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Der Preis des Glücks und wer ihn bezahlt —

Familie in der Krise?

Bernd und Hiltrud Hainmüller

Vorbemerkung

Der Artikel stammt aus dem Jahre 1991, ist also 23 Jahre alt. Dennoch hat er unserer Meinung nach nichts von seiner Aktualität hinsichtlich des „Patienten Familie“ verloren. Der Bilderanhang soll den Gedankengang visualisieren. Die Bilder 7-10, 12, 14 und 16 sind Originalzeichnungen zwischen 1985 und 1990 von Christian Stutzki – heute ein sehr bekannter Konstrukteur (Stutzki Engineering), der in Milwaukee (USA) lebt. Die Bilder stammen aus dem Nachlass von Johanna Schulz in Denzlingen bei Freiburg.

Der Preis des Glücks und wer ihn bezahlt

Teil I: Fünf Thesen zur Krise der Familie

These I: Veränderungen in der Familie sind Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen

Folgen Sie mir für einige Minuten in die Intensivstation eines deutschen Fa-milienforschungsinstituts Ein Patient wird besichtigt: Die deutsche Familie. Soeben beginnt die Visite am Krankenbett, um das sich zahlreiche Experten versammelt haben. Der Statistiker gibt die Krankendaten bekannt: Die deutsche Familie hat im Schnitt 1, 3 Kinder. Damit hat sie deutliches Untergewicht zum Beispiel gegenüber Irland, wo es 2,5 Kinder pro Familie gibt. Der Durchschnitt drückt aber nicht die wirk-liche Situation aus: 25% der Bevölkerung sind überhaupt keine Familie: Sie leben ohne Partner und Kinder. 23 % sind ein Ehepaar, haben aber kein Kind. Somit sind rund 50% der Haushalte bereits ohne Kinder. Ehepaare mit einem Kind bilden rund 20% der Familien, 17 % haben 2 Kinder, 7% 3 Kinder und mehr (Kinderreiche), 5 % sind Familien, in denen Vater oder Mutter fehlt, und das Schlußlicht bilden 1,3 % oder 356.000 Familien, in denen noch mehrere Generationen unter einem Dach leben.[1] Die deutsche Familie leidet an personeller Auszehrung. Nicht nur das: Jede dritte Ehe in der Stadt wird inzwischen geschieden, auf dem Land jede vierte mit der Folge, daß die Zahl der "Scheidungswaisen" immer stärker anschwillt. 22 Jahre beträgt mittlerweile die Zeit, die ein Ehepaar im leeren Nest, d.h. ohne Kinder, verbringt.[2] Gerade in diesem Zeitraum trennen sich inzwischen viele Paare vom langjährigen Partner. Obwohl die frei verfügbare Zeit in den Haushalten mit Kindern beträchtlich angestiegen ist, sind (vielleicht gerade deshalb?) über die Hälfte der Mütter berufstätig, bei Müttern von Kleinkindern jede Dritte. Dennoch liegt das Netto-Haushalts-Einkommen von Ehepaaren mit drei Kindern um rund 800 DM unter dem von kinderlosen Ehepaaren. Rund eine Million v.a. jüngerer Familien sind im Schnitt mit ca. 20. 000 DM überschuldet. [3] Es stimmt etwas nicht mit der Familie, aber was?

Bevor wir uns dieser Frage widmen können, müssen wir aber zunächst eine weitergehende Frage in den Blick nehmen: In welcher Gesellschaft leben wir? Erst von hier aus können wir den Standort der heutigen Familie beurteilen. Ulrich Beck hat auf dem Soziologentag 1990 zwei grundlegende Muster unserer heutigen Gesellschaft gegenübergestellt, die er als "einfache Modernisierung" und als "reflexive Modernisierung"[4] bezeich­net. Dies klingt komplizierter, als es gemeint ist. Beck meint, daß wir in einer Gesellschaft leben, "in der auseinandergezogen wird, was bisher analytisch als zusammengehörig gedacht wurde. Die Industriegesellschaft, verstanden als lebensweltliches Modell, bei dem Geschlechtsrollen, Kleinfamilien, Klas­sen, ineinander verschachtelt sind, verabschiedet sich bei laufendem Motor, ja mehr noch: durch den laufenden Motor der Industriedynamik. Die gleiche Produktionsweise, das gleiche politische System, die gleiche Modernisie­rungsdynamik erzeugen ein anderes lebensweltliches Gesicht von Gesell­schaft: andere Netzwerke, Beziehungskreise, Konfliktlinien, politische Bündnisformen der Individuen (...) Männer sind nicht mehr unbedingt Väter, Väter nicht mehr unbedingt Alleinverdiener, Alleinverdiener oft nicht mehr Ehemänner. Während in früheren Generationen soziale Schicht, Einkom­menslage, Beruf Ehepartner und politische Einstellung meist aus einem Guß waren, zerfällt dieses biographische Paket jetzt in seine Bestandteile. Vom Einkommen etwa kann nicht mehr kurzgeschlossen werden auf Wohnort, Wohnart, Familienstand, politisches Verhalten und so weiter".[5] Fegt also die "Modernisierung der Moderne" die Familie hinweg?

Einige Soziologen wie Reimer Gronemeyer, gehen bereits soweit: "Eine Idee ist am Ende: Die Familie ist tot (...) Unter dem Dach herrschten nicht immer Frieden und Harmonie. Nun ist das Dach zerstört".[6] Den Bruch des Generationen­bündnisses, den Gronemeyer mit dem Tod der Familie koppelt, vollzie­hen psychologische, sozialpädagogische und geschichtswissenschaftliche Disziplinen so nicht nach: Offenbar ist die Lage komplizierter und Vereinfa­chungen helfen nicht. Sie sprechen von einer "Krise der Familie"[7] , dem "Balanceakt Familie"[8] oder dem "Patient Familie"[9]. Hier geht es nicht um die Beerdigung einer Leiche im Keller der bundesrepublikanischen Ge-sellschaft, sondern um Funktionsveränderungen oder- verluste der Familie. Was stimmt und was nicht ?

These 2: „Die Familie" gibt es nicht und hat es nie gegeben.

Ulrich Beck fällt das Verdienst zu.a.f einen bemerkenswerten Widerspruch aufmerksam gemacht zu haben: Es kommt auf die Perspektiv.a., unter der man das Problem betrachtet. Offenbar, stellt er fest, war zum Beispiel die Familiensoziologie in Deutschland mit der Kleinfamilie verheiratet: "Wer fragt, warum die Kleinfamilie in Deutschland so stabil ist, dem drängt sich bald die Antwort auf: -Weil die Familiensoziologie so treu nach ihr fragt".[10] Man kann auch zugespitzter sagen: Wo Wählerstimmen winken, staatliche Gelder und neue Stellen für Sozialarbeiter locken, muß die Familie immer öfter für Katastrophenszenarios herhalten. Der Verfall von Traditionen, von Sitte und Kultur, ja der ganzen abendländischen Zivilisation, wird da beschworen, sollte die Familie untergehen. Leicht gemacht wird diese ober-flächliche Betrachtungsweise durch die Tatsache, daß unser Blick auf die Familie durch die ältere Familienforschung tatsächlich getrübt wurde. Lange hat hier die These eines linearen Übergangs von der traditionellen Großfami-lie zur modernen Klein- oder Kernfamilie die Auffassung von der historischen Entwicklung der Familie geprägt.[11] Sie findet sich übrigens in fast allen Schulbüchern zum Thema Familie heute noch wider, oft mit einem bedauern-den Blick zurück in die g-ute alte Zeit der Familie. Die These: Übergang von der Groß- zur Klein-oder Kernfamilie hält aber den Ergebnissen der jüngeren historischen, sozialgeschichtlichen und vor allem demographischen Forschung nicht stand, sie muß gründlich revidiert werden. Die Forschungen von Imhof, Mitterauer, Knodel oder der Bielefelder Forschungsgruppe legen zwei Ver­mutungen zugrunde:

  1. Wesen und Wandel des Familienlebens waren wesentlich komplexer, als wir es bisher angenommen haben: von "der vorindustriellen" oder gar "der modernen Familie" kann man nicht sprechen;
  2. Die Vorstellung, daß es sich bei der gegenwärtig diskutierten "Krise" oder dem "Tod" der Familie um einmaliges historisches Ereignis han­delt, an dessen Ende die Familie in einem schwarzen Loch verschwindet, ist falsch.

Richtiger wäre zu sagen: Jede Generation beschwört ihre eigene "Familienkrise" herauf, nicht weil sie dies will, sondern weil das Zusammen-Leben von Menschen schon immer als Fieberthermometer am Puls der gesell­schaftlichen Verhältnisse herhalten mußte. Familie wird ab einem be­stinmmten Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung gleichbedeutend mit „Ehe", Versorgung" und „Erziehung der Kinder", Liebesheirat und ähnliches. Folgen sie mir deshalb in kurzen Zügen zu einem Ausflug in die Familienge­schichte, bevor wir in die Moderne zurückkehren.

These 3: Auch in der guten alte Zeit gab es Familienkrisen

Betrachten wir uns dieses Bild (1) einer sehr bekannten Familie etwas näher.

Neben der großen Kinderzahl und der unserer Vorstellung entsprechenden Komposition der Familienhierarchie fällt der Mann im Hintergrund auf, der eigentlich nicht ins Bild paßt. Und doch hat er seine Berechtigung: Der Maler deutet zumindest an, daß hier etliche Personen fehlen, die zur Hausgemein­schaft der Familie Luther gehören: Knechte und Mägde, ledige Tanten und Onkel, Vettern, Basen, Stiefsöhne und Töchter, Kinder aus erster, zweiter oder dritter Ehe und uneheliche Kinder. Das Wort "Bastard" war für sie abso­lut nicht negativ besetzt. In Bild 2 schauen wir bei einer Geburt zu und se­hen nun die ganze Hausgemeinschaft.

