StartseitePublikationenBernd HainmüllerDie Appeasement-Politik Englands 1936 - falsche Signale mit bösen Folgen

Die Appeasement-Politik Englands 1936 - falsche Signale mit bösen Folgen

"Appeasement" führte zum Krieg

Bernd Hainmüller

Stellen wir uns einen Moment vor, das „Engländerunglück“ am 17. April 1936 hätte sich am 17. April 2021 am Schauinsland ereignet. Hätte ein englischer Lehrer dann auch nur den Hauch einer Chance gehabt, einem Ermittlungsverfahren der deutschen und englischen Staatsanwaltschaft zu entgehen? Wäre er heute - so wie es tatsächlich 1936 geschah – als Held gefeiert worden, obwohl er fünf seiner Schüler aufgrund seines unverantwortlichen Handelns ums Leben gebracht hat? Warum Lehrer Kenneth Keast nach dem Unglück seinen Aufstieg im englischen Schulwesen bis hin zur Leitung einer berühmten Privatschule fortsetzen konnte, ist eine der noch offenen Fragestellungen in der Recherche des Unglücks. Wer hat in England seine „schützende“ Hand über ihn gehalten, indem die Tatsachen verdreht, die Aussagen der überlebenden Schüler nicht angehört und Dokumente der Freiburger Staatsanwaltschaft unterschlagen wurden? Unter »normalen« Umständen hätte es auch 1936 keine solche folgenschwere Verschleppung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Lehrer gegeben. Aber die Umstände waren 1936 »nicht normal« und haben dazu beigetragen, dass Ende 1936 sowohl auf der englischen als auch auf der deutschen Seite der ge-samte Vorgang zu den Akten gelegt wurde, ohne strafrechtliche Konsequenzen für den Lehrer.

Hitlers Beschwichtigungspolitik war eine politische Falle

Rückt man das Unglück in den Kontext der deutsch-britischen Außenpolitik damals, wird schnell deutlich, warum dies überhaupt möglich war. Im nationalsozialistischen Deutschland ab 1933 stellte Hitler in seiner ersten großen außenpolitischen Rede vor dem Reichstag am 17. Mai 1933 den Nationalsozialismus als eine Bewegung dar, die einzig dem Frieden verpflichtet sei. Man wolle die bestehenden Verträge achten und nur auf dem Verhandlungsweg eine Revision des Versailler Vertrages anstreben. Deutschland, so Hitler, müsse überall da eine politische Stütze suchen, wo sie sich fände. Als eine der wesentlichsten Stützen des »neuen Deutschlands« sah man außenpolitisch das britische Königreich an. Dieses reagierte auf die »Friedensinitiativen« Hitlers mit der sog. »Appeasement-Politik«, einer Beschwichtigungspolitik gegenüber den Nationalsozialisten, die Zugeständnisse, Zurückhaltung und Entgegenkommen gegenüber Aggressionen zur Vermeidung eines Krieges mit Deutschland vorsah. Aber was hatte dieses außenpolitische Konstrukt mit dem Schauinsland-Unglück zu tun?
Fünf Wochen vor dem Unglück, am 7. März 1936, überquerten insgesamt 30.000 Soldaten der Wehrmacht die Rheinbrücken und begannen damit den deutschen Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland. Mit der Besetzung der 50 Kilometer breiten Zone brach das Deutsche Reich sowohl den Versailler Vertrag von 1919 als auch den Locarno-Pakt aus dem Jahr 1925. Adolf Hitler rechtfertigte den Vertragsbruch mit dem Verweis auf das deutsche „Selbstbestimmungsrecht“. Dabei war die Besetzung äußerst riskant: Eine militärische Gegenaktion der damals überlegenen Westmächte England und Frankreich hätte die deutschen Truppen sofort zum Rückzug gezwungen. Beide begnügten sich aber mit harscher verbaler Kritik und einer Verurteilung Deutschlands vor dem Völkerbundsrat. Nicht zum letzten Male hatte Hitler mit seiner Politik der Ausnutzung von Differenzen unter den Westmächten, der Kombination aus friedliebender Rhetorik und aggressiven Maßnahmen, Erfolg gehabt. Der Einmarsch im Rheinland war ein enormer Prestigegewinn für Hitler und bestärkte ihn in der Annahme, die Staaten Europas würden seine Expansionspolitik zumindest tolerieren.

Die englische Außenpolitik glaubt: "Mit Hitler reden" hilft vor einem Krieg. 

