StartseitePublikationenBernd HainmüllerArmut - die verdrängte Kategorie

Armut - die verdrängte Kategorie

Bernd Hainmüller

Vorbemerkung
Dieser Artikel stammt aus dem Jahre 1996. Er hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ein Unterschied fällt dem Leser vielleicht nicht gleich ins Auge: Armut in der Bundesrepublik war vor 18 Jahren ein Begriff, den es in der Bundesrepublik eigentlich nicht gab. Es ist  das Verdienst des Deutschen Caritasverbandes, mit der ersten Armutsstudie 1993 die Finger in eine Wunde gelegt zu haben, die die deutsche Öffentlichkeit allzu leicht verdrängt hatte. Der Autor hatte im Rahmen einer Abordnung als Lehrer zu einem Fachverband des DiCV die Gelegenheit, an der Datensammlung für diese bahnbrechende Studie mitarbeiten zu können. Im Rahmen der Weiterbildungskonzeption des Landes hatte ich von 1988 – 1995 für die Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz in der Erzdiözese Freiburg e. V. (AGJ). die Leitung der Öffentlichkeitsarbeit und der berufsbegleitenden Lehrgänge für Arbeits- und Berufstherapeuten übernommen. (B.H.) 



"Zum Maggid von Kosnitz kam einst ein reicher Mann. »Was pflegst du zu essen?« fragte der Maggid. »Ich führe mich bescheiden«, sagte der reiche Mann, »Brot mit Salz und ein Trunk Wasser sind mir genug.« »Was fällt Euch ein!« schalt ihn der Maggid. »Braten sollt Ihr essen und Met sollt Ihr trinken wie alle reichen Leute!« Und er ließ den Mann nicht gehn, bis er ihm versprochen hatte, es fortan so zu halten. Nachher fragten die Chassidim nach dem Grund der wunderlichen Rede. »Erst wenn er Fleisch isst«, antwortete er, »Wird er wissen, dass der Arme Brot braucht. So lang er Brot isst, meint er, der Arme könnte Steine essen".[1]

1. Was ist neu an der »neuen Armut«?  

Seit etwa Mitte der achtziger Jahre spricht man in der Bundesrepublik vom Aufkommen einer »neuen Armut«. Wurden diejenigen Personen, die der »alten Armut« zuzurechnen waren, in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie arbeitsunfähig, krank und/oder alt waren, soll der Begriff »neue Armut« jetzt ausdrücken, dass sich eine neue Personenkonstellation in Hinsicht auf Armut ergeben hat, die durch die Merkmale arbeitsfähig, arbeitslos, jung und weiblich charakterisiert wird. Diese Hilfskonstruktion zwischen »alter« und »neuer« Armut erscheint fraglich, denn sie ist mit vielen Unschärfen versehen. Einige davon sind der Tatsache geschuldet, dass das Thema Armut in der Bundesrepublik jahrzehntelang verdrängt wurde.

Erst 1975 entdeckte der Mannheimer Parteitag der CDU in scharfer Polemik gegen die damalige sozialliberale Koalition eine »neue soziale Frage« am Horizont. Unter Hinweis auf die sozialwissenschaftliche Theorie der »Disparität von Lebensbereichen« (Offe/Habermas) rechnete Heiner Geißler[2] vor, dass 1974 5,8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik (9,1% der Bevölkerung) wieder in bitterer privater Armut lebten und nur über ein Einkommen verfügen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Wenngleich sich die von Geißler erhobenen Zahlen als viel zu hochgegriffen erwiesen und die CDU schon bald nach dem Regierungswechsel das Thema in der Versenkung verschwinden ließ, war der Fingerzeig auf die Wunde in Form einer öffentlich verdrängten Kategorie gesellschaftlicher Wirklichkeit des »Wohlfahrtsstaates« fruchtbar. Jetzt begann erneut die wissenschaftliche Diskussion über die Definition von Armut.[3]