Nürnberger Wochenstube. Holzschnitt von A. Dürer (1471-1528) aus dem Leben der Maria. Berlin, Kupferstichkabinett. B. 80. abgedruckt in: Boesch, Hans: Kinderleben in der deutschen Vergangenheit : mit 149 Abbildungen und Beilagen nach den Originalen aus dem 15. - 18. Jahrhundert, Leipzig, 1900, (1900)

Nicht weniger als 11 Personen tragen mehr oder weniger etwas zur Geburt bei. Da ist der Hausherr ganz überflüs­sig, denn er hat genug mit der Versorgung und dem Organisieren von Nach­schub für die vielen hungrigen Mäuler zu tun. Kennzeichnend für diesen Sozialzusammenhang, den niemand Familie nennt, ist die Einheit von Produktion und Haushalt, die lohnlos mitarbeitenden Angehörigen, die keine Blutsverwandten zu sein brauchten und das im Haus lebende Gesinde. In-schriften wie: "Das Haus ist mein und doch nicht mein, wer nach mir kommt, wird's auch so sein"[12] an alten Bauernhöfen kennzeichnen den Stoßseufzer des "pater domus", der für alle verantwortlich ist. Denn diese Gemeinschaften, so stabil sie uns heute erscheinen mögen, waren mehr als instabil: Es gab kaum Hausgemeinschaften, in der nicht pro Jahr eine Person hinzukam oder ausschied, entweder durch Heirat, Wiederheirat, Wegzug oder Tod. Letzteres war das wahrscheinlichste, da das Leben durch die Trias Pest, Hunger, Krieg ständig bedroht war.[13] Pest meint dabei Pestilenz an sich, d.h. nicht nur jene große Pestepidemie zwischen 1348 und 1350, die allein in Europa nach Schätzungen 25 Millionen, d.h. ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung dahin-raffte, sondem die alltäglichen todbringenden Infektionskrankheiten wie Lepra oder das Antoniusfeuer, Pocken, Bauchtyphus und das Fleckfieber.[14] Was den Hunger betraf, muß man bedenken, daß im Schnitt jede dritte Ernte eine Mißernte war. Und von Kriegen war jene Zeit übervoll. "Mitten im Le-ben sind wir vom Tod umgeben" war das überwiegende Lebensgefühl der Menschen und nicht umsonst gibt es eine ausgeprägte Ars moriendi - die Kunst, richtig zu sterben. Pieter von der Heyden nach Pieter Breughel (letzteren sieht man gemeinhin als Maler der guten alten Zeit an), mahnt sie mit seinem Bild an.

"Magere Küche" (1563) Holzschnitt von Pieter von der Heyden nach Pieter Beughel

Man kann ermessen, daß die Haus- und Hof, die Tal- und Dorfgemeinschaften, Kloster- und Zunftgemeinschaften, Landsgemeinden und Brüderschaften nach Imhof "eine der allgemeinen Unsicherheit jeglicher Existenz angemessene Überlebenstrategie" darstellten.[15] Kinder waren in ihr geborgen, freilich nicht im Geborgenheitssinne von heute: Sie waren wichtig als potentielle Arbeitskräfte und standen als solche mit dem Gesinde auf gleicher Stufe; mit ihrem Heranwachsen konnten sie das Gesinde ersetzen: "Ein fruchtbar Weib bringt dir vil kind, darum wirt gmehr dein Haußgesind. Ist sie dann gschwätzig auch darzu, hast weder tag noch nacht kein ruh"- stöhnt der Trostspiegel-Meister von 1620. Norbert Elias faßt die Stellung der Kinder so zusammen: Sie lebten, " sei es auch als Dienende, als sozial Abhängige schon sehr früh in dem gleichen, gesellschaftlichen Raume wie die Erwach­senen , und die Erwachsenen legten sich auch in Bezu.a.f das sexuelle Le­ben weder im Handeln noch im Sprechen eine Zurückhaltung auf (…) Erst in einer Zeit, die man gelegentlich als das "Jahrhundert des Kindes" bezeichnet hat, dringt die der vorgerückten Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen entsprechende Einsicht, daß sich die Kinder nicht wie Erwachsene verhalten können, mit entsprechenden Erziehungsratschlägen und Vorschriften lang­sam in den Kreis der Familie".[16] Nicht das einzelne Kind, nicht der einzelne Mensch war in dieser Zeit wichtig, sondern der Bestand eines genera­tionenübergreifenden Regelwerks, dem sich das Schicksal des Einzelnen un­terzuordnen hatte, damit das Ganze fortdauerte, das Haus in seinen Funda­menten hielt. War dies nicht möglich, folgte ein tiefer Fall, die absolute Verelendung, wie das Bild zeigt. Als Zwangsgemeinschaft zum Überleben waren z.B. die Erziehungsziele vorgegeben: Einordnung in den Mikrokosmos der Gemeinschaft oder Ausschluß aus dieser. Erst als ge­standener Mann erwies sich, ob diese Einordnung gelungen war und eine wichtige zusätzliche Arbeitskraft oder Erbe zur Verfügung stand. Die Hoff­nung auf dieses Gelingen hatte Vorrang vor der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes: "Oft rregt ein Baum vil hübscher plü, doch niemand kan gewis­sen wie. Die Frucht werd an dem Baume stan, nit lob das kind, biß wird ein Mann" heißt es beim Meister des Trostspiegels (Bild 4)

Holzschnitt vom Meister des Trostspiegels, 1620, abgedruckt in: Hans Boesch: Kinderleben in der deutschen vergangenheit, 1900, S. 52

Daß das Haus zerbrach, hängt mit den großen Wandlungen der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und technisch-industriellen Verhältnisse im späten 18 Jahrhundert zusammen, die wir fälschlicherweise als "industrielle Revo­lution" bezeichnen. Viele verschiedenartige "Revolutionen" - und nicht nur die der Wirtschaft, fanden hier statt, wenngleich aus ihr wesentliche Impulse für die Veränderungen von Familie erwuchsen. Als entscheidende Einflußfak­toren stellten sich heraus:

  1. Der Sieg über Hunger und Pestilenz, der u.a. zu einem dramatischen Bevölkerungswachstum, längerer Lebenszeit und besserer Planbarkeit von elterlichen Beziehungen führte.
  2. Die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten durch die sog. Bau-ernbefreiung (Stein'sche Reformen), die große Wanderungsbewegungen hervorrief;
  3. Die Trennung von Wohnort und Arbeitsort aufgrund räumlicher Mobilität und wirtschaftlicher Zwänge;
  4. Die soziale Mobilisierung durch Erosion der ständischen Klassenschranken, die die Freiheit des Individuums herstellte.

Man kann sagen: Erst, nachdem das Überleben halbwegs gesichert ist und das Leben planbarer erscheint, schärfen sich die Konturen für das Individuelle gegenüber dem Gemeinschaftlichen, rücken das einzelne Kind, der besondere Ehepartner , die individuelle Familie, ins Blickfeld und die Horizonte weiten sich. Nun kann sich auch rechtlich die Hausgemeinschaft im Sinne der Bluts-verwandtschaft von allen anderen Gemeinschaftsformen abgrenzen, wird die moderne Familie geboren. Hatte es in älteren Gesetzeswerken noch geheißen: Der kollektive Wille der Gemeinschaft beugt den individuellen Anspruch, heißt es im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794: Personen, die durch Blutsfreundschaft mit einander verwandt sind, werden zu einer Familie gerechnet. [17] Und gewissermaßen als Geburtsgeschenk formuliert der Staat nun Rechte und Pflichten der Familie: "Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder".[18] Er fügt wohlweislich einen zweiten Paragraphen hinzu, der da lautet: "Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden". DINKIES, Ehen als reine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft sind also keine amerikanische Erfindung, sondern gute preußische Tradition - Anerkennung bereits vorhandener Struk-turen. In insgesamt 45 Artikeln beschäftigt sich das Landrecht mit dem Ver-hältnis zwischen Eltern und Kindern - ein Kanon an Verhaltensvorschriften, die erstmals auch dem Kind als heranwachsendem Individuum Rechte und Pffichten auferlegt und den Staat mittels Vormundschaftsgerichten in Konfliktfällen zwischen Eltern und Kinder stellt. Rechte wie: Freie Religionswahl ab dem 14. Lebensjahr werden hier festgeschrieben, aber auch Pflichten wie Unterstützung der Eltern bei Unglück oder Dürftigkeit und Pflege und War­tung bei Krankheiten. Dafür müssen beide Eheleute mit vereinten Kräften für standesgemäßen Unterhalt und Erziehung der Kinder sorgen. Im Bild 6 zeigt Carl Spitzweg eine solche Familie beim Sonntagsspaziergang. Sie trifft den Kern unserer Vorstellung von Familie, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat und v.a. von der Romantik verklärt wurde.

Carl Spitzweg: Sonntagsspaziergang.

Der hier festgelegte rechtliche Rahmen prägt das ganze 19. Jahrhundert und fließt in das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 ein - ent­scheidend geändert werden hier hauptsächlich Bestimmungen über die Erfor­dernisse einer gültigen Ehe, die Ersetzung der "väterlichen" Gewalt durch die "elterliche" Gewalt und das Recht der Kinder auf eine ihrer Begabung ent­sprechende Ausbildung. [19] Einige moderne Zutaten wie elterliche statt väterliche Gewalt, demokratische statt autoritäre Erziehung, Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen statt geschlechterspezifischer Erziehung , soziale Mobilität statt Klassendünkel oder sexuelle Freiheiten statt Anstand, Sitte und Moral ändern nichts entscheidend an diesem Kernbestand von Familienvorstellung, wie er auch rechtlich bis heute geschützt ist.Aber: Es ist eben ein historisch entstandenes Produkt als Gegenbewegung zu den zerbrechenden Hausgemeinschaften, ein "Zwitter zweier Zeitalter"[20] wie Beck/Beck-Gernsheim feststellen und dieses Leitbild von Familienbeziehungen ist dem Zahn der Zeit ebenso unterworfen wie ein Denkmal. Nebenbei gesagt: Niemand hat diese zerbrechlichen Strukturen im Übergang von alter und neuer Zeit, die Krise der Familie, so genau nachgezeichnet wie die 1812 erstmals herausgegebenen Märchen der Gebrüder Grimm. [21]