In England führte er dazu, dass die bereits existierenden pro-nationalsozialistischen Kreise der englischen Oberschicht ihre Bemühungen verstärken konnten, Freundschaft mit Hitler zu fordern und auch zu vollziehen. In zwei Untersuchungen jüngeren Datums kann man detailgetreu nachvollziehen, was Repräsentanten des englischen Hochadels, Teile des britischen Ober- und Unterhauses, Vertreter der britischen Wirtschaft oder den größten Zeitungsverleger Englands, 1. Viscount Rothermere, dazu antrieb, Gespräche auf dem Obersalzberg oder in Berlin mit Hitler und seinen Gesinnungsgenossen zu suchen. Berühmtheit erlangte Harold Sidney Harmsworth (1. Viscount Rothermere ) als Eigentümer zahlreicher bedeutender britischer Tages- und Wochenzeitungen wie der Daily Mail und des Daily Mirror, die er in dem Konzern Associated Newspapers zusammenschloss. Harold Harmsworth gilt neben seinem Bruder Alfred Harmsworth, (1. Viscount Northcliffe) sowie dem Kanadier Max Aitken, (1. Baron Beaverbrook), als der bedeutendste britische Zeitungseigentümer des 20. Jahrhunderts und als Pionier eines volkstümlichen Journalismus, der sich im Gegensatz zu den auf ein eher elitäres Publikum ausgerichteten traditionellen Nachrichtenorganen an die breite Masse wendete.  In den 1930er Jahren unterstützte Harold Harmsworth nachdrücklich die Appeasement-Politik der britischen Regierungen Baldwin und Chamberlain, in deren Sinne er auch seine Zeitungen ausrichtete. Er traf sich in dieser Zeit mehrfach mit Hitler, dem er "Willen zum Frieden" bescheinigte. 1934 unterstützten die Rothermere-Zeitungen sogar zeitweise die von Oswald Mosley geführte britische faschistische Partei, die British Union of Fascists. Wie sich aus geheimen Regierungsunterlagen ergibt, die erst 2005 veröffentlicht wurden, gingen seine Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus so weit, dass er Hitler 1938 anlässlich des Einmarsches deutscher Truppen in das Sudetenland ein Glückwunschtelegramm sandte.. Es wurde sogar erwogen, ob man Hitler nicht zu einem Staatsbesuch nach England einladen könne. Auch das englische Könighaus hegte große Sympathien mit dem Nationalsozialismus. Der „Prince of Wales“ (ab dem 30. Januar 1936 König Edward VIII.) hatte schon 1933 deutlich gemacht, dass es nicht Sache Großbritanniens sei, sich „in die inneren Angelegenheiten Deutschlands einzumischen, weder in Bezug auf die Juden noch in Bezug auf alles andere“. Im Oktober 1935 hatte sich die Organisation „Anglo-German Fellowship (AGF)“ neu gegründet, nachdem sich die Vorgängerorganisation, die „Anglo-German Association“ nach einer Auseinandersetzung über jüdische Mitgliedschaften 1934 aufgelöst hatte. Zur Zeit des Engländerunglücks zählte die AGF 24 Lords, 17 Abgeordnete von Unter- und Oberhaus zu ihren Mitgliedern, sowie zahlreiche Bankiers, Geschäftsleute, Generäle, Admiräle und Firmenvertreter von großen Konzernen wie Thomas Cook, Dunlop Rubber, Price Waterhouse und Unilever. Ziel der AGF war es, die deutsch-britischen Annäherungen zu fördern. Winston Churchill war einer der wenigen Politiker Großbritanniens, der ständig vor dem „Bund mit dem Teufel“ warnte. Dennoch geriet die Instrumentalisierung des „Engländerunglück“ zu einem willkommenen Paradebeispiel deutsch-britischer „Appeasement-Politik“. Dies kann man an einem kleinen Beispiel veranschaulichen.

Parade auf der Prachtstrasse "The Mall" in London mit Heil Hitler-Gruß und Hakenkreuz

Eine Woche vor dem Unglück war in London am 10. April 1936 der deutsche Botschafter in London, Leopold von Hoesch, überraschend gestorben. Von Hoesch entstammte der deutschen Industriellenfamilie Hoesch und war Sohn des 1912 in den erblichen Adelsstand erhobenen Industriellen Hugo von Hoesch (1850–1916). Er galt unter den deutschen Botschaftern des Nazi-Regimes als der fähigste Diplomat, von dem der englische König Eduard VIII. meinte, er sei ein guter diplomatischen Vertre-ter des deutschen Reiches, aber ein schlechter des ›Dritten Reiches‹ gewesen. Zu den persönlichen Gegnern des Botschafters zählte Joachim von Ribbentrop – der später als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg hingerichtete Außenminister Hitlers. Kurz nach dem Tod des Botschafters kursierten in der britischen Presse Theorien über einen angeblichen Selbstmord oder über eine Ermordung des Botschafters durch die Geheime Staatspolizei. Im Sinne ihrer „Beschwichtigungspolitik“ erlaubte die britische Regierung einen pompösen Trauerzug über die Paradestrasse der Monarchie »The Mall« mit den königlich-britischen Horse and Foot Guards und unter Beteiligung Hunderter Zuschauer, die ihre Hand zum Hitlergruß erhoben. Der Sarg wurde auf dem britischen Zerstörer »Scout« von Dover nach Wilhelmshaven gebracht. Die »Scout« war das erste britische Kriegsschiff, das seit dem Ende des 1. Weltkriegs einen deutschen Hafen anlief. Von Wilhelmshaven ging es zur Beisetzung nach Dresden. Am 18. April 1936, dem Samstagmorgen, als das »Engländerunglück am Schauinsland« in den Nachrichten die Runde machte, trafen sich in Dresden fast alle Nazigrößen, darunter auch Baldur von Schirach als Reichsführer der Hitlerjugend, mit dem englischen Botschafter Sir Eric Phipps. Was lag näher, um sich als »Dankeschön« für den grandiosen Auftritt der Nationalsozialisten im Herzen des britischen Empire mit einer Totenwache der Hitlerjugend in Freiburg für die verunglückten angeblichen englischen »Kameraden « zu revanchieren? Was mit dieser Totenwache begann, führte am Ende dazu, dass der Lehrer Kenneth Keast den Schauplatz Schauinsland verlassen konnte, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nur als der Lehrer an Weihnachten 1936 erneut mit einer Schülergruppe zum Skifahren nach Tirol über deutsches Reichsgebiet fahren wollte, verbot die Londoner Schulbehörde im Einvernehmen zwischen dem Foreign Office und dem Reichsjustizministerium in Berlin dem Lehrer, außerunterrichtliche Veranstaltungen in England oder im Ausland durchzuführen. Diese Reise mit Schülern hätte für ihn eventuell dazu geführt, in Deutschland wegen der fahrlässigen Tötung von fünf Schutzbefohlenen vor Gericht zu landen. Diesen Grund hat man ihm aber verschwiegen.