2. Was ist überhaupt Armut?

Als der Soziologe Georg Simmel im Jahre 1908 in einem bisher wenig beachteten Aufsatz mit dem Titel »Der Arme«[4] schrieb, dass der Arme als soziologische Kategorie nicht entsteht »durch ein bestimmtes Maß an Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte«, wies er darauf hin, dass Armut sich der Bestimmung als rein quantitativ festgelegter Zustand entzieht, sondern »nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt«, erkennbar wird.[5] Ein Mensch gehört der Grundkategorie der Armen nicht wegen des schlichten Mangels an materiellen Ressourcen an: Solange eine Person vornehmlich durch ihren beruflichen Status definiert ist, wird sie nicht als arm bezeichnet, wenn es ihr wirtschaftlich schlecht geht. Erst, so Simmel, »das Annehmen einer Unterstützung rückt also den Unterstützten aus den Voraussetzungen des Standes her­ aus, sie bringt den anschaulichen Beweis, dass er formal deklassiert ist.[6]

Von diesem Zeitpunkt an sind die privaten Probleme der betreffenden Person eine »Angelegenheit öffentlichen Interesses«. Führt von der Einzelperson her gesehen der Weg von der Erfahrung der Deprivation zur Bitte um Hilfe, verhält sich der Ablauf, soziologisch gesehen, gerade andersherum: Erst der Moment, in dem der Hilfesuchende um Hilfe nachsucht, macht ihn zum statistisch »Armen«. Armut ist also relativ, und wer arm ist oder als arm bezeichnet wird, hängt sowohl von seinem Zustand als von der gesellschaftlichen Reaktion auf diesen Zustand ab. Zwar gibt es heute zahlreiche Untersuchungen[7], Armutsberichte und eine spürbar besser ausgestattete Armutsforschung[8], aber noch keine einzige wissenschaftlich vertretbare Armutsdefinition oder geeignetes sozialwissenschaftliches Material zur Quantifizierung von Armut[9].

Bedenkt man, dass der erste umfassende nationale Armutsbericht für die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1981 datiert[10], kann man ermessen, dass die Armutsforschung kaum den Kinderschuhen entwachsen ist. Dennoch sind einige Annäherungen möglich. Hauser/Neumann[11] benennen zwei grundlegende Definitionen von Armut, die den meisten verwendeten Armutsbegriffen zugrunde liegen:

  • Absolute Armut, worunter ein Mangelzustand zu verstehen ist, der es nicht erlaubt, die physische Existenz dauerhaft zu sichern. Die Armutsgrenze ist dabei identisch mit dem Unterschreiten der zur physischen Existenz notwendigen Güter. Im Extremfall stirbt der Mensch an Hunger, Kälte, Krankheiten, mangelnder Unterkunft etc.
  • Relative Armut bezeichnet demgegenüber einen Mangelzustand, die zur Sicherung des Lebensbedarfes auf dem jeweils historisch geltenden, sozialen und kulturellen Standard einer Gesellschaft verfügbaren Mittel dauerhaft zu erlangen. Als Armutsgrenze kann hier das soziokulturelle Existenzminimum gelten. Relative Armut ist also nicht identisch mit sozialer Ungleichheit oder sozialer Deprivation, sondern umgekehrt bestimmt erst das Ausmaß der Ungleichheit oder Deprivation über den »Grad an Armut«.

Die meisten Armutsforschungen gehen heute davon aus, dass das Stadium der »absoluten Armut« in den hochentwickelten Industriegesellschaften überwunden ist. Die Konzentration auf die Erforschung der Zusammenhänge von »relativer Armut« erweist sich jedoch aufgrund eines fehlenden Konsenses über Vergleichsmaßstäbe für Armut[12] als schwierig. Armut, relativ bezogen auf den jeweiligen Wohlstand in einer Gesellschaft, stellt in der »reichen « Bundesrepublik Deutschland etwas anderes dar als etwa die Armut in der Dritten Welt oder in einigen Randstaaten Europas (Portugal/Griechenland), die gemeinhin als die »Armenhäuser« der EU gelten.

