Berufswahl-Stimmt dieser Begriff noch?
Bernd Hainmüller
,,Berufswahl” bezeichnet in der Alltagssprache jenen Ausschnitt aus dem umfassenden Prozeß der Sozialisation und Identitätsfindung sowie der gesellschaftlichen Integration junger Menschen, der auf ihre Eingliederung in das System erwerbswirtschaftlicher Arbeit in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft hin ausgerichtet ist. Dieser Prozeß der Berufswahl reicht von ersten kindlichen Berufswünschen über eine Folge von Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsplatzentscheidungen bis hin zur ersten stabilen beruflichen Einmündung. Er beinhaltet auf der individuellen Ebene eine, dem jeweiligen Alter angemessene, kontinuierliche Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Interessen, Wertorientierungen und Lebensentwürfen auf der einen, den Inhalten und Anforderungen, Chancen und Risiken der Berufe und Arbeitsmärkte auf der anderen Seite.
Die Berufswahl stellt für junge Menschen zugleich eine, in einem bestimmten Lebensabschnitt zu bewältigende biographische Aufgabe dar - häufig der Anfang einer Reihe von selbständig und ei-genverantwortlich zu treffenden Lebensentscheidungen. In der Regel ist weder die Aufgabe als solche noch der Zeitpunkt ihrer ,,Bearbeitung” frei gewählt, sondern meist durch das Ende der Schul-zeit vorprogrammiert - begründet mit der Notwendigkeit, die künftigen Lebenschaneen und die vollwertige Teilhabe an der Gesellschaft durch eigene Erwerbsarbeit zu sichern.
Berufswahl ist daher in vielen Fällen nicht ein genuines Anliegen von Jugendlichen, die in dieser Lebensphase meist mit anderen Adoleszenzproblemen beschäftigt sind, sondern eine von außen an sie herangetragene Erwartung. Hinzu kommt, daß die zur Wahl stehenden Alternativen begrenzt (z.B. durch geregelte Ausbildungsgänge, Berufsbilder und Zugangsvoraussetzungen) und deren Zukunftsperspektiven unsicher sind - von einer ,,Wahl” also nur in eingeschränktem Sinn gesprochen werden kann. Aus der Diskrepanz zwischen Erwartungsdruck von außen und der vielfach noch nicht vorhandenen inneren Bereitschaft und Fähigkeit, sich der Berufswahlaufgabe zu stellen, resultiert die häufig beklagte berufliche Desorientierung und Unentschlossenheit Jugendlicher. Aus gesellschaftlicher Pespektive erfüllen Berufswahl und Berufsbildung vor allem die Funktio¬nen der Sozialisation, der Integration, der Qualifikation und der Allokation des Individuums: Durch sie wird der junge Mensch in die bestehende Gesellschaftsordnung hinein sozialisiert und integriert und das menschliche Arbeitsvermögen (Humankapital) den differentiellen Anforderungen der arbeitsteiligen Produktion entsprechend geformt und plaziert. Das öffentliche Interesse am Berufswahlverhalten junger Menschen resultiert nicht zuletzt aus dem sozial- und arbeitsmarktpolitischen Bemühen, größere strukturelle Diskrepanzen zwischen Arbeitskräftenachfrage und Arbeitskräfteangebot, berufliche Fehlentscheidungen, Ausbildungsabbrüche sowie Arbeitslosigkeit durch frühzeitige und umfassende berufliche Information und Beratung zu vermeiden.
1.Berufswahl: Ein untauglicher Begriff für ein komplexes Phänomen?
