und die nie gezähmten störrisch und hartmäulig. [...] Der Charakter ist nichts als ein Ergebnis der Gewohnheit."[6]

Plutarch, Lib Educ 3 EF: Sowie man den Gliedern der Kinder gleich nach der Geburt die gehörige Richtung gibt, damit sie gleichmäßig gerade wachsen, so muss man von Anfang an den Charakter der Kinder bilden. Kinderseelen sind wie Wachs, man kann Lehren wie ein Siegel in sie eindrücken«. [7]

Platon, Protagoras 325d: »Wenn der Knabe gutwillig gehorcht, gut, wo nicht, suchen sie ihn wie ein Holz, das sich geworfen und verbogen hat, wieder gerade machen durch Drohungen und Schläge«. [8]

Plutarch, Lib Educ 2 F: »Sind nicht die Pferde, die als Füllen gut zugeritten worden sind, ihrem Reiter gehorsam und die nie gezähmten störrisch und hartmäulig. [...] Der Charakter ist nichts als ein Ergebnis der Gewohnheit.«[9]

Plutarch, Lib Educ 3 EF: »Sowie man den Gliedern der Kinder gleich nach der Geburt die gehörige Richtung gibt, damit sie gleichmäßig gerade wachsen, so muss man von Anfang an den Charakter der Kinder bilden. Kinderseelen sind wie Wachs, man kann Lehren wie ein Siegel in sie eindrücken«.[10]

Die Kindheit ist in dieser Perspektive keine eigenständige Lebensphase, son­dern eine vorbereitende Zeit, in der das Kind durch Zucht und Drill auf ein bestimmtes Leitbild hin geformt werden soll. Im Hellenismus ändert sich dies in gewisser Weise. Einige Schriftsteller, unter ihnen besonders Plutarch und Quintilian, lassen einen gewissen Fortschritt im pädagogischen Denken erkennen, wobei ihre Äußerungen allerdings nicht nur ihre eigene Weiterentwicklung im pädagogischen Denken anzeigen, sondern ebenso, dass im allgemeinen die gängige Erziehungspraxis diesen Vorstellungen keineswegs entsprach, sondern sich überwiegend auf das harte Züchtigen und Zurecht­biegen beschränkte:

Plutarch, Lib Educ 8f, 9A: »Mein Standpunkt ist, dass man Kinder zum Fleiß in schönen Beschäftigungen nur durch Ermahnungen und Vernunftgründe, aber nie durch Schläge oder anderen Schimpf anhalten soll. So etwas schickt sich eher für Sklaven als für Freigeborene. Schmerz und Schimpf lähmen und schrecken von der Arbeit ab. ­Bei Freigeborenen richtet Lob und Tadel weit mehr aus als alle Mißhandlung [...].«

Quintilian, I 3,14ff.: »dass aber die Schüler beim Lernen geprügelt werden, wie sehr es auch üblich ist [...], möchte ich keineswegs, erstens weil es häßlich und sklavenmäßig ist und jedenfalls ein Unrecht [...], zweitens weil jemand, der so niedriger Gesinnung ist, dass Vorwürfe ihn nicht bessern, sich auch gegen Schläge verhärten wird [...] schließlich, weil diese Züchtigung gar nicht nötig sein wird, wenn eine ständige Aufsicht die Studien überwacht [...].«[11]

Seneca, De Clementia 1 16,3f. »Wird der nicht als der schlechteste Vater erscheinen, der die Kinder mit ständigen Schlägen auch aus den geringfügigsten Gründen züchtigt [...]? Ist es etwa billig, dass über einen Menschen drückender und härter geherrscht wird, als man stummen Tieren befiehlt?«.[12]