3. Sozio-kulturelles Existenzminimum als Armutsgrenze?

Die zahlreichen Definitionen einer Armutsgrenze im Sinne eines zu erhaltenden soziokulturellen Exi­stenzminimums lassen sich in der Regel auf zwei Ansätze zurückführen:

Der Ressourcen-Ansatz

Armut wird hier verstanden als das »Fehlen ökonomischer Ressourcen« bei einer gleichbleibenden oder sich verbessernden allgemeinen Versorgungslage. Das Einkommen, das Vermögen, die Arbeitskapazitäten, private Unterstützungen etc. einzelner Personen reichen für die Erreichung eines sozio-kulturellen Existenzminimums nicht aus. Nach Richard Hauser dient heute das durchschnittliche, nach Personen gewichtete Haushaltseinkommen in unserer Gesellschaft als ein solcher Indikator des Existenzminimums: Wer nur ca. 40 Prozent dieses durchschnittlichen gewichteten Haushaltseinkommens realisieren kann, lebt nach Hauser »in strenger Armut«. Wer nur 60 Prozent erreicht, lebt demnach »in milder Armut«. Die Europäische Union legt in ihrer Armutsberichterstattung einen von Hauser abweichenden Maßstab zugrunde: als »Armutsgrenze« wird hier ein Strich zwischen denjenigen Personen gezogen, die, bezogen auf die jeweiligen nationalen Volkswirtschaften, 50 Prozent des vergleichbaren. durchschnittlichen gewichteten Haushaltseinkommens erreichen oder verfehlen.

Der Lebenslagen-Ansatz

Der auf Gerhard Weisser[13] zurückgehende Lebenslagen-Ansatz versucht über die finanzielle Ausstattung der Hilfebedürftigen hinaus deren gesamte Lebensumstände einzubeziehen. Lebenslage meint nach Weisser den »Spielraum, den einem Menschen (einer Gruppe von Menschen) die äußeren Umstände nach­haltig für die Befriedigung der Interessen bieten, die den Sinn seines Lebens bestimmen«.[14]  Gemeint ist sowohl der Versorgungs- und Einkommensspielraum, der Kontakt- und Kooperationsspielraum, der Lern­ und Erfahrungsspielraum, der Muße- und Regenerationsspielraum als auch der Dispositions- und Partizipationsspielraum. Eine Lebenslage ist nach Weisser dann als arm zu bezeichnen, wenn sie in allen zentralen Lebensbereichen von ihrer materiellen und immateriellen Dimension her unterhalb von Minimalstandards anzusiedeln ist.

Historisch betrachtet war der Ressourcen-Ansatz für die Betrachtung von Armut in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit konstitutiv. Nach dem Motto: »Haste nix – biste nix«, war die wesentliche Frage diejenige nach der definitorischen Armutsgrenze. Da es in der Bundesrepublik keine vom Gesetzgeber festgelegte Armutsgrenze gibt, wird die »Sozialhilfe-Schwelle« häufig als quasi-offizielle Armutsgrenze benutzt. Wird diese unterschritten, fällt die entsprechende Person der »Sozialbedürftigkeit« anheim und muss lediglich als Voraussetzung für staatliche Hilfe die Kriterien für die Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützungsleistungen erfüllen.

Die Grundlagen hierfür bilden die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), das am 1. Juni 1962 als universelle Maßnahme zur Bekämpfung individueller Notlagen in Kraft trat. Ziel dieses Gesetzes ist es, den bedürftigen Personen die „Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht« (§ 1, Abs. 2 BSHG). Nach der offiziellen Argumentation der Bundesregierung sind Personen, die sozialhilfeberechtigt sind und Leistungen der Sozialhilfe beziehen, nicht mehr als arm zu bezeichnen.[15] Berücksichtigt man jedoch den den Sozialhilferegelsätzen zugrunde liegenden veralteten Warenkorb und weitere Mängel des Statistikmodells, erscheint die Festsetzung der Armutsgrenze im Sinne der Sozialhilfebedürftigkeit dennoch plausibel. Die Sozialhilfe stellt keine vollwertige Sozialleistung dar, die ein sozio-kulturelles Existenzminimum gewährleistet.[16] Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist eine der wenigen Zahlen (bis auf die inzwischen vorliegenden Armutsuntersuchungen), die eine einigermaßen verlässliche Auskunft über das Ausmaß der Armut in der Bundesrepublik (alte Länder) bis dato geben.

Dieser Effekt war bei der Verabschiedung des BSHG nicht vorherzusehen, denn das Gesetz war als Hilfsanker für individuelle Armutslagen gedacht und nicht als Instrument zur Bekämpfung von Armut. Die wichtigste Neuerung im BSHG, im Vergleich zum Fürsorgerecht, das seit 1924 galt, war die Einführung der Hilfen in besonderen Lebenslagen (HBL) neben den bereits existierenden laufenden Hilfen zum Lebensunterhalt (HLU). Dies drückte nach Hauser/Neumann[17] die Überzeugung des Gesetzgebers aus, dass Einkommensarmut als dauerhaftes Problem nahezu überwunden sei und Armut im Wesentlichen auf besondere Lebensumstände wie z.B. Krankheit, Behinderung, Alter oder besondere soziale Schwierigkeiten zurückzuführen ist.