Wie die meisten alltagssprachlichen Begriffe beschreibt der Begriff ,,Berufswahl” die dargestellten Sachverhalte nur verkürzt und unzureichend. Weder handelt es sich im engeren Sinne um eine ,,Wahl” oder einen einmaligen Entscheidungsakt, noch wird in der Regel ein ,,Beruf‘ gewählt. Treffender wäre es, von einem ,,Berufsfindungsprozeß” zu sprechen, in dessen Verlauf über eine Folge gestufter, voneinander abhängiger Entscheidungen (z. B. über Schullaufbahnen, Ausbildungs- oder Studiengänge) ein bestimmtes Qualifikationsprofil erworben wird, das die Ausübung einer Reihe beruflicher Tätigkeiten bzw. die Übernahme bestimmter beruflicher Positionen ermöglicht oder ver-schiedene berufliche Laufbahnen eröffnet. Die Beharrlichkeit, mit der der Begriff der Berufswahl bis heute verwendet wird, hat jedoch durchaus seine Funktion: Durch ihn wird der Prozeß der Berufsfindung in seiner zeitlichen Dimension eingegrenzt auf die letzten ein bis zwei Jahre vor Schulentlassung, und er wird fokussiert auf den Zeitpunkt der angeblich ,,ersten Berufswahl”, d.h. in der Regel der Wahl des ersten Ausbildungsganges nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule. Das Festhalten am Berufsbegriff (statt z.B. von Ausbildungswahl zu sprechen) überhöht aber die Bedeutung und Tragweite dieser Entscheidung und erweckt den Anschein, mit dieser Entscheidung werde der ,,Beruf fürs Leben” gewählt. Damit entsteht ein hoher Erwartungs-und Entscheidungsdruck, der nicht nur psychisch belastend wirkt, indem er den Eindruck der Endgültigkeit und Irreversibilität hervorruft, sondern der angesichts der Entwicklungsdynamik und der Flexibilität von Berufsverläufen und Arbeitsmarktprozessen falsche Signale für die jugendlichen Berufswählerinnen und Berufswähler setzt.
Ein solchermaßen eingegrenzter Problemzuschnitt erleichtert es Schule und Berufsberatung, Wirtschaft und Politik, die in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich liegenden Interventionsstrategien zur Vorbereitung, Unterstützung und Qualifizierung der Berufswahl zu entwickeln. Damit verbunden ist allerdings auch die Gefahr, daß die vor- und nachgelagerten Sozialisations- und Entscheidungsphasen ausgeblendet werden und der Zusammenhang der Berufswahl mit den sich gleichzeitig entwickelnden Lebensentwürfen, Norm- und Wertvorstellungen Jugendlicher aus dem Blick gerät.
Die oft beklagte Interesselosigkeit, mit der Jugendliche den institutionellen Informations- und Beratungsangeboten in Schule und Berufsberatung begegnen, hat mit dieser verkürzten Sicht zu tun, die Berufswahl als ein isoliertes "matching"- und Entscheidungsproblem behandelt und nicht in den Zusammenhang der Lebensentwürfe junger Menschen stellt. Jugendliche fragen in der Regel nicht:
- Welche Tätigkeiten will ich später ausüben?
-
Mit welchem Material,
-
an welchem Arbeitsort will ich arbeiten?”
sondern sie fragen:
- ,,Wie will ich später leben und arbeiten?
- Was soll mir mein Beruf ermöglichen?”
Während auf erstere Fragen die professionellen Ratgeber mit einer Fülle berufskundlicher Informationen antworten können, gibt es auf die Fragen nach der Einbettung des Berufs in die Lebenswelt, nach den sozialen Attributen von Berufen ,kaum Antworten.
2. Der Doppelcharakter von ,,Beruf”: Strukturmerkmal erwerbswirtschaftlicher Arbeit und Kristallisationspunkt sozialer Identität
Nun könnte man den Begriff der Berufswahl, wenn er sich denn als untauglich für die Umschreibung dieses komplexen Sachverhalts erwiesen hat, durch einen treffenderen ersetzen oder in seine verschiedenen Dimensionen zerlegen. Doch dies erweist sich als aussichtslos - nicht nur, weil er tief im Bewußtsein von Jugendlichen, Eltern und Lehrern verankert ist, sondern wegen des Doppelcha-rakters, den der Beruf in unserer Gesellschaft aufweist: Beruf” steht im deutschen Sprachgebrauch zum einen für die Ausdifferenzierung erwerbswirtschaftlicher Arbeit in einer arbeitsteiligen Produktion nach unterschiedlichen Tätigkeiten, Funktionen und Positionen. Diese lassen sich beschreiben nach Arbeitsinhalten, -gegenständen, -materialien, -orten, aber auch nach Qualifikationen, Anforderungen, Bezahlung, Grad der Selbständigkeit, Autonomie und Weisungsbefugnis.Zum anderen steht Beruf für die soziale Verortung des Individuums in der Gesellschaft. Er umfaßt ein je spezifisches Bündel von Normen, Wertvorstellungen, Qualifikationen und Kompetenzen, die für die Ausübung eines Berufs charakteristisch und verbindlich sind. Diese werden in der Regel durch institutionalisierte Ausbildungsgänge mit vorgegebenen Zugangsvoraussetzungen erworben, die die Berufsangehörigen gegenüber anderen abgrenzen oder auszeichnen. Damit verleiht der Beruf eine bestimmte Position in der sozialen Hierarchie einer Gesellschaft, die mit einem bestimmten Ansehen und Sozialprestige verbunden ist. Die hohe Verregelung und Verrechtlichung der Erwerbsarbeit in Deutschland erweist sich unter anderem darin, daß der Arbeitsmarkt hier - stärker als in Ländern mit anderen Traditionen, wie zum Beispiel England oder die USA - beruflich organisiert und strukturiert ist und daß auch der Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Erwerbsarbeit über Berufe und gesetzlich geregelte Berufsausbildungen erfolgt. Trotz vielfältiger Auflösungs- und Deregulierungstendenzen, die auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt und im Berufesystem als Fol¬ge der Internationalisierung und des wachsenden Konkurrenzdrucks zu beobachten sind, hat sich an den Grundmustern des beruflich strukturierten Arbeitsmarktes und der beruflich strukturierten Zugänge zum Arbeitsmarkt wenig geändert.