Neben solchen Äußerungen tritt in hellenistischer Zeit auf Kinderbildern deren Individualität deutlicher hervor. Kinder werden zunehmend in ihren tatsächlichen Proportionen dargestellt und nicht mehr, wie in der klassischen Zeit, als verkleinerte Erwachsene. Diese genauere Darstellung zeigt allerdings immer wieder auch die tatsächlichen Lebensbedingungen von Kindern. Für die meisten Kinder war schulische Bildung gar nicht erreichbar, und wenn, dann war es eine harte Schule. Für die meisten anderen war der Alltag eher in einer Weise prägend, wie dies aus dem Bild eines Sklavenjungen aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert hervorgeht:[13]

Der Junge steht mit hängenden Armen (der rechte Vorderarm und beide Unterschenkel sind verloren), der Kopf ist zur Seite hin leicht erhoben, der ausdrucksstarke Blick galt, wie angenommen werden darf, der Gestalt des verstorbenen Herrn (sie ist nicht erhalten)«. Der Junge wird von dem hellenistischen Bildhauer deutlich als Sklave von niederer Herkunft gekennzeichnet. Der Körper steckt in einem kurzen Kittel aus grobem Tuch. Auf muskulösem Hals sitzt ein breiter Schädel mit vortretenden Backenknochen, das kurzgehaltene Haar lässt übergroße Ohrmuscheln frei. [...] Von einem Leben in schwerer Arbeit sprechen das müde Vorhängen der Schulter und die unkindlich derben Arme. Doch ließ es der Bildhauer nicht bewenden bei der äußeren Kennzeichnung des jungen Sklaven. In den Gesichtszügen spiegelt sich die seelische Not des Pais, der seinen geliebten Herrn verloren hat. Hoffnungslosigkeit, das Wissen um die Bitternisse des Lebens prägen das vorzeitig gealterte Kindergesicht«.[14]

In den sogenannten Zenonpapyri aus der Mitte des dritten Jahrhunderts ist ein im Sklavenhandel durchaus üblicher Ausweis« erhalten, der von einem kleinen Sklaven namens Okaimos handelt: Etwa sieben Jahre, rundes Gesicht, leicht gestülpte Nase, rotes, strähniges Haar, Schramme an der Stirn, über der rechten Braue, beschnitten. Für viele Kinder war Sklavenarbeit alltägliche Realität, zum Beispiel auch für das Mädchen, von dem wir eine bezaubernde Plastik überliefert haben:[15] Ein kleines Mädchen, das, offenbar erschöpft, im Knien eingeschlafen ist, den Kopf auf die Knie gelegt. Aber das Mädchen ist nicht vom Spiel müde, wie wir erwarten, sondern von der Arbeit; es verkauft Girlanden, die im festfreudigen Alexandria zu vielen Gelegenheiten Verwendung fanden. Die Kleine scheint darin gewöhnt, zusammengekauert am Straßenrand ihre Ruhepause zu halten, so wie andere uns von Darstellungen bekannte Straßenverkäufer".[16]

Lebensumstände dieser Art waren für viele Kinder in der Antike alltägliche Realität. Es gibt in der Antike zwar durchaus Zeugnisse der Liebe von Eltern zu ihren Kindern. Es kam auch vor, dass man sich ein Kind im Haus hielt, ein Sklaven oder ein Findelkind, das man vergötterte und dessen kindliche Unartigkeiten man für eine gewisse Zeit übersah. Eroten nannte man diese Kinder, die viele Jahrhunderte später als die Putten wieder auftauchen. Aber diese Sitte blieb unverbindlich. Man konnte unbefangen sein Entzücken an diesem Kind zeigen, gleichzeitig aber den eigenen Sohn, der in die Rolle des künftigen Hausherrn hineinzuwachsen hatte, oder die unfreien Kinder im Haus, die arbeiten mussten, hart anfassen.

Die sogenannte "Entdeckung des Kindes" ist deshalb an den Dokumenten zwar durchaus nachweisbar. Die zunehmende Individualität in der Darstellung von Kindern ist aber kaum verbunden mit einer wachsenden Einsicht von der Kindheit als eigenständiger und wichtiger Lebensphase. Und selbst die ansatzweise Einsicht in eine so verstandene Kindheit geht dann offensichtlich mit dem Ende der römischen Zeit wieder verloren.