Die in Form von monatlichen bzw. einmaligen Zuschüssen gewährten Leistungen für Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, zusammengefasst in einem Regelsatz, basierte auf der Annahme von kurzzeitiger Inanspruchnahme durch Betroffene, die sich mit dieser Hilfe aus eigener Kraft wieder eine Existenzsicherung aufbauen sollten. In der Praxis war das Gesetz den tatsächlichen Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik längere Zeit angemessen: die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger war in etwa konstant.[18] So betrug der Anteil der Empfänger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) 1963 1,4 Prozent. 1975 waren es nur 1,9 Prozent. Hilfe in besonderen Lebenslagen (HBL) erhielten 1963 1,4 Prozent, 1975 1,8 Prozent.[19]

Das Thema Armut schien statistisch gesehen kaum mehr zu existieren, was sich u.a. in der sozialwissenschaftlichen Forschung darin ausdrückte, dass von »sozialen Randgruppen« - nicht aber von Armen oder Armutsgefährdeten gesprochen wurde.[20] Der dramatische Wandel, dass immer mehr Personen fortdauernd von staatlichen Fürsorgeleistungen abhängig wurden, sich also entgegen den Intentionen des BSHG nicht mehr aus eigener Kraft ein Existenzminimum sichern konnten, kam erst allmählich zum Vorschein: 1989 erhielten bereits 4,3 Prozent der Bevölkerung laufende Hilfen zum Lebensunterhalt. Dies war dem Umstand geschuldet, dass die ab Mitte der 70er Jahre zum Ausbruch kommende hohe Massenarbeitslosigkeit in Westdeutschland als Ausdruck eines tiefgreifenden Strukturwandels signifikant auf die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von »Hilfe zum Lebensunterhalt« durchgeschlagen war.

Das soziale Leistungsrecht, bisher basierend auf der Annahme einer lebenslangen Erwerbsbiographie - mit höchstens saisonalen oder kurzfristigen Phasen von Arbeitslosigkeit - konnte mit dem durch den Strukturwandel ausgelösten Schub von Dauer- oder Langzeitarbeitslosigkeit für bestimmte Personengruppen nicht zurechtkommen. Das wird in voller Deutlichkeit sichtbar, wenn man die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre nachvollzieht.[21]

Seit dem Beginn der Phase höherer Arbeitslosigkeit hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger mehr als verdreifacht. Heute ist jeder 22. Bürger zeitweilig oder längerfristig zur Aufrechterhaltung eines bescheidenen Existenzminimums auf Sozialhilfe angewiesen. Hilfen in besonderen Lebenslagen muss etwa jeder 40. Einwohner in Anspruch nehmen. Von 1973-1990 stieg diese Empfängerzahl von ca. 1 Million auf 1,5 Millionen an. Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Sozialhilfebedürftigkeit inzwischen breite Bevölkerungsgruppen trifft und nicht mehr wie früher spezielle Personengruppen. Im Jahr 1973 betrug der Anteil der Empfänger von Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt ausgehend von den Jahresgesamtzahlen bei den Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre 1,9% und bei den Alten über 64 Jahre 2,8%, d.h. er lag in diesen Altersgruppen über dem Durchschnitt von 1,4%, während er in den mittleren Altersgruppen weit darunter lag.

Frauen waren mit 1,8% fast doppelt so stark betroffen wie Männer mit 1,0%. Bei den Ausländern lag die Sozialhilfeempfängerquote mit 0,4% weit unter jener der Deutschen in Höhe von 1,5%. 1989 lag bei einer durchschnittlichen Sozialhilfeempfängerquote von 4,3% die Quote für Personen unter 18 Jahren bei 7,8%, bei Menschen über 64 Jahren bei 2% und bei Ausländern bei 12,7%.[22] Bereits aus diesen offiziellen Zahlen kann man die Zusammensetzung der bundesdeutschen Armutsbevölkerung erkennen: Junge, alleinstehende Arbeitslose, Familien mit mehreren Kindern, deren Hauptverdiener arbeitslos wurde, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Ausländer bilden den »harten Kern« heutiger Armut. 