Daher hat auch Berufswahl für junge Menschen einen Doppelcharakter: Sie beinhaltet nicht nur eine Folge von Bildungs- und Ausbildungsentscheidungen zum Erwerb eines bestimmten Qualifikationsprofils, sondern gleichzeitig die Entscheidung für eine bestimmte berufliche Identität und soziale Verortung. Auch dies kommt in dem Begriff ,,Berufswahl” zum Ausdruck, der eben mehr und Komplexeres beinhaltet als beispielsweise die angelsächsischen Worte ,,occupational choice” oder ,,career choice”, die deutlicher auf die jeweils im Vordergrund stehenden Aspekte der anstehenden Entscheidung (Tätigkeit oder berufliche Laufbahn) abheben. Das deutsche System der Berufsausbildung spielt hierbei eine wichtige Rolle: Basierend auf der traditionellen, handwerklichen Lehrausbildung geht es immer noch von einer weitgehenden Entsprechung von erlerntem und ausgeübtem Beruf aus, die vielfach noch in der Namensgleichheit zum Ausdruck kommt.
In der Realität erweist sich allerdings, daß es diese enge Entsprechung von Ausbildungsberuf und Erwerbsberuf, von erworbenen Qualifikationen und zugeordneter beruflicher Tätigkeit oder Laufbahn auch in Deutschland immer weniger gibt. Ergebnisse der Berufsverlaufsforschung belegen, daß sich solche traditionellen Bildungs- und Berufsbiographien zunehmend auflösen, daß mit einer Entscheidung für einen Ausbildungsberuf oder ein Studium in den wenigsten Fällen mehr der Lebensberuf gewählt wird. Brüche nicht nur in der beruflichen Biographie, sondern auch in der durch den Beruf vermittelten Identität und sozialen Verortung sind somit vorprogrammiert. Berufswahl wird zunehmend zur Fiktion.
3. Die ,,Signale” der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes für die Berufswahl
Die Signale aus dem Beschäftigungssystem, die die Jugendlichen am unmittelbarsten erreichen und ihre beruflichen Pläne beeinflussen, sind die vom Arbeitsmarkt: Welche Sektoren der beruflichen Ausbildung sind krisen- und zukunftsfest? Welche nicht? Wohin entwickelt sich die Wirtschaft? Was für Qualifikationen sind in der Zukunft gefragt, welche nicht? Aber nicht nur aus der Presse, auch in ihren Elternhäusern und im sozialen Umfeld diskutieren junge Menschen im¬mer wieder die Fragen des wirtschaftlichen Strukturwandels, der vor ihren Augen vor sich geht. Hat mein Vater/meine Mutter eine Berufswahl getroffen, die heute auch für mich noch gelten könnte? Und wenn nicht, in welche Richtung soll ich dann gehen?