Die Kernfamilie konstituiert sich als Ort der privaten Beziehungen zwischen Blutsverwandten und erhält als intimer Rau.a.ßerhalb der Öffentlichkeit eine "emotionale Qualität"[22], in deren Mittelpunkt die Kindererziehung zum zentralen Inhalt des familiären Zusammenlebens wird. Auf der Familie lastet nun die Hoffnung als "Keimzelle des Staates". Um sie mit diesen Anspruch nicht zu überfordern, entstehen z.B.ginn des 19. Jahrhunderts die großen Institutionen, die die Familie flankierend und ergänzend unterstützen sollen: Die Wissenschaft von der Erziehung, beginnend mit einer Vielzahl von Erziehungsromanen wie John Locke's "Gedanken über Erziehung" (allein 15 englische Ausgaben zwischen 1692 und 1777) , Daniel Defoe's „Robinson Crusoe "(1713); Jean-Jaques Rousseau's "Emile" (1762), Pestalozzi's "Lienhard und Gertrud" (1781) und "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801), Joachim Heinrich Campe's deutschem "Robinson", Salzmann's volkspädagogische Romane und last not least Goethe's "Leiden des jungen Werther" von 1774. Wenngleich unterschiedlichste Ratschläge an die "verunsicherten" Eltern gegeben werden, ein roter Faden ist überall sichtbar: Die Erziehung soll individuell gestaltet werden, weil, wie es Rousseau ausdrückte: „All das, was uns bei der Geburt noch fehlt und dessen wir als Erwachsene bedürfen, wird uns durch Erziehung zuteil".[23] Die hier propagierte Erziehung fußt auf der Anerkennung des Eigenrechts des Kindes, das die Eltern zu respektieren haben- es hielt in der bürgerlichen Familie Einzug in Form von eigenen Betten, eigenen Zimmern, eigenem Mobiliar, eigenem Spielzeug, zu.a.erkennnung eigener Bildungsneigungen bis hin z.B.rufswahlfragen. Nicht anerkannt wurde das Recht auf Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen. Wie wirksam die hier vorgebrachten Argumente für die Individualerziehung waren, mag die Einrichtung des ersten Lehrstuhls fiir Pädagogik an einer deutschen Universität 1779 in Halle verdeutlichen[24]. Das dreigliedrige Schulsystem, beginnend mit den Humboldt'schen Reformen [25] und die Sozialpädagogik oder Jugendhilfe, beginnend mit den Arbeiten Pestalozzi's und Fröbel's, aber auch die Bismarck'sche Sozialpolitik, die in ihrem Kern Familienpolitik war, vollenden das Projekt "Familie" an der Schwelle zum 20. Jahr­hundert.

These 4: Die neue Unübersichtlichkeit bei der Betrachtung von Familie stört uns, weil wir sie noch nicht gewohnt sind

Die Trennung von Wohnort und Arbeitsort, veränderte Vater- und Mutter-rollen durch Lohnabhängigkeit, die Liebes- statt Standesehe, der Verlust der alleinigen väterlichen Autorität und die Emanzipationsbestrebungen der Frau charakteriseren das jetzt ausgehende 20. Jahrhundert in Sachen Familie. Das Heraustreten des Individuums aus seinem Stand, seiner Klasse und die Kon­stituierung eines eigenen Lebensgefühls sind geradezu die Geburtsstunde des­sen, was der Soziologe Habermas unter dem Begriff der "neuen Unübersicht­lichkeit" zusammengefaßt hat. Er meint damit, daß die Lebensverhältnisse in den Industriestaaten immer weniger in gewachsenen oder festgegossenen Strukturen gedacht werden können, da die zunehmende Individualisierung und die Pluralisierung der Lebensformen immer neue Formen des Zusammen­lebens zwischen Menschen hervorbringen. Ohne die Beachtung dieses Kon­textes sind keine Aussagen über die Zukunftslinien von Familie möglich. Dieser Kontext ist entscheidend, denn er reguliert quasi das, was sich bei uns als Vorstellung von Familie verdichtet hat. Diese Dialektik von Geist und Umfeldbedingungen, die "Ökologie der Ideen" prägt unser Muster von Fami­lie, drückt ihm sein jeweils unverkennbares Signu.a.f. [26] Familie und Er­ziehung sind Begriffe, die nur in ihrem jeweiligen Kontext verständlich wer­den und ein Bedeutungswandel zeichnet sich immer dann ab, wenn die gesell­schaftlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Umstände sich veränderten. Die Menschen sind dabei sowohl Subjekte, als auch Objekte des einsetzenden Veränderungsprozeßes, Täter und Opfer, Vorwärtsstrebende und Nachhin­kende, auf Probleme Antwortende und hilflos Fragende. Familien sind weder unverrückbare eherne Festungen abendländischer Zivilisation, noch der Hort von Sitte, Anstand, Tugend und Moral und schon gar nicht die bloße Barba­rei, Gewalt und Unzucht. Auszugehen ist eher von einem steten Balanceakt zwischen den gesellschaftlichen Aufgaben, den sozialen Anforderungen und den persönlichen Neigungen und Bedürfnissen, dem sich diejenigen Menschen, die zu ihrer Zeit zusammenleben wollten oder mußten , ständig zu stellen hatten. Sie unterlagen ebenso wie wir heute dem Prozeß der Zivilisation, über den Norbert Elias zurecht sagt, daß sie beständig im Werden begriffen ist, ohne daß wir mit Recht sagen könnten, wir seien bereits 'zivilisiert'[27].

Das Bild 6 zeigt eine Familienansicht von Edward Hopper aus unserer Zeit.

Edward Hopper: Morgen am Cape Cod

Ist dieses Paar eine Familie, zwei zufällig zusammentreffende Singles, eine Ehe ohne Trauschein, eine Wochenendehe, ein Beziehungszusaminenhang mit zwei Haushalten (Living apart together), eine Wohngemeinschaft auf Zeit? Vor dem Hintergrund jüngster statistischer Aussagen können sie all das sein - oder auch nicht sein. In West-Berlin waren bereits 1982 52,3% aller Haushalte Ein-PersonenHaushalte[28] und die Zahlen in allen Großstädten haben die 50-Prozent-Hürde längst übersprungen. Steht deshalb die Zukunft der Familie auf dem Spiel? Richtiger wäre zu sagen: Die Ehe und Familie als Institution stehen auf der Kippe. Oder allgemeiner formuliert : "Im Zuge reflexiver Modernisierung brechen Konflikte in den Institutionen um Grundlagen und Entwicklungslinien institutioneller Politik auf". [29] Es gibt dann Dinge, die es gar nicht geben darf: Da verklagt ein unverheiratet zusammen-lebendes Paar mit zwei Kindern die Deutsche Bundesbahn auf Herausgabe des verweigerten Familienpaßes und wird in erster Instanz vom Amtsgericht Freiburg abgewiesen. Dieses verwies au.a.tikel 6 Abs. 1 Grundgesetz, das Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, was auf diese "Nicht-Familie" nicht zuträfe. [30] Der Konflikt zwischen der Institution Fami-lie und einer Familienwirklichkeit, die nicht mehr in die Kategorien der Insti-tutionen paßt, dürfte in Zukunft eher zu.a.s abnehmen. Die Individualisierung und Pluralisierung sozialer Lebensformen treffen immer stärker auf institutionelle Zwänge, die sich gegen neue rechtliche Absicherungen dieser Lebensformen sperren. An der Familiensituation läßt sich die schleichende Aushöhlung dieser Institution am klarsten beobachten: Höchst unterschiedliche Lebensformen und Orientierungen stehen sich unvermittelt gegenüber. Da gibt es nicht nur Familien mit zwei oder mehr Vätern und Müttern, sondern auch Partnerschaften zwischen alleinerziehenden Männern und Frauen in einer oder zwei Wohnungen etc. , freiwillige ledige Mutterschaften bis hin zur Forderung nach Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partner als Eheleute. Die Pluralisierung, Individualisierung und Ökonomisierung von Sozial- und Be­ziehungzusammenhängen ist in allen Lebensbereichen - nicht nur in Familien -weit fortgeschritten. Hochindividualisierte Muster der Lebensführung und Le­bensbewältigung stehen neben den bekannten traditionellen Formen, ohne sich offiziell z.B.kriegen. Um es auf einen Begriff z.B.ingen: Die Konsens­formeln zerbrechen. Offenbar konservieren Klasse, Kleinfamilie, Ehe, Beruf, Frauenrolle, Männerrolle eine industriegesellschaftliche Normalität, die für immer größereTeile der Bevölkerung nicht mehr zutrifft: "Institutionen wer­den individuumabhängig; und zwar nicht, weil die Individuen so mächtig, sondern weil die Institutionen historisch widersprüchlich werden". [31]

Wir sollten aufhören, von "der Normalfamilie" zu sprechen, mit der es bisher leicht war, zwischen "gut" und "schlecht" zu unterscheiden. Was wir stattdes­sen beobachten sollten, sind Veränderungen und Umbrüche in dem Bild, das wir uns von Familie machen und dieses Bild müssen wir vergleichen mit un­seren Erfahrungen mit und in Familien, in denen wir aufgewachsen sind. Erst dadurch ergibt sich ein gleichsam aus vielen Eindrücken, Erinnerungen und Fakten gewobener Vorhang, den wir vor das Heute hängen können und vor dessen Hintergrund wir nun sorgsam notieren, was sich in Familien gegenüber unserem eigenen Elternhaus positiv oder negativ verändert hat. Daß dabei un­sere Wahrnehmung durch die Tatsache verzerrt ist, daß wir einen spezifi­schen Typus von Familie im Auge haben, an dem wir selbst als Heranwach­sende Familie gemessen haben, sollten wir nicht vergessen. Allein der Wan­del der Sprache zeigt schon an, daß wir es hier mit weltanschaulichen, weni­ger mit wissenschaftlichen Aussagen zu tun haben: Eine Mutter, der der Mann im Krieg gefallen war, war eine Kriegswitwe, keine "alleinerziehende Mutter mit einer unvollständigen Familie"; Kinder aus Familien, in denen die Frau früh gestorben war und der Mann wieder heiratete, waren keine Kinder aus zweiter Ehe, sondern hatten eine Stiefmutter und waren Stiefkinder, wenn neue hinzukamen. Die Bezeichnungen trafen präziser den Kern des Geschehens als Bezeichnungen wie sie heute aus der amerikanischen Familienforschung übernommen werden wie "Dinks" (Double Income No Kids, d.h. kinderlose Ehepaare) "Woopies" (Well-Off Older Peoples) oder "Yuppies" (Young Urban Professionals). Was auf das Zusammenleben zutrifft, läßt sich auch auf Erziehung übertragen: Kinder werden irnmer erzogen, fraglich ist bloß, wer wie erzieht. Die traditionelle oder Kleinfamilie, über deren Veränderungen wir diskutieren, hat spezifische Erziehungsmuster, die mit ihrem Statu.a.s Familie zusammenhängen und - gegeben den Fall, sie verschwände -, kann man davon ausgehen, daß weiter Kinder erzogen werden: statt von Vater und Mutter vom Freund oder der Freundin, von Freunden oder vom Fernsehen. Ob wir uns dies wünschen, ist eine ganz andere Frage. Wenn sich Institutionen wie die Ehe oder die Familie wandeln, verschwindet nicht auto-matisch ihr Inhalt mit, bloß die Art und Weise, wie er plötzlich in neuer Verpackung auftaucht, irritiert uns. Gute und schlechte Familien, gute und schlechte Erzieher, gute und schlechte Vorbilder hat es zu allen Zeiten gegeben Wir können uns trösten: anderen Generationen vor uns erging es nicht anders. Auch sie reagierten irritiert auf Veränderungen von Familie und Er-ziehung.