4. Was sind die Ursachen von Armut?

Zahl der Sozialhilfeempfänger (1973-1990)Abb. 1: Zahl der Sozialhilfeempfänger (1973-1990).

Als der Deutsche Caritasverband 1993 die Ergebnisse der von ihm in Auftrag gegebenen Studie[23] des Instituts für Sozialpolitik an der Universität Frankfurt (Ltg. Prof. Dr. R. Hauser) der Öffentlichkeit vorstellte, versuchte das für das unterste soziale Sicherungssystem, die Sozialhilfe, zuständige Ministerium für Familie und Senioren anfangs, die Angelegenheit herunterzuspielen, vor allem durch den Hinweis, dass nicht jeder Sozialhilfeempfänger als arm zu bezeichnen sei, sondern die Sozialhilfe ausdrücklich das Ziel verfolge, Armut zu verhindern oder zu beseitigen. Besonders im Vergleich zur Lage in vielen Entwicklungsländern könne niemand ernsthaft von (weit verbreiteter) Armut in Deutschland sprechen. Doch schon wenige Tage später hieß es, dass die zuständige Ministerin, Frau Rönsch, für die Beseitigung und Verhinderung von Armut kämpfen werde.

Wer jedoch Armut ernsthaft bekämpfen will, muss sich zuallererst mit den Ursachen für Armut auseinandersetzen, bevor er in blinden Aktionismus verfällt. Dies ist leichter gesagt als getan. In den vielen Argumentationen wird nämlich die Struktur der Armutspopulation mit den Ursachen für die Armut in eins gesetzt. Niedrige Bildung, Arbeitslosigkeit, Alleinerzieherstatus, abweichendes Verhalten (z.B. Suchtabhängigkeit) oder fehlender Wohnraum brauchen aber nicht naturnotwendig Ursachen für Armut sein, sondern sie können ebenso gut das Ergebnis eines Lebens in Armut sein, wodurch die o. g. Wirkungskette erst in Kraft tritt.

Bisher konzentrieren sich die Erklärungen für die Ursachen von Armut auf zwei Hauptbereiche, nämlich auf die Mängel in der Funktionstüchtigkeit des Arbeitsmarktes und auf die Mängel im sozialen Sicherungssystem Dieses Erklärungsschema ist aber nicht hinreichend. Zweifellos gehören o. g. Mängel zu wichtigen Ursachen von Armut. Aber sie erklären nicht alles, denn, positiv gewendet, würde das bedeuten, dass sich die Ursachen für Armut beseitigen ließen, wenn beide Systeme (Arbeitsmarkt und »Soziales Netz«) besser funktionieren würden als bisher. Ließe sich das »Einkommensdefizit« beseitigen, wäre das Armutsproblem verschwunden.

Diese Ursachenforschung reduziert sich auf die Erklärung kurzfristiger Armutsperioden (weil der Arbeitsmarkt nicht funktioniert hat und weil die soziale Sicherung nicht ausgereicht hat, ist eine vorübergehende Verarmung eingetreten). Der »Lebenslagen-Ansatz« erscheint demgegenüber besser geeignet, die Komplexität der Ursachen für Armut aufzuzeigen: Begreift man nämlich Armut nicht nur als bloßen »Mangel an Einkommen«, sondern als eine defizitäre Lebenslage, kann man zu vielen weiteren Lebensbezügen vordringen, die konstitutiv für die Entstehung von Armut sein können. Peter Tschümperlin hat 1988 mit seinem systemisch-interaktionistischen Modell des »Pentagramms der Armut« versucht, persönliche Merkmale mit sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verknüpfen.[24]

Pentagramm der ArmutAbb. 2: Pentagramm der Armut.