Kinder als "kleine Erwachsene"

Aus diesem Grund kann man in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit wiederum von einer »Entdeckung der Kindheit« sprechen. Auch hier ist die Einschätzung von Kindern an Bildern abzulesen. Häufig sind auf mittelalterlichen Darstellungen die Kinder von den Erwachsenen nicht zu unterscheiden, außer durch die Größe.

In der Vorhalle des Freiburger Münsters steht die "Grammatik" als eine der "Sieben Freien Künste". Ein fleißiger und ein fauler Schüler sitzen ihr zu Füßen. Der Faule hat sich schon mal ausgezogen, um die Rute in der Hand der Grammatik zu empfangen (Weil er nicht gut genug Grammatik gelernt hat?).

Die "Grammatik" mit der RuteAbb. 1: Die "Grammatik" mit der Rute; wer sie fleißig lernt (links unten), dem passiert nichts; wer sie nicht lernt, bekommt sie nackt zu spüren

Im Ausdruck und in den übrigen Merkmalen, etwa der Darstellung der Körperhaltung oder der Muskulatur, unterscheiden sie sich nicht wesentlich von erwachsenen Menschen. Die Wahrnehmung von Kindern in ihrer körperlichen Eigenständigkeit beginnt - kunstgeschichtlich gesehen - im 13. Jahrhundert, und ab dem 17. Jahrhundert tritt sie signifikant hervor. Aber noch bis ins 19. Jahrhundert lässt sich die Vorstellung von Kindern als kleinen Erwachsenen auf Bildern ablesen, wie beispielsweise Darstellungen der Lebensalter aus dem 19. Jahrhundert zeigen.

Die Wahrnehmung des kindlichen Körpers ist aber Ausdruck einer grundlegenden Veränderung im Verständnis der Kinder. Philippe Aries schreibt in seiner »Geschichte der Kindheit«:

»Die mittelalterliche Zivilisation hatte die paideia der Alten vergessen und wußte noch nicht von der Erziehung der Modernen. Dies ist das wesentliche Faktum: sie hatte keine Vorstellung von Erziehung.[17] Die einsetzende Erkenntnis, dass die Kindheit als eigenständiger Lebensabschnitt anzusehen sei, der eigenen, in der Natur des Menschen, ange­legten Entwicklungsgesetzen folge, wird üblicherweise mit Rousseaus Erziehungsroman »Emile« aus dem Jahr 1762 verbunden. Im Hintergrund aber steht ein über einen langen Zeitraum sich hinziehender Wandel in der Familie, der einhergeht mit der aufkommenden Schulpflicht.«[18]

Die Familie war im Mittelalter eine Zweckgemeinschaft, deren Zweck in der Sicherung des Überlebens für alle Familienmitglieder bestand. Für das Funktionieren dieser Zweckgemeinschaft war die gefühlsmäßige Verbundenheit hilfreich, aber nicht wesentlich erforderlich. Mit der sich herausbildenden beruflichen Spezialisierung, der Arbeitsteilung, der Entstehung der Städte und des Bürgertums wandelt sich aber die Familie und mit ihr die Kinder. Dieser Zusammenhang ist wichtig: Die Entstehung dessen, was wir als Kindheit bezeichnen, ist kein isoliertes Phänomen, das nur die an Lebensjahren noch jungen Menschen betrifft. Die Entstehung der Kindheit im modernden Sinn ist ein Teil der Entwicklung der modernen Gesellschaften überhaupt. Nicht nur die Kinder wandeln sich, sondern alle Mitglieder der Familie mit ihren jeweiligen Aufgaben.