These 5: Wir alle zahlen den Preis des Glücks - vor allem aber die Kinder.

Was bedeutet das Gesagte für die Zukunft der Familie? Bisher sind Konflikte außerhalb oder am Rande von Institutionen angesiedelt gewesen (und Ehe und Familie sind nach § 6 Abs. 1 eine solche Institution) - nun verlagern sie sich in die Lebenswelt der Institutionen selbst. Aus Randgruppen, die aus der Verzweiflung heraus, die Kerninstanzen nicht antasten zu können, revolutionäre Auswege suchen [32] werden desparate Gruppen und Grüppchen, die , ohne den Pathos des Revolutionären einzuklagen, die Regelverletzung der traditionellen Anschauungen in ihrem Alltag betreiben. Manche Eltern können davon ein Lied singen, ohne die tiefergreifenden Zusammenhänge zu verstehen. Der Virus der Modernisierung steckt offenbar in den Individuen, die den Preis des Glücks sofort einlösen möchten wie einen Lotteriegewinn. Die Konflikte gibt es dennoch, bloß sie sind weniger spektakulär wie die Eroberung der Antarktis auf Skiern oder der Sprung von Brücken an elastischen Seilen: Die Kinder v.a. bezahlen den Preis der absoluten Freiheit des Indivi­duums: Stefano Casiraghi kann sich bei der Off-Shore-Weltmeisterschaft im Boot mit 230 Stundenkilometern zu Tode stürzen: Die Boulevardpresse be­klagt die trauernde Witwe Prinzessin Caroline von Monaco, verliert aber kein Wort über die drei minderjährigen Kinder, die der Wahn nach dem Absoluten gefordert hat. Die Konflikte werden nicht zwischen den Erwachsenen, son­dern um und mit den Kindern ausgetragen. Der Erwachsene kann, muß sogar zwischen verschiedenen Modellen des Zusammenlebens wählen, die Kinder haben keine Wahlfreiheit. Die Krise der Familie, z.B. der Vollzug einer Scheidung, bedeutet für Kinder oft etwas ganz anderes als für ihre Eltern. Eine erst kürzlich erschienene Langzeitstudie über geschiedene Paare und deren Kinder [33] hat ergeben, daß die Scheidung für Eltern manchmal die Chance eines Neuanfangs bietet, während sie für die betroffenen Kinder ein schwerwiegendes Trauma bedeutet. Das Bedürfnis, über dieses Trauma zu sprechen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, ist immens groß: "Nicht gefaßt war ich darauf, daß die Scheidung bei vielen noch so präsent war, daß sie für viele immer noch traurige Realität war, immer noch ver­bunden mit leidenschaftlichen Gefühlen, voller lebhafter Erinnerungen, Phantasien, mit vielfachen Brüchen in der Entwicklung, intensiven Wutge­fühlen und eklatanten Unterschieden des Lebensstandards. Ebensowenig war ich auf die Schwierigkeiten gefaßt,mit denen so viele Menschen beim Übergang ins Erwachsenenalter zu kämpfen hatten".[34] Zu diesem Ergebnis kamen die Autorinnen, nachdem sie über hundert Kinder 10 Jahre nach Voll­zug der Scheidung der Eltern befragt hatten.

Eine ständige, latente Unsicherheit im Hinblick auf die Richtigkeit der Optio­nen von Erwachsenen sind die Folge. Bei diesem "Ritt über den Bodensee" geht es den Erwachsenen nicht besser: Vielleicht ist die Forderung nach radi­kaler Autonomie des Subjekts, nach dem einzigen und unverwechselbaren Lebensgefühl meiner einzigartigen Person doch zu weitgehend? Oder weiter­gehend gefragt: Ist Gesellschaft als soziale Bewegung der Individuen über­haupt möglich ? [35] Lange hat man geglaubt, die Ausweitung individueller Wahlmöglichkeit führe automatisch zu immer weiterer Glückserfahrung; inzwischen mehren sich die Anzeichen, daß sich eine wachsende Anzahl von Menschen überfordert fühlt und man beginnt, sowohl die Opfer, als auch die sozialen Kosten dieser "postmodernen" Familie ins Blickfeld zu nehmen. Die Individualisierung und PIuralisierung verschärft die Konkurrenz zwischen Einzelnen, macht sie universal und kann tendenziell zu gefährlich narzistisch und egozentrisch geprägten Verhältnissen führen, sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich. Vielleicht liegt hierin die Ursache, daß Familie als Rückzugsterrain gegen die "soziale Umweltzerstörung" [36] wieder Attraktivität zu gewinnen scheint.

Denn die Tendenzen der sozialen Umweltzerstö-rung sind überall sichtbar. Wie ein Schatten begleitet sie die inzwischen be-wußt gewordene Zerstörung unserer natürlichen Umweltbedingungen: Sie reicht von der zeitlichen Verwahrlosung vieler Kinder in außerfamiliären Instanzen wie Tagesheimen o. ä. bis hin zu innerfamiliären Ersatzerziehern wie den modernen Medien. Sie schlägt sich nieder in seelischer Verwahrlosung, die wiederum von außerfamiliären Bezugspersonen (Therapeuten, Heilpädagogen, Sozialarbeitern, etc.) aufgefangen werden soll. Und sie endet keineswegs -wie manche vermuten --in der körperlichen Verwahrlosung durch Rauschmittelmißbrauch und Drogenkonsum. Denn die Kombinations-möglichkeiten zwischen diesen Krankheitsbildern von Kindern sind nahezu endlos. Plötzlich aufbrechende Gewalttätigkeit und die Flucht in die heile, friedvolle Sektengemeinschaft oder okkulte Zirkel gehören zu diesen sich verschränkenden Handlungssträngen ebenso wie Leistungswahn und das genüßliche Abservieren vermeintlicher Konkurrrenten. Der "Wahnsinn der Normalität"[37],in der ganz 'normale' Kinder eine destruktive Grundhaltung einnehmen, weil sie das Bewußtsein für ihr eigenes Selbst zu verlieren beginnen ist ja nur die Wiederholung eines bekannten Alltagsverhaltens von Erwachsenen. Und von diesen hat bereits J. J. Rousseau gesagt, sie seien "durch die Erziehung verdorbene Kinder". Es gibt viele Orte, an denen wir als Erwachsene diese gesellschaftliche Veränderungen deutlich zu spüren bekommen, v.a. in Kindergarten, Schule, Stadtteil, Kirchengemeinde. Ob wir willens und fähig sind, diese Herausforderungen anzunehmen und ihr gerecht zu werden, wird über die Zukunft der Familie mitentscheiden. Kinder, die durch die Trennung ihrer Eltern in tiefe Verzweiflung geraten sind und ihre Sehnsucht nach dem "Wochenendvater" ausdrücken; Kinder von Alleinerziehenden auf der Suche nach "Ersatzvätern" oder "Müttern"; Einzelkinder mit dem Wunsch nach Geschwistern; Kinder, die zu Drogen greifen oder Selbstmord begehen, die die Fassade der scheinbar intakten Familie niederreißen und die wirkliche Tragödie offenbaren; Kinder, die durch den "Patienten Familie" infiziert wurden, fordern uns heraus.

Begreifen wir sie Krankheits­symptome, können wir dazu helfen, die wachsende soziale Umweltzerstö­rung, die in den nachwachsenden Generationen aufscheint, aufzuhalten. Bronfenbrenner fordert, daß "das soziale Gefüge, das die Möglichkeit ge­meinsamen Lebens und Arbeitens schützt, stützt und pflegt, und das uns er­möglicht, unsere Kinder zu kompetenten und hilfreichen Mitgliedern der Ge­sellschaft zu erziehen"[38] nicht dem uneingeschränkten Leistungs- Wohl­stands- und Fortschrittswahn zum Opfer fallen darf. Er plädiert für eine "Ökologie des Menschen", in der unabhängig von der Erosion traditioneller Strukturen wie der Familie ein Fundament gemeinsamer Wertvorstellungen weitergetragen wird. Ohne diesen Kernbestand, zu denen Begriffe wie ver­antwortliches Denken und Handeln, Solidarität, Achtung der Menschenwürde und der Schöpfung, Gerechtigkeit und Ausübung von Caritas im weitesten Sinne gehören, ist ein menschliches Zusammenleben gleich welcher Sozi­alform auch immer- nicht möglich. Dieser Kernbestand ist bedroht, nicht "die Familie" oder "die Erziehung". Wir müssen das Gespräch suchen -bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wenn wir bei Familien erste Anzei­chen einer Krankheit wahrnehmen, treffen wir im Vorfeld Maßnahmen, um einen schlimmen Krankheitsverlauf zu verhüten. Warum warten wir oft so lange bei Anzeichen seelischer Not, bevor wir in unserer Kirchengemeinde, o. ä. mit dem Jugendlichen oder dessen Eltern sprechen? Kein Kind kann für sein Elternhaus haftbar gemacht werden. Unter Schuldzuweisungen haben die Betroffenen selbst am meisten zu leiden. Eltern sind auch Kinder ihrer Eltern! Jedes Kind findet in seiner häuslichen Umgebung - mag sie uns noch so ma­rode erscheinen - positive Zeichen, liebenswerte Bezugspersonen, Stunden des Glücks und der Zufriedenheit. Jeder Mensch verfügt über spezielle Bega­bungen und Fähigkeiten. Jedes Milieu ist prägend in mehrfacher Hinsicht. Ein Kind, das aus schwierigen häuslichen Verhältnissen kommt, hat mögli­cherweise ein tieferes Verständnis für soziale Probleme als andere Schüler; ein Kind, das sich allzusehr selbst überlassen ist, verfügt zuweilen über eine größere Selbständigkeit und einen weiteren Horizont als ein wohlbehütetes, das im Zaum gehalten wird. Janusz Korczak stellt fest, daß in der Ent­wicklung eines Kindes sogar hin und wieder das "Gesetz der Antithese" wirk­sam wird: "Es kommt aber auch vor, daß in einem Milieu der Zersetzung und der Fäulnis unter Qualen und in geistiger Zerissenheit die sprichwörtliche 'Rose auf dem Misthaufen' erblüht. Solche Fälle liefern den Beweis, daß es neben dem anerkannten Gesetz von der erzieherischen Beeinflussung auch noch das Gesetz von der Antithese gibt. Wir sehen es wirksam werden an den Beispielen, in denen ein Geizhals einen Verschwender, ein Gottloser einen Gottesfürchtigen, ein Feigling einen Helden erzieht "[39]. Vielleicht ist es sogar so, daß jeder Mensch in seinem Leben schicksalhaft vor Aufgaben gestellt wird, mit deren Wahrnehmung er auf eine ihm eigene, einmalige Weise beschäftigt ist. Wenn wir im Gespräch mit Eltern lemen, gerade die Zeichen wahrzunehmen, durch die sich Chancen für ein Kind eröffnen, dann gelingt es uns vielleicht, die Phantasie zu entwickeln, die Licht in eine Sache bringt. Durch diesen Ansatzpunkt kann Vertrauen entstehen. Wenn es uns gelingt, innerhalb des fortschreitenden Wertepluralismus die o. g. Grundlagen menschlicher Zivilisation festzuschreiben, sie als kollektives Vermächtnis vergangener Generationen z.B.wahren, ist mehr zu erreichen als mit dem Zusaminenflicken von ausgehöhlten Strukturen. Wo kein Sinn mehr vorhanden ist, kann keiner gestiftet werden; er muß gefunden werden.[40] Die Auseinandersetzung hat eben erst begonnen, so wie vor einem Jahrzehnt die um die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das bis heute Erreichte gibt in etwa das Tempo an, mit dem wir den Preis des Glückes bereits bezahlt haben.