Im Zuge der Globalisierung des Wirtschaftens und der Arbeitsmärkte und unter dem internationalen Wettbewerbs- und Kostendruck sind die Unternehmen bemüht, ihre Arbeitskosten zu senken. Pro-duktivitätssteigernde Maßnahmen durch weitere Automatisierung und Rationalisierung der Produktion im Inland, durch Verlagerung arbeitsintensiver Produktion in Billiglohnländer, ,,schlankere Produktion” und ,,schlankeres Management” sowie durch ,,outsourcing”-Strategien führen in vielen Unternehmen zu vermindertem Personal- und Fachkräftebedarf und in der Konsequenz zu einer Reduzierung oder völligen Aufgabe der Berufsausbildung. Andererseits sind die Chancen auf dem Berufsausbildungsmarkt derzeit besser denn je: Manche Betriebe versuchen, Schulabgänger "mit dem Lasso" zu fangen. Aber der Preis des Ersteinstiegs in die Firma wird oft verschwiegen: Für die Berufstätigen ergeben sich aus dem Strukturwandel steigende Anforderungen an ihre berufliche Mobilität. Tätigkeits- und Berufswechsel, ,,lebenslanges” Lernen und Umlernen sowie Anpassungsbereitschaft an wechselnde Betriebs- und Arbeitsmarkterfordernisse werden stärker noch als bisher schon die beruflichen Biographien prägen. Hinzu kommt eine wachsende Deregulierung bisheriger Normalarbeitsverhältnisse. Das Modell des lebenslang Vollzeiterwerbstäti gen mit gesicherter tariflicher Entlohnung, Arbeitszeit und Alterssicherung wird sich zunehmend in Richtung auf flexible, individuell vereinbarte, aber auch prekäre und ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse verändern. Diese Entwicklung wird vor allem die Berufsanfänger treffen und den Berufseinstieg erschweren.
Ist der wirtschaftliche Strukturwandel hin zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft ein Hoffnungsträger für "neue Erwerbs- und Berufsmöglichkeiten, auch wenn er einhergeht mit einem anhaltenden Höherqualifizierungstrend in Wirtschaft und Gesellschaft? Andererseits differenziert sich das Wirtschaftsgefüge weiter aus: Motor von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung werden in Zukunft nicht mehr die großen Konzerne sondern zunehmend Mittel- und Kleinbetriebe und die zunehmende Zahl von Selbständigen und Existenzgründern sein. Doch wird die Expansion in diesen Bereichen und die damit einhergehenden steigenden Qualifikationsanforderungen per saldo mehr Arbeitsplätze schaffen, oder fördert sie nur eine Umstrukturierung zulasten von Arbeitsplätzen im primären und sekundären Sektor und zulasten von Arbeitsplätzen für un- und angelernte Kräfte, deren Beschäftigungschancen in Zukunft drastisch sinken werden? Eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung oder ein Studium sind also mehr denn je die unverzichtbare Eintrittskarte ins Beschäftigungssystem. Aber sie garantieren nicht mehr dauerhafte und ausbildungsadäquate Beschäftigung. Nur eines scheint sicher zu sein:
Auch wenn ein akademisches Studium heute keine Garantie mehr für eine erfolgreiche berufliche Karriere darstellt ,gilt dennoch: Je höher die Qualifikation, um so besser ist man vor Arbeitslosigkeit, unterwertiger Beschäftigung oder Bezahlung geschützt und um so größer sind die Chancen für eine interessante, gut bezahlte Arbeit, beruflichen Aufstieg und für eine Karriere.
4. Vom Sinn der Arbeit: Lebensentwürfe und Arbeitsorientierungen
Berufswahlüberlegungen sind in der Regel eingebunden in die sich entwickelnden Lebensentwürfe von Heranwachsenden. Lebensentwürfe sind die auf ihr künftiges Leben bezogenen Vorstellungen Jugendlicher, in denen - als ein Bereich unter mehreren - auch Bildung, Beruf und Arbeit ihren Platz haben. Ein Lebensentwurf ist einerseits etwas Ganzheitliches - im Gegensatz zu eher fragmentarischen, auf einzelne Lebensbereiche bezogene Pläne oder konkrete Absichten. Andererseits bezeichnet er aber auch etwas Vorläufiges, noch im Entstehen Begriffenes, Veränderbares, das aber dennoch für Jugendliche handlungsorientierend ist, d.h. bereits eine gewisse Verbindlichkeit besitzt.
Welchen Stellenwert Arbeit darin einnimmt und welche Sinngebung sich damit verbindet, ist eine Schlüsselfrage für das Verständnis von jugendlichem Bildungs- und Berufswahlverhalten. Eine gängige These in diesem Zusammenhang besagt, daß der allgemeine gesellschaftliche Werte-wandel hin zu hedonistischen Einstellungen, d.h. zu individueller Genußorientiernng, eine Abnahme der Arbeitsethik zur Folge habe. Diese Entwicklungen seien unter anderem mit dafür verantwortlich, daß Beruf und Leistung keine so zentrale Rolle mehr in den Lebensentwürfen junger Menschen spielen und daß die Berufswahl selbst eben auch zunehmend unter hedonistischen Kriterien getroffen werde (Was macht mir Spass, was nicht?) .
