Der Freiburger SDS (1967-1970)
Eine kurze Flamme der Revolution
Bernd Hainmüller
Das Audimax der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Kollegiengebäude II war voll am Morgen des 23. Mai 1967. Rund 1.600 neu eingeschriebene Studentinnen und Studenten sollten bei der „Immatrikulationsfeier“ willkommen geheißen und auf ihre neue Alma Mater verpflichtet werden. Der gesamte Lehrkörper war in das Auditorium maximum eingezogen, an der Spitze der Rektor, die Prorektoren und Senatoren im Talar. Nach akademischem Vortrag und festlichen Klängen trat der zwanzigjährige AStA-Vorsitzende Nicolas Becker ans Rednerpult und schlug weniger feierliche Töne an: Die Hochschule sei keine „heilige Gemeinde", keine „Gralsburg der reinen Wissenschaft" und erst recht kein „nationaler Erziehungstempel [...], in dem das Amt des Priesters zu versehen nur wenigen vorbehalten ist." Mit klaren Worten erteilte der Student solchen Vorstellungen von Universität eine Absage: „Wir Studenten halten die Universität für eine Einrichtung, die sich in Forschung und Lehre um die Wissenschaft bemüht. Soviel, aber mehr nicht. [...] Jede elitäre Überhöhung lehnen wir ab." Wie wenig wir Studierenden selbst von dieser elitären Überhöhung entfernt waren, zeigte sich u. a. darin, dass wir gerade den liberalsten Teil der damaligen Universitätsstruktur mit Professor Heinrich Popitz als Lehrstuhlinhaber zu "entlarven" und ihn persönlich zu verunglimpfen versuchten. Man muss dazu wissen, dass nirgendwo im Bereich der Universität Freiburg die Bemühungen einer Beteiligung der Studierenden an den Studieninhalten weiterging als am soziologischen Institut in der Günterstalstraße. Man muss auch wissen, dass Heinrich Popitz der Sohn des preußischen Finanzministers und Widerstandskämpfers Johannes Popitz war, dessen Ermordung der Sohn als 19-Jähriger miterleben musste. Als er 1964 der Gründungsdirektor des neu geschaffenen Instituts für Soziologie geworden war, hatte er bereits bahnbrechende Beiträge zur Industriesoziologie, zur sozialen Rollentheorie, zur Soziologie der Macht und zur historischen Anthropologie bzw. Techniksoziologie geleistet. All dies nahmen wir nicht nur nicht zur Kenntnis, sondern legten ihm seine liberalen Grundwerte als geeignetes Einfallstor für revolutionäre Provokationen aus. Für so viel Dummheit und Borniertheit möchte ich mich entschuldigen und der Leser kann selbst entscheiden, ob es der Wahrheitsfindung dient oder nicht.
B.H.
Basisgruppe Soziologie
Schwerpunkte: Abschaffung der Zwischenprüfung, Verbindung zur Schule und zum Deutschunterricht, Sprengung der Massenvorlesungen, Kritik des Lehrstoffs.