Bernd Hainmüller

Teil II: Lehrer als verantwortliche Träger von Erziehung

„Lehrerin und Lehrer als Urbilder, als archetypische Lebensmuster, gehören zum Grundmuster von Mutter und Vater, zum Muster der älteren Menschen gegenüber den Jungen und — in wenigen Fällen — zum Muster des göttlichen Kindes, das — kau.a.f der Welt — Zugang zu den Geheimnissen des Lebens hat"[41]

Diese tiefenpsychologische Erkenntnis steht nur scheinbar im Widerspruch zu der historischen Dimension, mit der wir uns im ersten Teil befaßt haben. Die Grundmuster sind geblieben, sie erfahren nur verschiedene Ausprägungen. Vielleicht verschieben sich auch die Gewichtungen in einer Zeit, in der der Schule immer mehr Erziehungsfunktionen übertragen werden. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die neue Vielfalt der Formen des Zusammenlebens, die häufig recht problematischen Beziehungsebenen zwischen Paaren und ihren Kindern, zeigen deutlich ihre Auswirkungen im Klassenzimmer. Lehrer-Schüler-Beziehungen, wie sie etwa in Spoerl's „Feuerzangenbowle" beschrieben wurden, waren nur die Fortsetzung jener vom patriarchalischen Geist durchtränkten Kleinfamilie, der schon die 68er mit ihrem anti-autoritären Konzept den Garaus machen wollten. Autoritäre Strukturen in Schule und Familie — nein danke! Lebenszusammenhänge verändern sich, der Prozeß der Individualisierung der Gesellschaft schreitet voran. Auch der Lehrer, der — in Abgrenzung zur „schwarzen Pädagogik" — mit einem antiautoritären Konzept antritt, kann letzten Endes in der Schule heute kein Bein auf den Boden kriegen. In dem Maße, wie sich die Beziehungen zwischen Männer und Frauen, sowie die Beziehungen zu ihren Kindern verändert haben, in dem Maß verändert sich auch die Lehrer-Schüler-Beziehung. Jeder Lehrer erlebt auf Elternabenden, wie immens hoch das Anspruchsdenken geworden ist.

Der Lehrer soll ein Optimum an Wissensvermittlung und pädagogischem Einsatz liefern, vom Schüler wird ein Optimum an Leistung erwartet. Im Schulalltag selbst wird dieses Anspruchsdenken zum großen Fragezeichen. Die Vielfalt der Probleme im Klassenzimmer erfordert ein erneutes Nachdenken über die Bedingungen, unter denen wir unseren Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllen. Verkommt die Schule zum reinen Dienst-leistungsbetrieb in Sachen Wissensvermittlung und zur Kinderaufbewahrungsstätte, oder ist sie willens und fähig, der veränderten Situation — vor allem in pädagogischer Hinsicht — gerecht zu werden?

Lassen Sie mich zunächst schildern, inwiefern gerade das Klassenzimmer der Ort ist, an dem Lehrer gesellschaftliche Veränderungen deutlich zu spüren bekommen.

1. Das Verhalten der Schüler im Klassenzimmer ein Seismograph für die jeweilige familiäre Wetterlage

Das Klassenzimmer ist der Ort, an dem Lehrer und Lehrerinnen gesellschaftliche Veränderungen deutlich zu spüren bekommen. Ob die Schule zum reinen Dienstleistungsbetrieb in Sachen Wissensvermittlung und zur Kinderaufbewahrungsstätte verkommt, oder ob sie willens und fähig ist, der veränderten Situation — vor allem in pädagogischer Hinsicht gerecht zu werden, wird hier entschieden. Kinder, die durch die Trennung ihrer Eltern in tiefe Verzweiflung geraten sind und ihre Sehnsucht nach dem „Wochenendvater" ausdrücken; Kinder von Alleinerziehenden auf der Suche nach „Ersatzvätern" oder „Müttern"; Einzelkinder mit dem Wunsch nach Geschwistern; Kinder, die zu Drogen greifen oder Selbstmord begehen, die die Fassade der scheinbar intakten Familie niederreißen und die wirkliche Tragödie offenbaren; Kinder, die durch den „Patienten Familie" infiziert wurden, fordern den Einsatz der Lehrer in einer Weise heraus, die oft zur Überforderung wird. Das Klassenzimmer ist der Ort, an dem Krankheitssymptome deutlich werden. Ist der Lehrer nicht zutiefst verunsichert, wenn er sich an Diagnosen wagt oder gar die Krankheit kurieren möchte?

Folgende fünf beliebig herausgegriffene Problemfälle in einer Klasse von etwa 25-30 Schülern zeigen das Dilemma, in das ich als Lehrer hineingerate, exemplarisch auf:

Beispiel 1: (BILD 7)

Ein Junge muß sich zwanghaft durch negatives Verhalten in den Mittelpunkt rücken. Er erzählt zotige Witze, äußert sich in der Analsprache, versucht ständig zu provozieren, macht alles madig, zieht Gespräche über Probleme ins Lächerliche, kennt keine Grenzen. Ich erfahre, daß er sich jeden Nachmittag in der Gegend herumtreibt, bis seine berufstätigen Eltern nach Hause kommen. Dann darf er mit seinem bereits berufstätigen Bruder umherziehen, um die Gegend unsicher zu machen. Seine Mutter gibt in erster Linie der Schule die Schuld für Verhaltensauffälligkeit und schulisches Versagen.

Beispiel 2: (BILD 8)

Ein Junge fällt mir dadurch auf, daß er nie auffällt. Er hüllt sich in Schweigen, ist kau.a.sprechbar, kann seine Gefühle nicht mitteilen. Ich erfahre, daß er mit seiner Mutter alleine lebt und sein Großvater — wichtigste Bezugsperson außer der Mutter — gestorben ist. Wo findet dieses Kind einen Partner, der ihm den Zugang zu seinen Gefühlen eröffnet, ihm die Sprache wiedergibt?

Beispiel 3: (BILD 9)

Eine Schülerin ist immer die Nummer eins: Klassenbeste, Siegerin bei musikalischen Wettbewerben und auf dem Tennisplatz. In der Klasse schürt sie die Konkurrenz, gönnt anderen Kindern keinen Erfolg. Die Eltern — selbst Lehrer — machen an Elternabenden ihre Ansprüche an Schule deutlich. Pädagogisches Eingreifen des Lehrers, welches auf ein besseres Sozialverhalten abzielt, stellt das Leistungsdenken dieser Eltern in Frage — der kalte Krieg ist eröffnet.

Beispiel 4: (BILD 10)

Ein Junge in der Klasse verliert in regelmäßigen Abständen die Kontrolle über sich: Er haut, würgt, demoliert, schreit herum. Als die Kinder in einer Unterrichtsstunde sagen dürfen, was sie sich jeweils am sehnlichsten wünschen, antwortet er mit gepresster Stimme: „Ich wünsche mir einen gerechten Vater." Seine Familie gilt als „intakt". Der Vorschlag von Lehrerseite, die Eltern mögen sich eine Familientherapie überlegen, wird empört abgelehnt.

Sicherlich fallen jedem aus der eigenen Praxis zusätzliche Beispiele ein, bei denen wir uns die Frage stellen: Wer hilft diesen Kindern, wo finden sie Ansprechpartner — und — wer hilft uns Lehrern im Umgang mit diesen Kindern, die im Klassenverband meist eine erhebliche Störung bedeuten? Das Negativ-Verhalten ist für sie oft der einzige Weg, Zuwendung und Aufmerksamkeit z.B.kommen und wir werden ihnen nicht gerecht, wenn wir sie als „frech", „unzugänglich", „faul" oder „unsozial" tadeln. Andererseits beanspruchen uns diese Schüler manchmal derart, daß die anderen in der Klasse oft zu kurz kommen. Ein weiteres Problem liegt darin, daß das Negativ-Verhalten auf Kinder, die bereits in irgendeiner Weise gefährdet sind, ansteckend wirkt. Streber sind heute keine Vorbilder mehr. Verhaltensauffällige Schüler werden oft um die Freiheiten beneidet, die sie sich herausnehmen. Grenzfälle in der Klasse orientieren sich deshalb immer eher in die Richtung, die ihnen oft am wenigsten nützt. Im Umgang mit Problemfällen sind wir als Lehrer in keinster Weise geschult. Wenn vom Kultusministerium heute in einer 46 Seiten starken Broschüre wieder für den Lehrerberuf geworben wird und dabei lediglich in einer winzigen Spalte sozusagen unter 'ferner liefen' der Erziehungsauftrag erwähnt wird, dann wirft dies ein Licht auf die Bedeutung, die dem pädagogischen Bereich offiziell zugemessen wird (man betrachte nur die "Werkzeuge" der Lehrer!). (BILD 11)

Dem entspricht die Praxis, in der wir mit unseren Problemen alleingelassen werden. Die Extremfälle verweisen wir an die Institution „Beratungslehrer" - den alltäglichen Kampf bestreiten wir eher als verunsicherte Pädagogen mit einem meist laienhaften Verständnis von Psychologie. Was ich mir an dieser Stelle wünsche: eine intensivere psychologische Ausbildung v.a. der Lehramtsanwärter, sowie geeignetere Lehr-und Lernmethoden, ebenso die Abkehr von der Fixierung auf nur kognitive Wissensvermittlung. Das ist jedoch noch Zukunftsmusik. Hier und jetzt möchte ich vom „Machbaren" ausgehen, d.h. einige Grundlinien für unseren Alltag entwerfen. Wenn wir nicht wollen, daß die Schule — gerade für gefährdete Kinder — zur Tragödie zweiter Teil wird, können wir uns dem Erziehungsauftrag nicht entziehen, der da lautet: „An allen Schulen walte der Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik":[42] Die Steine auf diesem BILD 12 sind meines Erachtens eine Herausforderung für uns als Pädagogen, über den Zusammenhang von Steinen und Wurzelpflege nachzudenken.