Drei Jahre später müssen die überlebenden britischen Schüler für die Appeasement-Politik bezahlen

Legt man hinter das Geschehen am Schauinsland 1936 die historische Folie des Verlaufs der Beziehungen zwischen Deutschland und England vor und nach dem Unglück, lässt sich ermessen, welche verhängnisvolle Fehleinschätzung die englische Appeasement-Politik darstellte und damit auch die Einschätzung des britischen Außenministers Anthony Eden, das Unglück sei »ohne Belang« und die Nachverfolgung der Fehler des Lehrers unnötig. Kaum drei Jahre später waren die meisten überlebenden Schüler im wehrfähigen Alter und mussten gegen Nazi-Deutschland kämpfen. Maurice ›Boy‹ Harrison, »Lance Sergeant« im Ersten Bataillon der »Queen’s Westminsters« starb mit 20 Jahren am 28. März 1942 und wurde auf dem Escoublac – Kriegsgräberfriedhof in Frankreich begraben. Stanley C. Few weigerte sich, auf europäischem Boden gegen die Deutschen zu kämpfen und ließ sich bewusst in Indochina einsetzen, wo er den Krieg überlebte. Donald E. M. Hooke, ein weiterer Überlebender, kämpfte gegen die deutsche Wehrmacht in Nordafrika. Er wanderte später nach Perth, Australien, aus. Man muss davon ausgehen, dass sich die überlebenden 22 Schüler zeitlebens darüber wunderten, in welchen Propaganda-Coup sie von beiden Seiten geraten waren, ohne irgendetwas damit zu tun gehabt zu haben. Das dachte auch die Freiburger Bevölkerung bis zum 27. November 1944, als ihnen in Form des englischen Bombenangriffs „Tigerfish“ die fatalen Folgen der Appeasement-Politik buchstäblich auf ihre Köpfe fielen und das alte Freiburg unwiederbringlich zerstört wurde. Dies zum Gedenken an Fehler, die sich nie wiederholen dürfen.


Quellen: Kershaw, Ian (2005): Hitlers Freunde in England, München
               Bouverie, Tim (2021): Mit Hitler reden, Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg, Hamburg
                Zitat Hoesch: Nach https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_von_Hoesch.

Es gibt eine Wochenschau von British Pathe "News in a nutshell", der die Ankunft der überlebenden Schüler in Dover zeigt.
https://www.britishpathe.com/video/news-in-a-nutshell-78/query/black+forest Zwischentitel - 'Dover' (Kent) - M/S, Als der  Cross-Channel-Dampfer ins Dock einfährt, bringt er eine Gruppe von Schuljungen aus einem Urlaub im Schwarzwald zurück, wo fünf ihrer Zahl in einem Schneesturm starben. Verschiedene Einstellungen der Kinder beim Aussteigen. M/S, wie sie auf dem Kai stehen. M/S, während sie düster aussehend entlanggehen.
Eine weitere Wochenschau von British Pathe "News in a nutshell" zeigt die Trauerparade für Leopold von Hoesch auf the "Mall" in London und in Dover, wo sein Sarg auf den britichen Zerstörer "Scout" geladen wird. Sehr beeindruckend, vor allem wegen des Pomps, der da für die Nazis veranstaltet wird. 
'Funeral Procession Of Diplomat Leopold Von Hoesch' on the British Pathé website - https://www.britishpathe.com/video/VLVAA2OH36S2EXROIX1LKXPNKAE0E-FUNERAL-PROCESSION-OF-DIPLOMAT-LEOPOLD-VON-HOESCH/query/Leopold+von+Hoesch.