Nach diesem Modell sind Ursachen (die zugleich auch Folgen sein können) der Armut nach folgenden Bereichen zu unterscheiden. Tschümperlin versucht, fünf Armutsfaktoren miteinander zu verknüpfen, die in jeweils individueller Konstellation ursächlich für Armut sein können. Zu den biographischen oder Persönlichkeitsfaktoren zählt er z.B. Alter, Krankheit, Behinderung, Gebrechlichkeit, mangelnde intellektuelle Fähigkeiten, Sozialisationsdefizite, Stigmata, Diskriminierungen, Suchtverhalten, Frustrationsintoleranz etc. Einen weiteren Armutsfaktor können Veränderungen gesellschaftlicher Werthaltungen bzw. des Wertesystems insgesamt darstellen, wie z.B. der Verlust von Familienhilfe oder die Übertragung zwischenmenschlicher Verantwortlichkeiten auf den Sozialstaat (statt Nachbarschaftshilfen amtliche Fürsorge), oder das Gewinnen von Status und Selbstwertgefühl über Konsumismus mit der Folge des Risikos der Überschuldung.

Einen dritten wichtigen Armutsfaktor sieht er in zerrissenen sozialen Netzen, die eine rasante Armutsgefährdung hervorrufen können, wie z.B. Scheidungsfolgen, Ausfall von Verwandtschaftsnetzen, Alleinerziehung, Wohnen ohne Nachbarschaftsbeziehungen, fehlende Beziehungen am Arbeitsplatz bzw. hohe Flexibilitäts-und Mobilitätserwartungen der Industrie. Dieser Faktor kann, muss aber nicht einhergehen mit einem vierten Faktor, der unzureichende Erwerbsfähigkeit und damit verbunden unzureichendes Einkommen betrifft. Dieses kann durch viele Umstände hervorgerufen worden sein. Dazu gehört z.B. eine geringe staatliche Übernahme von Alimenten für sitzengelassene Familien, wenn der Vater unauffindbar verschwunden ist.

Auch die an der untersten Grenze angesiedelten Kinderzulagen, die schon für Familien mit 2-3 Kindern die Kindererziehungskosten nicht annähernd decken, können eine Armutsgefährdung hervorrufen, ebenso wie die Arbeitslosigkeit, insbesondere in Form der Langzeitarbeitslosigkeit. Der fünfte Armutsfaktor betrifft das hohe Kostenniveau für die Grundbedürfnisse des Lebens und für den privaten Konsum. Maßgebliche Tatbestände können hierbei sein: der Mangel an preiswertem Wohnraum, der in die Obdachlosigkeit führt[25], aggressive Werbung, die zur Geldausgabe verführt (z.B. Goldene Kundenkarten von Kaufhäusern), unzureichende Sicherungsgrenzen für Kreditaufnahmen bis zum drei- oder vierfachen des tatsächlichen Monatseinkommens etc.

Zweifellos sind auch bei Tschümperlin nicht alle Wirkungszusammenhänge der Ursachen für Armut erfasst. Armut als Folge psychischer Krankheiten, Traumata (z.B. als Folge von Langzeitarbeitslosigkeit oder Mehrfacharbeitslosigkeit),[26] Armut als Folge von nicht abgesicherten »sozialen Risiken« wie Pflege-, Rehabilitationsbedürftigkeit und Invalidität oder Armut als Folge der Entlassung aus institutioneller Unterbringung Jugendheime, Reha-Einrichtungen) fehlen. In einem gewissen Sinne wird jede Aufzählung lückenhaft bleiben. Wichtig bleibt festzuhalten, dass die jeweilige individuelle Kombination der Faktoren den entscheidenden Ausschlag dafür gibt, ob jemand in Armut absinkt und vor allem ob er dort auf Dauer verbleibt.

Weitere wichtige Fragen in der Ursachenforschung von Armut sind bisher darüber hinaus ebenfalls unerforscht. Nach Hauser weiß man beispielsweise noch sehr wenig über das Zusammenwirken von Risikofaktoren, die zu Armut führen, über die Kumulation von Deprivationen bei Einzelpersonen oder Haushalten oder über das Ausmaß und die Struktur langfristig (z.B. intergenerationell) weitergegebener Armut.[27]

5. Arme unter uns

Die besorgniserregende Entwicklung der Zahl der Sozialhilfeempfänger einerseits und die großen Lücken in der Armutsursachenforschung andererseits waren einige der Gründe, die den Deutschen Caritasverband dazu bewogen, eine erste umfassende Armutsuntersuchung in Auftrag zu geben und deren Ergebnisse 1992 zu veröffentlichen.[28] Die von Armut betroffenen Personengruppen teilte der Caritasverband wie folgt ein:

  1. Wirklich Arme
  2. Verdeckt Arme
  3. Arbeitslose Arme
  4. Alte Arme
  5. Fremde Arme

Die DCV-Studie bescheinigte sich selbst, nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zu sein, weil unter den Personen, die die offenen Dienste der Caritas in Anspruch nehmen, arme und von Armut bedrohte Menschen überrepräsentiert sind. Dennoch bestätigt sie die Ergebnisse der öffentlichen Sozialhilfestatistik und anderer Untersuchungen, die übereinstimmend feststellen:

  • Die Zahl der Arbeitslosen (insbesondere der Langzeitarbeitslosen) unter den Sozialhilfeempfängern steigt deutlich an (1990 bereits mehr als 30%).
  • Alleinerziehende Mütter und Väter sind als Antragsteller für Leistungen der Sozialhilfe deutlich überrepräsentiert (1990 ca. 16%).
  • Die Zahl der Menschen, die wegen Überschuldung, Obdachlosigkeit, hoher Wohnungskosten oder anderer Wohnprobleme Sozialhilfe beantragen, steigt ständig.

Zusammengefasst bedeutet das, dass einzelne Bevölkerungsgruppen, insbesondere Kinder, junge Erwachsene, Arbeitslose, alleinerziehende Frauen und Ausländer überdurchschnittlich von Armut betroffen sind, dass bei einem Teil der Klienten eine hohe Schuldenlast besteht, dass extrem hohe Mietbelastungen weit verbreitet sind und dass es einen hohen Sockel von Armut gibt, insbesondere unter Einbeziehung des relativ hohen Anteils verdeckter Armut.[29]

Noch gravierender ist allerdings die Entwicklung dessen, was man seit der Veröffentlichung der Studie mit »verdeckter Armut« kennzeichnen kann. Viele Menschen, die einen Anspruch auf Sozialhilfe haben, machen ihren Anspruch aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend, d. h. sie leben mit noch weniger Einkommen, als das ohnehin niedrige Sozialhilfeniveau ihnen zubilligen würde. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass sich viele Menschen weigern, durch Inanspruchnahme von Hilfe amtlicherseits als »arm« abgestempelt zu werden (vgl. Georg Simmels These). Auch wenn es extrem schwierig ist, solche verdeckten Tatbestände in ihrer Größenordnung abzuschätzen, gibt es doch begründete Hinweise, dass im Durchschnitt auf zwei Sozialhilfeempfänger mindestens ein Anspruchsberechtigter kommt, der »verdeckt arm« bleibt.

Eine neue Untersuchung von Infratest Sozialforschung, München, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für das Stichjahr 1986 durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass bei den Menschen über 54 Jahre das Verhältnis sogar etwa 1:1 beträgt.[30]  Der Deutsche Caritasverband hat errechnet, dass durch die »verdeckte Armut« der Staat jährlich rund 2,8 Milliarden an Sozialhilfegeldern einspart - ein nicht unerheblicher »Nebeneffekt« der Armut.[31] Die wachsende Sozialhilfebedürftigkeit und die »verdeckte Armut« sind aber nicht die einzigen Alarmzeichen. Die Armutsgefährdung reicht heute bis in die Personengruppen mit mittleren Einkommen hinein. Nach einer im Wissenschaftszentrum Berlin auf Basis der Daten des Sozialökonomischen Paneels angestellten Untersuchung muss man davon ausgehen, dass etwa 25% der Bevölkerung armutsgefährdet sind.[32]

Etwa 10% der Bevölkerung sinken immer wieder in Armut ab oder verharren darin längere Zeit. Bei weiteren 15% tritt ein derartiges Absinken unter die Armutsschwelle gelegentlich auf. Dabei wurde die Armutsschwelle mit weniger als 50% des durchschnittlichen Einkommens festgelegt. Die Lebenslage vieler Menschen, vor allem aus den unteren Einkommensschichten, hat sich in den letzten Jahren noch durch eine weitere Entwicklung verschlechtert: durch die stark gestiegenen Mieten, durch das zunehmende Wohnungsdefizit und durch das Herausfallen von Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung. Extrem hohe Mietbelastungen, Räumungen wegen Mietschulden, Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit nehmen zu.