2. Das Gespräch suchen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Wenn wir bei einem Kind erste Anzeichen einer Krankheit wahrnehmen, treffen wir im Vorfeld Maßnahmen, um einen schlimmen Krankheitsverlauf zu verhüten. Warum warten wir oft so lange bei Anzeichen seelischer Not, bevor wir mit dem Schüler oder dessen Eltern sprechen? Elterngespräche — oft eine heikle Angelegenheit! Wieviel wird da vorgetäuscht und vertuscht! Nicht selten bekommt man als Lehrer einen Fußtritt gerade dann, wenn man der Meinung war, geholfen zu haben. Wie oft spielen Kinder Eltern gegen Lehrer aus: „Meine Mutter hat gesagt....", „Unser Lehrer hat aber gesagt...". Wieviele Lehrer tabuisieren im Gespräch mit den Eltern das Thema Familie, vermeiden, gehen in Deckung und hoffen, daß der Kelch der Auseinandersetzung an ihnen vorübergeht! Ich meine, so viel Angst brauchen wir nicht zu haben. Wenn es um den „Patienten Familie" geht, sind Lehrer auch Betroffene. Wieviele Lehrer leben als Geschiedene, Alleinerziehende, Singles? Sind wir nicht auch — manchmal sogar in der Hauptseite — mit unseren eigenen Beziehungsproblemen beschäftigt? Es scheint mir unmöglich zu sein, sich als Lehrer in erster Linie als Wissensvermittler von Stoff z.B.greifen, während man als Privatperson genau weiß, wie sehr die familiäre Situation mit allen Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Spannungen den Lernprozeß beeinflußt. Das Umfeld kann Lernen fördern, es kann es aber auch total blockieren. Vielleicht hat unsere Zeit trotz vieler negativer Tendenzen den großen Vorzug, daß wir immer mehr Abschied nehmen können von quälenden Idealvorstellungen: die idealen Eltern, den idealen Lehrer, die ideale Familie gibt nicht. Statt Dogmen in der Erziehung sind heute Einfühlungsvermögen und Toleranz gefragt. Kein Kind kann für sein Elternhaus haftbar gemacht werden. Unter Schuldzuweisungen haben die Betroffenen selbst am meisten zu leiden. Eltern sind auch Kinder ihrer Eltern! (BILD 13)

Jedes Kind findet in seiner häuslichen Umgebung — mag sie uns noch so marode erscheinen — positive Zeichen, liebenswerte Bezugspersonen, Stunden des Glücks und der Zufriedenheit. Jeder Mensch verfügt über spezielle Begabungen und Fähigkeiten. Jedes Milieu ist prägend in mehrfacher Hinsicht. Ein Kind, das aus schwierigen häuslichen Verhältnissen kommt, hat möglicherweise ein tieferes Verständnis für soziale Probleme als andere Schüler; ein Kind, das sich allzusehr selbst überlassen ist, verfügt zuweilen über eine größere Selbständigkeit und einen weiteren Horizont als ein wohlbehütetes, das im Zaum gehalten wird. Janusz Korczak stellt fest, daß in der Entwicklung eines Kindes sogar hin und wieder das „Gesetz der Antithese" wirksam wird: „Es kommt aber auch vor, daß in einem Milieu der Zersetzung und der Fäulnis unter Qualen und in geistiger Zerrissenheit die sprichwörtliche 'Rose auf dem Misthaufen' erblüht. Solche Fälle liefern den Beweis, daß es neben dem anerkannten Gesetz von der erzieherischen Beeinflussung auch noch das Gesetz von der Antithese gibt. Wir sehen es wirksam werden an den Beispielen, in denen ein Geizhals einen Verschwender, ein Gottloser einen Gottesfürchtigen, ein Feigling einen Helden erzieht. "[43] Vielleicht ist es sogar so, daß jeder Mensch in seinem Leben schicksalhaft vor Aufgaben gestellt wird, mit deren Wahrnehmung er auf eine ihm eigene, einmalige Weise beschäftigt ist.

Wenn wir im Gespräch mit Eltern und Schülern lernen, gerade die Zeichen wahrzunehmen, durch die sich Chancen für ein Kind eröffnen, dann gelingt es uns vielleicht, die Phantasie zu entwickeln, die Licht in eine Sache bringt. Durch diesen Ansatzpunkt kann Vertrauen entstehen und wir werden nicht nu.a.s Kontrolleure angesehen, denen mit Skepsis und Reserviertheit begegnet wird. Obwohl wir als Lehrer keine Therapeuten sind, kommen wir doch manchmal auch in die Situation, einen Schüler in die seelische „Dunkelkammer" z.B.gleiten. Wie weit wir diesen Weg mit ihm gemeinsam gehen sollen, wird uns deutlich, wenn wir uns selbst nicht an die erste Stelle setzen und die Frage nach unserer Beliebtheit fallen lassen können. (BILD 14)

3. Die lieben Kollegen - Brüder im Geiste oder Fremdlinge im eigenen Haus?

Was geht mich die Privatsphäre anderer an? Schließlich bin ich nicht verantwortlich für gesellschaftliche Defizite! Ich habe genug mit mir selbst zu tun, da soll ich auch noch andere im Nachhinein erziehen? Und überhaupt: wer bin ich eigentlich hier? Guru, Sozialarbeiter, Erzieher, Entertainer oder Schuhabstreifer? Gedanken, die sicher jeden Lehrer hin und wieder bewegen! Rotes Licht leuchtet meistens dann auf, wenn wir mit einigen Schülern oder einer ganzen Klasse einfach nicht mehr zurechtkommen. Die Klassenkonferenz, die in solchen Fällen als Notbremse fungiert, erhellt die Zusammenhänge oft überhaupt nicht. Es gibt dann auch immer wieder den bekannten Ausspruch eines anderen Kollegen: „Also ich habe überhaupt keine Probleme...., bei mir sind die Schüler..., da muß man nur mal richtig durchgreifen; scheuen Sie sich nicht, auch mal einen rauszuschmeißen...". Das Wechselspiel der Beziehungsmuster, das sich im Klassenzimmer abspielt, wird selten beleuchtet und analysiert, sinnvolle pädagogische Konzeptionen kaum erarbeitet.

Am Geschehen im Klassenzimmer sind jedoch stets mehrere Personen beteiligt. Zunächst einmal stehen wir selbst vor den Schülern, mit unseren Stärken und Schwächen, mit unserer ureigensten Geschichte. Es gibt immer Kinder, die wir gerne mögen, weil sie vielleicht besonders wach, interessiert, lebendig sind. Oft empfinden wir auch Zuneigung, wenn ein Kind schutz- und liebebedürftig zu sein scheint. Es gibt genauso Schüler, die wir verwünschen könnten, mit denen wir nicht „fertig" werden. Oft sind wir innerlich mit solchen Schülern über Jahre hinweg beschäftigt, denn sie haben vielleicht dunkle Seiten in uns selbst angesprochen, die wir nicht wahrhaben wollen. Was uns freut und belebt, aber auch das, was uns Schwierigkeiten bereitet, hängt wesentlich mit unserer eigenen Persönlichkeitsentwicklung zusammen. Da in einem Kollegium die verschiedensten Persönlichkeiten zusammenkommen, eröffnen sich auch für die Schüler unterschiedlichste Beziehungsebenen. Wenn wir das gesamte Beziehungsgeflecht begreifen wollen, müssen wir jedoch einen weiteren Blick hinter die Kulissen wagen. Wir können nicht wissen, an wen wir einen Schüler erinnern. Ein Schüler kann in Beziehung zu uns eine negative oder positive Identifikation vornehmen, die zunächst mit unserer Person überhaupt nichts zu tun hat. Die Identifikation ist gekoppelt an Erinnerungen, an Abläufe in der Familie, an Wünsche und Sehnsüchte, die nicht erfüllt wurden. Wie schnell sind wir als Lehrer beispielsweise beleidigt, wenn uns nicht die nötige Achtung zuteil wird. Wie soll ein Kind, das nie Achtung erfahren hat, einem Lehrer Achtung entgegenbringen können? Ein sehr großer Teil von Verhaltensauffälligkeiten liegt im familiären Umfeld begründet. Sehr oft rächen sich Schüler in der Schule an Vater oder Mutter. Wir müssen diese Zusammenhänge als Lehrer im Auge haben, und wir brauchen gerade auf diesem Gebiet dringend den Austausch mit Kollegen. In fast allen pädagogischen Bereichen gibt es inzwischen Supervision und Fallbesprechungen — an unseren Schulen befindet sich an dieser Stelle ein großes Loch. Der Austausch der Kollegen untereinander, die Diskussion über psychische Probleme und mögliche Konfliktlösungen erfolgt zumeist auf informellen Wegen, während der Kaffeepausen, auf dem Flur, im Lehrerzimmer, gelegentlich beim Glas Wein mit befreundeten „Leidensgenossen". Einmal pro Schuljahr — am sogenannten „pädagogischen Tag" — beschäftigen wir uns offiziell mit Fragen unseres Erziehungsauftrages. Wen wundert es da eigentlich, daß gerade der Berufsstand der Lehrer häufig in Selbsterfahrungsgruppen, beim Psychoanalytiker oder Therapeuten anzutreffen ist? Viel Geld und Energie wird von Lehrern in diese Bereiche investiert. Die tatsächliche Verbindung zu.a.ltag bleibt oft aus. Ich selbst habe an dieser Stelle mehr Fragen als Antworten. Wenn die Schule schon immer mehr Erziehungsfunktionen übertragen bekommt — und die jetzt immer lautstärker propagierte Ganztagsschule geht genau in diese Richtung — dann müssen Lehrer im pädagogischen Bereich mehr Unterstützung erfahren.