Während Kinder bis weit in das Mittelalter hinein sich, sobald sie körperlich dazu in der Lage waren, unter die Erwachsenen mischten und die notwendigen Fertigkeiten durch den alltäglichen Kontakt mit ihnen lernten, wird nun zunehmend die Schule zu dem Ort, in dem man die notwendigen Dinge, wie zum Beispiel Lesen und Schreiben, lernen muss. Für die Eltern bedeutet dies umgekehrt, dass sie einen nicht unwesentlichen Teil der Erziehungsaufgabe zunehmend an die Institution Schule abtreten. Und dass die Kinder dort nach und nach Dinge lernen, die sie von ihren Eltern nicht mehr lernen können. Aus diesem Grund bezeichnet Neil Postman die Erfindung der Druckerpresse zugleich als die Geburtsstunde der Kindheit.

»Indem die Druckerpresse eine neue Symbolwelt schuf, aus der die Kinder ausgeschlossen waren, musste eine andere Welt entworfen werden, die sie bewohnen konnten. Diese andere Welt nannte man Kindheit«[16]. Und: Wo die Lese- und Schreibfähigkeit allgemein hoch im Kurs stand, gab es Schulen, und wo es Schulen gab, da entfaltete sich die Vorstellung von der Kindheit sehr rasch«. Hatte man zuvor das Kind als kleinen Erwachsenen angesehen, so erkannte man nun wieder im Kind den ungeformten Menschen, und das schulische Lernen wird zunehmend zum Wesensmerkmal der Kindheit.[17] Der Junge wird zum »Schuljungen", später kommt das Schulmädchen hinzu, und Lernen wird zur zentralen Beschreibung dessen, was ein Kind tun soll: »Also lautet der Beschluß, dass der Mensch was lernen muss“.[18] Andererseits sollten Lehrer aber nicht folgendes vergessen: »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.« (Janusz Korczak)[19]


Anmerkungen

[1] Geschichte der Kindheit, München,1982
[2] Flitner, Andreas, Artikel Kindheit, in: Hanns Eyferth/ Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch (Hrsg.), Handbuch zur Sozialarbeit / Sozialpädagogik, Neuwied/Darmstadt 1984, S. 624.
[3] z. B. Overbeck, J., Die Entdeckung des Kindes im 1. Jahrhundert nach Christus, o. O. 1924, S.128.
[4] Rühfel, Hildegard, Das Kind in der griechischen Kunst. Von der minoisch­- mykenischen Zeit bis zum Hellenismus (Kulturgeschichte der antiken Welt 19), Mainz 1984, S. 287ff.
[5] Zitiert nach Platon. Werke in acht Bänden, Band 1, Darmstadt 1990.
[6] Zitiert nach Plutarch, Über Kindererziehung, in ders., Von der Ruhe des Gemüts und andere philosophische Schriften, Zürich 1948.
[7] ebenda
[8] Zitiert nach Quintilian, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Erster Teil (Texte zur Forschung, Band 2), Darmstadt 1995
[9] Zitiert nach Seneca De Clementia. Über die Güte. Lateinisch und deutsch(Reclam?UB8385), Stuttgart 1970.
[10] Vgl. die Abbildung bei Rühfel, Kind, Abb.24b.
[11] Rühfel, Kind, S. 268-270.
[12] Zitiert nach Rühfel, Kind, S. 270.
[13] Kindliche Girlandenverkäuferin; Terrakotta, aus Alexandria; frühhellenistisch; Abbildung bei Rühfel, Kind, S. 271.
[14] Aries, Geschichte der Kindheit, S. 108.
[15] Aries, Geschichte der Kindheit, S. 47f
[16] Postman, Neil, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt 1983, S. 31, 51, 53.
[17] Aries, Geschichte der Kindheit, S. 559
[18] Wilhelm Busch Album. Ein heiteres Hausbuch, hrsg. von C. Elwenspock, München o. J., S. 21.
[19] In: Erich Renner (Hrsg.), Kinderwelten. Pädagogische, ethnologische und literaturwissenschaftliche Annäherungen, Weinheim 1995, S. 15