Die Jugendforschung liefert hierzu keine einheitlichen Befunde und läßt breiten Raum für unterschiedliche Interpretationen. Zunächst belegen die meisten Jugend- und Berufswahlstudien den nach wie vor hohen Stellenwert von Arbeit und Beruf in den Lebensentwürfen. In den antizipierten Lebensentwürfen von Jugendlichen nimmt die Berufstätigkeit seit Jahren eine dominate Stellung gegenüber anderen Lebensbereichen wie Part¬nerbeziehungen, Familie, Freizeit oder Hobbies ein. Dies gilt insbesondere für Haupt- und Realschülerinnen, während Gymnasiasten eine vergleichsweise größere Distanz zu ar-beitsbezogenen Werten erkennen lassen. Neben der subjektiven Bedeutung der Berufsarbeit im Lebensentwurf ist für das Verständnis von Bildungs- und Berufswahlentscheidungen die Sinngebung von Arbeit, d.h., was Jugendlichen an der Erwerbsarbeit inhaltlich wichtig ist, von hoher Relevanz. Hierzu liegen aus neueren Jugendstudien weitgehend übereinstimmende empirische Befunde vor: Befragt nach dem, was Jugendlichen bei ihrer späteren Berufstätigkeit besonders wichtig ist, steht - vereinfacht gesagt - die materiell-existenzsichernden Funktionen von Arbeit (sicherer Arbeitsplatz, Geldverdienen) an oberster Stelle, gefolgt von eher sozial-humanistischen Motiven (etwas Nützliches tun, anderen Menschen helfen). Erst danach kommen karriereorientierte Sinngebungen von Arbeit (Karriere machen, durch Leistung vorankommen). Diese Rangordnung ist in den vergangenen Jahren weitgehend stabil geblieben bei einer leichten Zunahme karriereorientierter und einem entsprechenden Rückgang sozial-humanistischer Orientierungen. Die Arbeitsorientierungen junger Frauen gehen dabei eher in Richtung sozial-humanistischer Motive, junge Männer hingegen zeigen sich eher an den existenzsichernden oder karriereorientierten Aspekten von Arbeit interessiert. Bildungs- und schichtspezifische Unterschiede verweisen auf die unterschiedlichen Reproduktionsbedingungen in den Elternhäusern: Materiell-existenzsichernde oder auch negative Arbeitsorientierungen sind häufiger bei Arbeiterkindern und Hauptschülern, sinn- und interessenbezogene Deutungsmuster häufiger bei Jugendlichen mit höherer schulischer Vorbildung bzw. solchen aus Angestellten- und Selbständigenfamilien zu finden.
5.Interesse - das wichtigste Berufswahlmotiv
Die Lebensentwürfe und allgemeinen beruflichen Wertorientierungen bilden die Hintergrundfolie dafür, wie Jugendliche mit ihrer bevorstehenden Berufswahl umgehen, mit welchen Einstellungen, Erwartungen und Motiven sie diese verbinden und welche Realisierungskonzepte sie entwickeln. Interessant ist, daß sich die oben dargestellten grundlegenden Arbeitsorientierungen nicht 1:1 in den von Jugendlichen geäußerten Berufswahlmotiven abbilden. Während bei der Frage nach dem, was einem bei der späteren Berufstätigkeit wichtig ist, eher die materiell-existenzsichernden Interessen auf den vorderen Plätzen rangieren, legen Jugendliche bei der Wahl des zu erlernenden Berufs oder Studienfachs ein deutlich stärkeres Gewicht auf Interessen und Eignung: Der Beruf, den sie erlernen, soll ,,Spaß machen", interessant sein, und man muß dafür geeignet sein. Dies zeigen verschiedene empirische Studien sowohl bei Schulabgängern als auch bei Auszubildenden und Studierenden. Intrinsische Motive haben demnach bei der Entscheidung für eine Berufsausbildung oder ein Studium einen höheren Stellenwert als materiell-existenzsichernde oder karriereorientierte Motive. Diese Einstellung haben sich in den vergangenen Jahren als relativ stabil erwiesen, auch wenn je nach Konjunkturlage die Sorge um Ausbildungs- und Arbeitsplätze mal stärker, mal schwächer ausgeprägt ist. Neben solchen, eher abstrakten und noch nicht auf konkrete Berufsbilder, Studienfächer oder Ausbildungsplätze bezogenen Motiven wird die tatsächliche Entscheidung von einer Vielzahl weiterer Faktoren beeinflußt. Die Verfügbarkeit von Ausbildungs- oder Studienplätzen, die jeweilige Lage auf dem Aus-bildungs- und Arbeitsmarkt, regionale Bedingungen und familiäre Einflüsse sowie nicht zuletzt Zufälligkeiten der individuellen biographischen Situation bestimmen in starkem Ausmaß die endgülti-ge Entscheidung mit.