4. Die Familie als Thema im Unterricht

Es gibt eine Reihe von Fächern, in denen Familie als Thema im Lehrplan erscheint. Bei der Durchsicht der Lehrpläne fiel mir auf, daß wir es hier weniger mit veralteten, als vielmehr ziemlich nichtssagenden Festlegungen zu tun haben. Dadurch besteht in der Auswahl des Materials und der Gestaltung volle pädagogische Freiheit.

In der Klasse meiner Tochter wurden kürzlich folgende Fragen im Deutschunterricht behandelt: Die Kinder erzählen, wie sie Familie erleben. Kinder geschiedener Eltern stellen ihre Probleme im Zusammenleben dar. Die Frage nach den Konflikten mit Geschwistern, sowie die Diskussion über das tägliche Aufräumdrama und Konfliktlösungsstrategien wurde nicht ausgespart. An der Diskussion beteiligten sich alle Kinder in der Klasse äußerst lebhaft. Die Lehrerin betonte, daß eine Vertrauensbasis gegeben sein muß, um solche Gespräche führen zu können. Keiner habe über den anderen gelacht, und an einigen Stellen ergab sich die befreiende Erkenntnis, daß gewisse Abläufe in Familien bei aller sonstigen Verschiedenheit einander ähneln: „Das hätte ich nicht gedacht, daß auch bei euch ...", „Was — Du auch? Meckert Deine Mutter auch immer, wenn... ? Gibt's bei euch auch immer Zoff, wenn der Vater... ?" Ich bin überzeugt, wenn wir unsere Probleme unter diesem Gesichtspunkt unter die Lupe nehmen würden, wir kämen zu keinem anderen Ergebnis.

Schüler haben das Bedürfnis, über ihre Familie zu sprechen. Wie weit wir im Gespräch gehen können, ist von der jeweiligen Situation in einer Klasse abhängig. Wichtig scheint mir an dieser Stelle die richtige Sprache zu sein.

Erich Kästner — selbst Sohn einer alleinerziehenden Mutter — appelliert in einer Rede an Schulanfänger: „Früchtchen seid ihr — und Spalierobst müßt ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen, so wie man es mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation, das ist der Weg, der vor euch liegt (...). Laßt euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telephonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen und was gegessen wurde, existiert nicht mehr". [44]

Wenn wir uns als Erwachsene erinnern, dann oft mit der Fragestellung: Was hat uns genützt, was hat geschadet im Hinblick auf den Erfolg im Leben? Wenn wir die Sprache der Kinder verstehen wollen, erinnerten wir uns besser an den Zauber, die Glücksmomente, die Sehnsüchte und an das, was uns im Magen gelegen hat. Die Krise der Familie, z.B. der Vollzug einer Scheidung, bedeutet für Kinder oft etwas ganz anderes als für ihre Eltern. Eine erst kürzlich erschienene Langzeitstudie [45] über geschiedene Paare und deren Kinder hat ergeben, daß die Scheidung für Eltern manchmal die Chance eines Neuanfangs bietet, während sie für die betroffenen Kinder ein schwerwiegendes Trauma bedeutet. Das Bedürfnis, über dieses Trauma zu sprechen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, ist immens groß: „Nicht gefaßt war ich darauf, daß die Scheidung bei vielen noch so präsent war, daß sie für viele immer noch traurige Realität war, immer noch verbunden mit leidenschaftlichen Gefühlen, voller lebhafter Erinnerungen, Phantasien, mit vielfachen Brüchen in der Entwicklung, intensiven Wutgefühlen und eklatanten Unterschieden des Lebensstandards. Ebensowenig war ich auf die Schwierigkeiten gefaßt, mit denen so viele Menschen beim Übergang ins Erwachsenenalter zu kämpfen hatten“[46]. Zu diesem Ergebnis kamen die Autorinnen, nachdem sie über hundert Kinder 10 Jahre nach Vollzug der Scheidung der Eltern befragt hatten. Die heute so heiß diskutierten Themen wie „Familie als Balanceakt", oder „Frau-Sein als Balanceakt", stellen sich für Kinder anders dar als für Erwachsene. In der vielfach geführten Diskussion über die schädlichen Folgen der „Überbehütung" und „Konfliktvermeidung" so mancher gutbürgerlichen Familie sollten wir nicht vergessen, daß Kinder ein warmes Nest und Geborgenheit wollen und brauchen, um Vertrauen zu sich und der Welt zu entwickeln. Dazu gehören feste, liebevolle Bezugspersonen. Kinder lieben es, wenn ihre Eltern 'glücklich vereint' leben und sie trauern zutiefst, wenn es nicht so ist.

Wenn wir im Klassenzimmer über Familie sprechen, dann mit der gebotenen Empathie und Sensibilität. Das bedeutet in erster Linie, verschiedene Lebensmuster zu akzeptieren, ohne mit Fingern auf Ungewohntes zu zeigen. Außerdem gilt es, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann und wie weit Schüler bereit sind, sich über Fragen der Familie auszutauschen. Im Deutschunterricht beispielsweise haben wir jederzeit die Möglichkeit, Familie ins Gespräch z.B.ingen. Die Literatur ist voll von Beispielen. Realität ist hier so verdichtet, daß Schüler sich wiederfinden können, ohne sich preisgeben zu müssen. Literatur kann auch Trost spenden. So ist beispielsweise die Biographie Charlie Chaplin's [47] ein hervorragendes Beispiel für These und Antithese dieser Entwicklung. Hier wird ein unmittelbarer innerer Zusammenhang deutlich: Bittere Armut, gewaltsame Trennung von der Mutter, Entbehrungen und Züchtigung im Armenhaus — auf der anderen Seite: Freisetzen von Humor — trotzdem lachen und zum Lachen bringen in einer Weise, die unsere Herzen und Augen öffnet. Für den Grund- und Hauptschulbereich sowie die Unterstufe des Gymnasiums, halte ich die Werke Erich Kästners, deren „Helden" zumeist aus „nichtintakten" Familien stammen, als Lektüre wunderbar geeignet. Am Ende seines Buches „Pünktchen und Anton" spricht Kästner in einer Ehrlichkeit und Offenheit, die ich mir auch für meinen Unterricht wünsche. Er schreibt, wohlwissend, daß das Happy-End seines Buches im wirklichen Leben oft ausbleibt: „Nun könnt ihr unmöglich daraus schließen, daß es auch im Leben immer so gerecht zuginge und ausginge wie in unserem Buch hier. Das wäre allerdings ein verhängnisvoller Irrtum. Es sollte so sein und alle verständigen Menschen geben sich Mühe, daß es so ist. Aber es ist nicht so. Es ist noch nicht so. Wir hatten mal einen Mitschüler, der schrieb regelmäßig von seinem Nachbarn ab. Denkt ihr, der wurde bestraft? Nein, der Nachbar wurde bestraft, obwohl andere die Schuld tragen. Seht zu, wenn ihr groß seid, daß es dann besser wird. Uns ist es nicht ganz gelungen. Werdet anständiger, ehrlicher, gerechter, vernünftiger als die meisten von uns werden. Die Erde soll früher einmal ein Paradies gewesen sein. Möglich ist alles. Die Erde könnte wieder ein Paradies sein — alles ist möglich".[48] Das Verständnis für die Suche nach dem verlorenen Paradies — Hoffnungsträger z.B.eiben, auch wenn wir das Paradies auf Erden nicht errichten können — ist für mich eine Leitlinie im Umgang mit Menschen. K. Asper, die sich in ihrem Buch „Verlassenheit und Selbstentfremdung" mit den schweren Störungen, die Liebesentzug in der Kindheit hervorrufen, beschäftigt hat, beschließt ihr Buch mit einer Frage R. M. Rilkes, die auch ich an den Schluß stellen möchte:

„Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt es ins Gestirn und gibt das Maß des Abstands ihm in die Hand?" [49]

Hiltrud Hainmüller

Literatur

  • Aries, Philippe: Geschichte der Kindheit, Wien 1975
  • Bateson,Gregory: Ökologie des Geistes, Frankfurt 1985 ;
  • Beck, Ulrich: Jenseits von Klasse und Stand? in: Krekel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten,Göttingen 1983;
  • ders. : Risikogesellschaft , Frankfurt 1986;
  • ders. :Die Industriegesellschaft schafft sich selber ab, Eröffnungsbeitrag des Soziologentages 1990, leicht gekürzt abgedruckt in der FAZ, Nr. 224, Freitag, 19. 10. 90.
  • Beck, Ulrich/ Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt 1990;
  • Bettelheim, Bruno: Erziehung zum Überleben, München 1985;
  • Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar 1982;
  • Boesch, Hans: Kinderleben in der deutschen Vergangenheit, Faksimile-Nachdruck der Originalausgabe von 1900, Düsseldorf/Köln 1979;
  • Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt 1979;
  • Bronfenbrenner, Urie: Soziale Umweltzerstörung, in: Neue Sammlung, 21. Jahrgang, 1981, S. 176 - 190;
  • Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt 1976;
  • Grimms Kinder und Hausmärchen, Menden 1981;
  • Gronemeyer, Reimer: Die Entfernung vom Wolfsrudel, Düsseldorf 1989
  • Gruen, Arno: Der Wahnsinn der Normalität, München, 1987;
  • Hubbard, William: Familiengeschichte, München, 1983;
  • Huizinga , Johan: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1953;
  • Imhof, Arthur E. : Die verlorenen Welten, München 1984;
  • Imhof, Arthur E.: Die Lebenszeit, München, 1988;
  • Imhof, Arthur E. u.a. : Ich bin dir gut, wenn du mir nützt..., AGJ-Schriftenreihe Nr. 13, Freiburg, 1990;
  • Kästner, Erich: Ansprache an Schulanfänger, in:, Lesen/Darstellen/Begreifen, Lesebuch A 8, Frankfurt, 1976;
  • Kästner, Erich: Pünktchen und Anton, Zürich, 1970;
  • König, Rene: Die Familie der Gegenwart, München, 1978;
  • Kocka, Jürgen u.a. : Familie und soziale Plazierung, Opladen, 1980; ,
  • Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen, 1989;
  • Liebau, Eckart: in: Imhof, A. E. u.a. : Ich bin dir gut, wenn du mir nützt..., Freiburg 1990, S. 76-90 ;
  • Lüscher, Kurt u.a. (Hrsg.): Die „postmoderne" Familie, Konstanz 1988;
  • Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt, 1967;
  • Menne, Klaus/Alter, Knud: Familie in der Krise, Weinheim, 1988;
  • Mitterauer, Michael/ Sieder, Reinhard (Hrsg.): Historische Familienforschung, Frankfurt, 1982;
  • Diess. : Vom Patriarchat zur Partnerschaft, München 1980;
  • Pross, Helge: Familie wohin? , Reinbek, 1979;
  • Rerrich, Maria: Balanceakt Familie, Freiburg, 1990;
  • Richter, Eberhard: Patient Familie, Reinbek, 197o;
  • Rousseau, Jean-Jacqes : Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 1963;
  • Sauer, Gerd: Lehrerträume, in: Beiträge pädagogischer Arbeit, 33. Jahrgang, Halbjahresheft 90/1,Karlsruhe 1990
  • Schipperges, Heinrich: Der Garten der Gesundheit, München 1990;
  • Schwab, Dieter: Familienrecht, München, 1980;
  • Toman, Walter: Familienkonstellationen, München, 1980;
  • Tuchmann, Barbara: Der ferne Spiegel, Düsseldorf 1980;
  • Voß, Ursula: Kindheiten. Gesammelt aus Lebensberichten, München, 1988;
  • Wallerstein, Judith/Blakeslee, Sandra: Gewinner und Verlierer, München, 1989;