Die Situation am soziologischen Institut ist durch zwei Hauptmerkmale gekennzeichnet:
1. Die Studieninhalte erleichtern eine Politisierung. Aufklärungsarbeit steht nicht mehr vor der Schwierigkeit (wie bei den Naturwissenschaftlern), erst einmal die Verbindung von Universität, Studium und Gesellschaft klarzumachen, und die Notwendigkeit, diese zu reflektieren, wenn man richtige Aussagen machen will. Deshalb war die Konstituierung einer Basisgruppe relativ leicht. Andererseits erschweren die Studieninhalte paradoxerweise, es begreiflich zu machen, dass auch dieser Studiengang auf seine gesellschaftliche Funktion hin zu untersuchen ist. Für das Gros der Soziologiestudenten reicht ihr „gesellschaftlich" bezogenes „Studienfach" völlig aus, um sich selber dadurch schon für „politisch" zu halten. Für die Beschäftigung mit Marx einen Schein zu bekommen, täglich die FR zu lesen, nebenher auch mal über den Wissenschaftsbegriff der Frankfurter Schule zu plaudern (die dann mit den gelernten Normen kritisiert wird, die jedoch Gegenstand der Kritik der Fr. Schule sind), reicht als Alibi für „progressiv" vollkommen. So sieht sich politische Aufklärungsarbeit vor eine neue Schranke gestellt: nicht unpolitische oder offene Reaktionäre gilt es mit besseren Argumenten zu überzeugen, sondern Studenten, deren Selbstverständnis aus einer Mischung von Avantgardebewußtsein, Extravaganz und Welterkenntnis geprägt ist, Leute, die das ja „schon alles lange kennen", und die irgendwelchen Belehrungen feindselig in den Abstufungen arrogant bis wütend gegenüberstehen.
2. Die Stellung des Alleinordinarius Heinrich Popitz gleicht einem aufgeklärten absolutistischen Monarchen, der seine Untertanen zu Menschen erziehen will, wobei er immer mal wieder resignierend über die Anstrengungen eines solchen Wagnisses und Risikos seufzt. Er ist die zentrale Figur im Institut, der anerkannte Vater seiner vielen kleinen Schüler. Die Nachahmung seines äußerlichen Gebarens dokumentiert dieses Abhängigkeitsverhältnis: abgeklärt, distinguiert mit einem Schuß Arroganz, Zynismus und überlegen resignierender Weltsicht, entspricht er genau der Vorstellung des kleinen Soziologen vom großen Soziologen. Diesen Mann anzugreifen, d. h., ihm einige seiner Privilegien nehmen wollen, der das fortschrittlichste Institut in Freiburg leitet, der einen Studienausschuß mit studentischer Mehrheit und Beschlußkraft eingerichtet hat, musste ein Sakrileg bedeuten. Das mussten die Mitglieder der Basisgruppe erfahren, als sie es wagten, in der Vorlesung diskutieren zu wollen. Ebenso mussten sie erkennen, dass der Studienausschuß gar nicht so eitel progressiv ist: einmal bleiben wichtige Fragen (Finanzierung, Personalfragen) ausgeklammert, zum zweiten hat Popitz ein Vetorecht, um das Schlimmste zu verhüten. (Ganz davon abgesehen, dass die studentischen Vertreter dort bisher nie je gewillt gewesen waren, dem Vater ein böses Wort zu sagen, geschweige denn, ihn zu überstimmen. So war denn die Situation ziemlich schwierig: gegen einen Ordinarius vorzugehen, den viele seiner Studenten als Inkarnation des Fortschritts betrachten, der andererseits aber geschickt genug war, die Politik am Institut und gegenüber der Fakultät letztlich doch immer selber zu machen. Aus ihrer elitär intellektuellen Haltung konnte man Eines von den Soziologen am schwersten erwarten: Den Bezug herzustellen zwischen theoretischer Erkenntnis und zu verändernder Praxis. Das zeichnet schließlich auch Popitz' Soziologie am augenfälligsten aus: dass die Abstraktion nicht mehr zurückbezogen werden kann, jedenfalls nicht von den Studenten. Eine Untersuchung a la Popitz über Herrschaft an der Universität z. B. würde nie dazu geeignet sein, die Studenten zu der Überzeugung zu bringen, diese Herrschaftsverhältnisse selbst ändern zu müssen. Die