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Behinderte helfen Nichtbehinderten

Ein fächerübergreifendes Projekt

Hiltrud Hainmüller

Hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen stoßen behinderte Menschen immer wieder an Grenzen, die ihnen das Leben schwer machen schwerer, als es sein müsste. Gesunde Menschen haben hingegen oft Schwierigkeit, den Alltag aus der Sicht von Behinderten zu sehen, und sie tun sich deshalb schwer bei dem Versuch, auf deren Bedürfnisse einzugehen. Oft fehlt die Erfahrung im Umgang mit Menschen, die eine Behinderung haben, und daraus erwächst die Scheu, ihnen offen, ungezwungen, >normal< zu begegnen.

Der Verein »Behinderte helfen Nichtbehinderten« hat es sich zum Ziel gesetzt, beide Gruppen miteinander in einen Austausch zu bringen. Durch Formen praktischer Zusammenarbeit sollte der Wahrnehmungshorizont Nichtbehinderter erweitert werden. Praktisch geht das wie folgt vor sich: Ein technischer Lehrer der Gertrud-Luckner-Gewerbeschule Freiburg, Michael Weymann, der selbst behindert und zugleich als Spitzensportler im Bereich des Behindertensports aktiv ist, ergriff zusammen mit Lehrern aus dem Bereich der Zweiradmechanik der Gewerbeschule Breisach die Initiative, Lehrer aus dem technischen und allgemeinbildenden Bereich sowie die Schüler für die Durchführung von fächerübergreifenden Projekttagen zu gewinnen.

Planung und Durchführung

Bereich Technik

Da der Lehrplan für Zweiradmechaniker vorsieht, dass Schüler die Reparatur, Einstellung und Vermessung von Behindertenfahrzeugen kennenlernen, wurden von Herrn Weymann verschiedene Behindertenfahrzeuge vorgestellt, so z.B. das Rolli-Bike, eine Kombination von Rollstuhl und Fahrrad, die sich im Behindertensport einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Die Wartung und Einstellung dieser Bikes und anderer Rollstühle wurde während der Projekttage unter fachmännischer Anleitung eingeübt.

Im Bereich Allgemeinbildung

In den Fächern Ethik, Religion, Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde fand eine Unterrichtseinheit zum Thema „Leben mit Behinderung in unserer Gesellschaft“ statt, in deren Verlauf die Schüler einen eigenen Plan für die Gestaltung der Projekttage entwickelten. Zunächst wurde das Vorwissen zum Thema ermittelt und anhand von Texten und Dokumentarfilmen vertieft. Die Schüler sollten im Laufe der drei Tage alle am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, sich als Behinderter in Breisach zurechtzufinden, und planten eine >Rollitour< durch Breisach. Die Zugänge zu Supermärkten, Telefonzellen, Post, Bahnhof, Rathaus, Schulen, Arztpraxen und Apotheken sollten auf ihre Behindertentauglichkeit überprüft werden. Gemeinsam wurde eine Podiumsdiskussion mit Behinderten vorbereitet.

Zur Strukturierung der Diskussion erarbeiteten die Schüler einen umfangreichen Fragenkatalog:

  • Wie lange dauert es, bis man sich an den Rollstuhl gewöhnt hat?
  • Haben Sie noch genauso viele Freunde wie vor Ihrem Unfall?
  • Stört es Sie, wenn andere Menschen Ihnen helfen wollen oder müssen?
  • Können Sie alleine wohnen?
  • Mussten Sie Ihre Wohnung umbauen?
  • Können Sie autofahren?
  • Belästigen wir Sie mit diesen Fragen?
  • Welchen Beruf üben Sie aus?
  • Können Sie selbst Geld verdienen?
  • Welchen Sport betreiben Sie?
  • Können Sie schwimmen?
  • Ist Sexualität noch lebbar?
  • Wie kommt ihr Freund/Ihre Freundin mit der Behinderung zurecht?
  • Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich umzubringen?
  • Bekommen Sie finanzielle Unterstützung vom Staat?

Die Fragen wurden von den Podiumsteilnehmern in einer sehr lebendigen Diskussion ausführlich beantwortet.

Ergebnisse

Zur Abschlussveranstaltung (Diskussion mit Betroffenen und Präsentation der eigenen Arbeit) waren als Gäste eingeladen:

  • Esther Weber-Kranz (u.a. Olympiasiegerin der Paraolympics im Fechten),
  • Manfred Fischer (erblindet, u.a. Weltmeister im Tandem-Fahren),
  • Adalbert Kromer (Bundestrainer der Behindertenradsportler),
  • Christian Meyer (Olympiasieger von Barcelona 92 im Straßenvierer, seit einem Sportunfall behindert),
  • Bruno Stratz (selbst behindert und Eigentümer der Firma Velomanie, in der Rolli-Bikes vertrieben werden).

Die Schüler präsentierten den Gästen zunächst die Ergebnisse der eigenen Arbeit: im technischen Bereich wurden anhand von Dias Funktionsweise, Reparatur und Einstellungsmöglichkeiten an Behindertenfahrzeugen erklärt. Die Rollitour durch Breisach wurde mit einem Videofilm dokumentiert. Jeder Schüler hatte auf einem Plakat seinen ganz besonderen Eindruck von der Rollstuhltour in einem Satz zusammengefasst:

  • Es ist ein komisches Gefühl anderen Menschen von unten in die Augen zu schauen.
  • Die Entfernung, die zu vielen Dingen durch ein oder zwei Stufen entsteht, ist bemerkenswert.
  • Jede Straße hat ein Gefälle, das fällt einem erst im Rollstuhl auf. Auml;ltere Leute waren freundlicher als Jüngere.
  • Ich bin noch nie in meinem Leben so mitleidig angeschaut worden. Man ist ganz oft auf fremde Hilfe angewiesen.
  • Es gibt nur ganz wenige behindertengerechte Ein- und Ausfahrten an Geschäften und öffentlichen Einrichtungen.
  • Es ist verdammt anstrengend, schränkt unheimlich ein.
  • Mehr Aufklärung zum Thema Behinderung bei jungen Menschen, um Unsicherheit und Ängstlichkeit zu überwinden.

Während der abschließenden Podiumsdiskussion entwickelte sich ein reger Austausch zwischen Gästen und Schülern. Die Behinderten konnten auf überzeugende Weise darstellen, dass es ihnen gelungen ist, ihr Leben trotz der Behinderung in die eigene Hand zu nehmen und zu meistern. Besonders der Sport ist ihnen dabei eine große Hilfe. Mühsam ist für Behinderte oft der Weg über die Ämter, um Geld für Spezialeinrichtungen aufzutreiben. Manchmal muss mit einem sozialen Abstieg gerechnet werden. Ganz abfinden wird man sich mit der Tatsache, ein Leben lang behindert zu sein, wohl nie. Aber es gibt Möglichkeiten, für Körper, Geist und Seele etwas zu tun und im ständigen Austausch mit Nichtbehinderten Kontakte zu halten und zu vertiefen. Die Projekttage waren sowohl aus Lehrer- als auch aus Schülersicht ein voller Erfolg. Der Erwerb des technischen Knowhows, die Möglichkeit eigener, unmittelbarer Erfahrungen, die Reflexion im lebendigen Austausch mit Betroffenen alle diese Bereiche wurden auf sinnvolle Art miteinander verknüpft, so dass hier schulisches Lernen auf verschiedene Felder wie das berufliche, politische und soziale Leben ausgerichtet werden konnte. Die Zeit verging wie im Flug, und wir hatten viel Freude und Spaß an der gemeinsamen Arbeit.