 


Anmerkungen

[1] Zahlen aus Rerrich, 1990, S. 15 und Statistisches Bundesamt, 1990, laut FAZ vom 13. 9. 90
[2] Imhof, 1990, S.19
[3] Tagesschau-Meldung, 24.10.90
[4] abgedruckt in der FAZ, 19.10.90
[5] Beck, ebenda, S. 35
[6] Gronemeyer, 1990, S. 117
[7] Menne/Alter, 1988
[8] Rerrich, 1990
[9] Richter, 1970
[10] Beck in der FAZ, ebenda, 1990, S. 35
[11] Hubbard, 1983, S. 11
[12] Zitiert nach Imhof, 1984, S. 141
[13] Imhof, 1990, S. 30
[14] Schipperges, 1990, S. 69 ff.
[15] Imhof, 1987, S. 127
[16] Elias, 1976, Band 1, S. 239 und 229
[17] Hubbard, 1983, S. 61
[18] ebenda, S. 48
[19] Hänsel und Gretel, die davongejagten Geschwister könnten heute ihr Recht auf Erziehung und au.a.sbildung nach Artikel 11 der Landesverfassung von Baden-Württemberg gegen ihre Rabeneltern vor dem Bundesverfassungsgericht sogar einklagen. Artikel 12, Abs. 2 der baden-württembergischen Landesverfassung nennt als verantwortliche Träger der Erziehung "in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend". Diese Reihenfolge ist beabsichtigt. Vergleicht man Landesverfassung mit dem Grundgesetz, fallen erhebliche Differenzen in der Auffassung von verantwortlichen Trägern der Erziehung ins Auge: Das Grundgesetz stellt in Artikel 6 Abs. 1 die Institutionen Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates und streicht in Abs. 2 das natürliche Recht und die zuvörderst obliegende Pflicht der Eltern für Pflege und Erziehung der Kinder heraus, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Die Institutionen haben hier Priorität, nicht die Personen, die Erziehung vollziehen. In der Landesverfassung ist umgekehrt von Ehe und Familie nicht die Rede, aber den Eltern wird gewissermaßen ein inhaltlicher Erziehungsauftrag mitgegeben, der im Grundgesetz gänzlich fehlt: "Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, z.B.ruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlich- demokratischer Gesinung zu erziehen". Das "Ist zu erziehen" grenzt sich deutlich von der eher libertinären Auffassung des Grundgesetzes ab, das die staatliche Gemeinschaft lediglich verpflichtet, über die richtige Betätigung von Rechten und Pflichten der Eltern zur Erziehung zu wachen. Die Verlegenheit des Gesetzgebers, einerseits das natürliche Recht der Eltern auf Erziehung zu achten, ohne andererseits ihre Pflichten gegenüber der staatlichen Gemeinschaft außer in hehren Erzielungszielen festzule-gen, muß zwangsläufig zu einer ungleichen Balance zwischen den verantwortlichen Trägern der Erziehung führen, bei der immer mehr Sand auf die Seite der Waagschale der Schule aufgehäuft wird, während auf Seiten der Eltern der Sand in im-mer größer werdenden Löchern davonrieselt. Dieser schleichende Prozeß läßt sich durch alle Instanzen der Gesellschaft hindurch feststellen, bei denen es um die Übernahme von Verantwortung durch Individuen oder Gruppen für die staatliche Gemeinschaft als solche geht.
[20] Beck/Beck-Gernsheim, 1990, S. 8
[21] Unbemerkt bis heute schrieben sie ein Stück Sozialgeschichte der Familie in ihren Märchen nieder. Am Beispiel des Märchens von der Spindel, dem Weberschiffchen und der Nadel sei dies erläutert:"Es war einmal ein Mädchen, dem starben Vater und Mutter, als es noch ein kleines Kind war. Am Ende des Dorfes wohnte in einem Häuschen ganz allein seine Pate, die sich vom Spinnen, Weben und Nähen ernährte. Die Alte nahm das Kind zu sich, hielt es zu.a.beit an und erzog es in aller Frömmigkeit. Als das Mädchen 15 Jahre alt war, erkrankte sie, rief das Kind an ihr Bett und sagte: "Liebe Tochter, ich fühle, daß mein End.h.rannaht; ich hinterlasse dir das Häuschen, dazu Spindel, Weberschiffchen und Nadel, damit kannst du dir dein Brot verdienen". Sie legte noch die Hände auf seinen Kopf, segnete es und sprach: "Behalt nur Gott im Herzen, so wird dir's wohlergehen!" Darauf schloß sie die Augen, und als sie bestattet wurde, ging das Mädchen bitterlich weinend hinter dem Sarge und erwies ihr die letzte Ehre"(Grimms Märchen, Menden, 1981, S. 169) Sich alleine durch's Leben schlagen zu müssen, ist eines der Grundmuster aller dieser Märchen. Kaum eines kündet auch von geordneten Familienverhältnissen, intakten Ehen, hehren Erziehungsprinzipien, liebevollen Eltern. Im Vordergrund ste­hen: Böse Stiefmütter (z.B. in Brüderchen und Schwesterchen), wo es heißt: Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns fort...); schlechte Eltern (die ihre Kinder Hänsel und Gretel der Verwahrlosung und dem Tod preisgeben); grausame Witwen (Das Mädchen in Frau Holle mußte soviel spinnen, daß ihm das Blu.a.s den Fingern sprang); raffgierige Väter (Daumesdick wird vom Vater kurzerhand verkauft); bösartige Geschwister (Aschenputtel kann ein Lied davon singen) und -dies aber deutlich seltener - prügelnde oder dumme Lehrmeister (Daumerling bekommt fast nichts zu es­sen und Schläge). Vordergründig betrachtet sind die Märchen also eher ein Pandämoniu.a. Grausamkeiten von "Erziehern" gegenüber Kindern, ein Fall für den Staatsanwalt in Sachen Kindesmißhandlung höchstens. Man muß die­se Märchen vom Kopf auf die Füße zu stellen, um sie z.B.greifen: Viele Kinder der Märchen meistern trotz Versagens ihrer Erzieher die schwierig­sten Situationen und werden dadurch selbständig. Die alten Zustände, die zerfallenden Bindungen erleiden Niederlage auf Niederlage. Sie dienen als Karikatur dessen, was einmal war und von dem sich Eltern und Kinder ent­fernen sollten. Felix v. Cube hat mit dem Schlagwort: Fordern statt Verwöh­nen diesen Gedanken wieder aufgegriffen. In der Schilderung der " bösen Formen" von Erziehung lag die kontextuale und pädagogische Botschaft der Grimm's an die damaligen Eltern: Sorgt dafür, daß es euren Kindern nicht wie Hänsel und Gretel, Aschenputtel oder Daumesdick ergeht. Laßtsie los, ohne sie verwahrlosen zu lassen, dann seid ihr verantwortliche Träger von Erziehung. Man muß berücksichtigen, daß dieser Anspruch ausgesprochen wurde zu einer Zeit, in der fast 6o% der Deutschen in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern lebten, in der es nur wenige Schulen gab (und wenn in den Städten), und sich selbst dort nur wenige Elternhäuser Schulgeld oder einen Hauslehrer lei­sten konnten. Das hier proklamierte "Eigenrecht" der Kinder ist nu.a.er keine Erfindung der Gebrüder Grimm, sondern diese haben es in einer Umbruchsphase von Familie lediglich volkstümlich ausgedrückt.
[22] Rerrich, 1990, S. 36
[23] Rousseau, Emile, S. 109 ff
[24] Blankertz, 1982, S. 24 u. 124
[25] Mit der Formierung der bürgerlichen Familie und ihrer Übernahme verantwortlicher Erziehung für die eigenen Kinder wächst der Anspruch auf ergänzende Erziehungsinstanzen, die die eigenen Erziehungsleistungen vervollkomnen, nicht ersetzen. Als Folge bildet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das dreigliedrige Schulsystem heraus, das die unterschiedlichen Verfaßtheiten verschiedener Typen bürgerlicher Familien treffend widerspiegelt.
[26] Bateson, 1985, S. 64o ff.
[27] Elias, 2. Bd., S. 454
[28] Imhof, 1990, S. 35
(29] Beck, 1990, S. 35
[30] Badische Zeitung Freiburg vom 12.10.90
[31] Beck, FAZ, 19.10.90 S. 35
[32] siehe Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt, 1967
[33] Wallerstein/Blakeslee, 1989
[34] ebenda, S. 45/46
[35] Beck, 1990, S. 35
[36] Bronfenbrenner, 1981 S. 178 ff.
[37] Gruen, 1987, S.9
[38] Bronfenbrenner, 1981, S. 178
[39] Korczak, S. 65
[40] Liebau, 1990, S. 89
[41] Sauer, 1990, S. 40
[42] Artikel 17, Abs. 1 Landesverfassung von Baden-Württemberg
[43] Korczak, S. 65
[44] Kästner, 1976, S. 164
[45] Wallerstein/Blakeslee, 1989
[46] ebenda, S. 45/46
[47] Voß,1988, S. 160 ff.
[48] Kästner, 1970, S.157/158
[49] Asper, Kathrin: Verlassenheit und Selbstentfremdung, München, 1990, S. 294