6. Konkretisierung beruflicher Pläne: Das Ziel ist klarer als der Weg
Selbst vielen Jugendlichen mit konkreten Berufs- oder Studienabsichten scheint heute unklar zu sein, auf welchen Ausbildungswegen sie zu ihrem Ziel gelangen wollen. Auf die Frage nach dem Bildungsgang, der für sie nach Schulende in Frage kommt, nennt die Mehrzahl zwei oder drei Alternativen, also Lehre oder Studium, Fachhochschule oder Universität, Lehre oder Berufsfachschule usw. Insbesondere für Haupt- und Realschüler/-innen stellt sich dabei auch die Frage einer schulischen Höherqualifizierung vor der Einmündung in eine berufliche Ausbildung. So möchte rund ein Viertel erst einmal weiter zur Schule gehen. Etwa 30 Prozent der Realschüler und der Gesamtschüler ziehen auch ein späteres Studium in Erwägung. Mit dem Erwerb der Fachhoch- oder Hochschulreife wollen sie sich diese Option offenhalten, auch wenn sie zunächst eine berufliche Ausbildung anstreben. Viele Abiturienten hingegen überlegen, ob sie sich durch eine betriebliche Ausbildung - alternativ oder zusätzlich - vor dem Studium absichern sollen: Immerhin 43 Prozent ziehen neben einem Studium auch eine Lehrausbildung in Betracht. Diese Ergebnisse verdeutlichen die Unsicherheit, die sich aufgrund der zunehmenden Unübersichtlichkeit und Ausdifferenzierung der Bildungsgänge unter Jugendlichen ausbreitet und die Ausbildungswahl erschwert. Denn dies kommt offensichtlich nicht nur darauf an, für welche Berufe und Tätigkeiten man sich interessiert. Mindestens ebenso wichtig ist, welcher Ausbildungsweg im künftigen Wettbewerb um interessante Tätigkeiten, angesehene Positionen, hohes Einkommen und berufliches Fortkommen die besseren Voraussetzungen schafft und möglichst viele Optionen offen hält.
Wie bereits angedeutet, führt von den frühen beruflichen Vorstellungen Jugendlicher bis zur tatsächlichen beruflichen Einmündung ein weiter Weg, in dessen Verlauf sich junge Menschen mit ihren beruflichen Interessen und Fähigkeiten, den Inhalten und Anforderungen der Berufe und den Gegebenheiten des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes auseinandersetzen müssen. Eine Abkehr von frühen Wunschberufen auf der Basis verbesserter Kenntnisse und Informationen über die Berufs-und Arbeitswelt und einer realistischen Einschätzung eigener Stärken und Schwächen ist daher kei¬ne Seltenheit und im Sinne einer rationalen Berufswahl auch notwendig. Zusätzliche Anpassungszwänge der Berufswünsche an die Marktverhältnisse ergeben sich insbesondere dann, wenn das Ausbildungsstellenangebot - so wie gegenwärtig - deutlich über der Nachfrage liegt und wenn gleichzeitig die beruflichen Strukturen der angebotenen und nachgefragten Lehrstellen erheblich auseinanderklaffen, wie dies seit geraumer Zeit der Fall ist. Dann werden allenthalben Klagen über die unrealistischen Berufswünsche und die mangelnde berufliche Flexibilität Jugendlicher bei der Berufswahl laut. Die Schulabgänger - so heißt es - würden sich überwiegend an den attraktiven ,,white collar” Berufen orientieren und seien auf ihren ,,Traumberuf‘ fixiert, während zahlreiche Lehrstellen in den gewerblich-technischen bzw. handwerklichen Berufen unbe¬setzt blieben. Diese Argumentation verkennt die tatsächlich sehr hohe berufliche Flexibilität und Anpassungsbereitschaft junger Menschen, die sich nicht nur in Befragungen, sondern auch in objektiven Statistiken niederschlägt.