gelernten Normen müssen bloß „richtig" angewandt werden. Der einzige erfolgversprechende Ansatz war dann auch in erster Linie bei der Kritik der eigenen Arbeitssituation zu finden, d. h. bei der Form der Seminare, Praktika, Prüfungen und der Vorlesung. Es begann in den einzelnen Übungen eine mehr oder weniger konsequente Diskussion über Klausuren, Referate, Literaturlisten und schließlich auch die Stellung des Übungsleiters, was gegen Ende des Semesters dazu führte, dass eine Übung geschlossen zu Gruppenreferaten überging, den Übungsleiter „absetzte" und die Klausur verweigerte. In den anderen Übungen wurde ebenfalls von einer größeren Zahl die Klausur verweigert und andere mögliche Literatur diskutiert. Das alles führte natürlich dazu, dass Popitz restlos unsicher wurde und Klausurverweigerern damit drohte, ihnen keinen Schein auszustellen. Da machte ihm jedoch ziemlich unerwartet der Studienausschuß (StA) einen Strich durch die Rechnung und entschied, dass die Klausur zur Selbstkontrolle jedes Einzelnen auf freiwilliger Basis geschrieben werden könne, aber keine Voraussetzung für einen Schein sei. Ein großer Teil der Soziologen war damit aus der Lethargie gerissen. – Als Popitz damals sich boxend durch die Studentenketten gedrängt hatte, um unter Polizeischutz den Rektor zu wählen, hatte das noch kaum einer zur Kenntnis genommen, aber nun ging es nicht mehr um die belanglose abstrakte Institution „Rektor", sondern um den eigenen Schein, um die eigene Unterdrückung. Die Selbsttätigkeit, die Popitz mit seiner Idee eines Freisemesters bei den Studenten in Gang bringen wollte, entwickelte sich plötzlich in eine unangenehme Richtung: Popitz' autoritäre Stellung wurde immer mehr erkannt und angegriffen. Damit wurde auch das Freisemester zu einer Gefahr für ihn. Es sollte ein Semester ohne die herkömmlichen Übungen sein, in dem die Studenten ihre Arbeitsgebiete selbst bestimmen und in freien Arbeitsgruppen ohne Klausuren bearbeiten sollten. In der neuen Situation wurde nun diese Idee die vorher kaum Beachtung fand, aufgegriffen mit der Intention, autoritäre Situationen am Institut abzuschaffen. Dabei wäre natürlich Popitz als erster gefallen, und das wußte er wohl. Er revidierte seinen Vorschlag und gestattete nur noch freie Arbeitsgruppen neben den regulären Übungen – die Vorlesung durfte auch nicht angetastet werden. Der StA machte mit: das Freisemester war gestorben. Aber das Verhängnisvollste war, dass man die freien Arbeitsgruppen als Geschenk von Vater Popitz annahm, die ursprünglichen Konflikte vergaß und die „politische" Arbeit darauf beschränkte, die freien Arbeitsgruppen zu organisieren. Von der politischen Argumentation, dass man die Autoritätsfixierung aufheben müsste, um in freier Arbeit die Beziehung von individuellem Interesse und wissenschaftlicher Erkenntnis herzustellen und damit die Wissenschaft praktisch wirksam zu machen, blieb nur eines übrig: man darf nebenher auch eine Arbeit betreiben, die Spaß macht (Musiksoziologie, Literatursoziologie u.ä.). Das Konkurrenzangebot von Popitz: die regulären Übungen werden also weiterhin die Studenten davon abhalten, in die freien Arbeitsgruppen zu gehen. Denn die regulären Übungen bieten Sicherheit. dass damit am üblichen Lehrbetrieb noch nichts Wesentliches geändert ist, muss jetzt klargemacht werden. Die Vorlesung muss gesprengt, in den Übungen die Klausur verweigert, die Zwischenprüfung boykottiert und schließlich muss dafür gekämpft werden, dass im Winter ein wirkliches Freisemester durchgeführt wird.
Haynmüller/Krieger/Theweleit*/Wiese, Freiburger Studentenzeitung FSZ, Ausgabe 9. März 1969
*) Klaus Theweleit ist inzwischen Reinhold-Schneider-Preisträger der Stadt Freiburg; was aus den Stud.soz. Lothar Krieger und Gerhard Wiese geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.