6. Wie bekämpft man Armut?

»Arme haben keine Lobby« resümiert der Deutsche Caritasverband seinen Versuch, die Lage der Nation zum Thema Armut darzulegen. In der Tat: Will die staatliche Sozialpolitik ihren Anspruch, defizitäre Lebenslagen auszugleichen, einlösen, muss sie nicht nur die vorhandene immense soziale Polarisierung zwischen Armen und Nicht-Armen zur Kenntnis nehmen, sondern zuallererst die Tatsache anerkennen, dass es in einem der reichsten Länder der Erde Armut gibt, unabhängig davon, wie viele Prozentanteile die Armen tatsächlich ausmachen oder nicht. Der Deutsche Caritasverband fordert daher die periodische Veröffentlichung eines offiziellen Armutsberichts, der auf statistischen Erhebungen und Studien fußen soll.[33] Da viele Armutsfaktoren miteinander in Beziehung stehen, müsste zunächst zwischen »vorbeugender Armutsbekämpfung« (Prävention) und »ausgleichender Armutsbekämpfung« (Bekämpfte Armut) unterschieden werden.

Die heute von verschiedenen sozialpolitischen Seiten formulierten Maßnahmen zur Beseitigung der Armut zielen nach Hauser/Neumann nicht auf eine Ursachenbekämpfung und auch nicht auf präventive Maßnahmen ab, sondern auf eine monetäre Kompensation der bereits eingetretenen Armutssituation.[34] Die Forderungen, die der Deutsche Caritasverband aus den Ergebnissen seiner Untersuchung ableitet, sind demgegenüber umfassender angelegt. Sie versuchen einen Brückenschlag zwischen monetärer Kompensation und dem Abbau von defizitären Lebenslagen. Für die monetäre Kompensation erscheint dem Caritasverband die Einführung eines soziokulturellen Existenzminimums als vordringlich, das in allen Regelungen des Sozialrechts, des Steuerrechts und des Privatrechts in gleicher Höhe als unantastbar gelten sollte. Als flankierende Maßnahmen werden u.a. angesehen:

  • Regelmäßige Anpassung der Pfändungsfreigrenzen und der Grundfreibeträge der Einkommens- und Lohnsteuer unter Berücksichtigung des Kindergeldes an das sozio-kulturelle Existenzminimum,
  • Anhebung des Kindergeldzuschlages unter Berücksichtigung der steuerlichen Freibeträge auf die Höhe des jeweiligen Regelsatzes für Kinder zzgl. eines Zuschlags für einmalige Leistungen, Miet- und Heizkostenanteil,
  • Begrenzung der Mietkosten auf20% des Nettoeinkommens durch entsprechende Erhöhung des Wohngeldes,
  • Pflichtversicherung von Sozialhilfeempfängern in der gesetzlichen Krankenversicherung,
  • Einführung eines Mindestbetrages bei der Arbeitslosenversicherung in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums,
  • Einführung eines bedarfsabhängigen Zuschlags bei Kleinrenten zur Sicherung des Existenzminimums,
  • Gewährung von Mindestarbeitslosenhilfe an Personen im erwerbsfähigen Alter auch ohne vorherige Beitragsleistung.

Zur Bekämpfung defizitärer Lebenslagen müssen nach Meinung des DCV über den monetären Ausgleich hinaus die der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme für die durch sie prinzipiell gesicherten Personen und Familien »armutfest« gemacht werden. Dazu gehören vor allem Hilfen zur Selbsthilfe und Hilfen zur Integration. Zwei Bereiche erscheinen hier besonders bedeutsam: Dem Verlust der Wohnung, der oft eine Verarmungsspirale in Gang setzt, müsste besser vorgebeugt werden (z.B. durch Erleichterung der Übernahme von Mietschulden, Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus, Schaffung von Wohnraum für Obdachlose). Daneben müsste es eine Verbesserung der Hilfen zur Integration und Reintegration in regelmäßige Arbeitsverhältnisse durch soziale Betreuung und parallele Qualifizierungsmaßnahmen geben (z.B. durch die Schaffung von Arbeitsplätzen im zweiten oder dritten Arbeitsmarkt).

Die Leitlinie des Forderungskatalogs des Deutschen Caritasverbandes »Jeder muss behalten dürfen, was er zum Leben braucht - jedem muss gegeben werden, was er zum Leben braucht« scheint jedoch in den letzten Jahren wenig Eindruck auf die staatliche Fürsorgepolitik gegenüber den Betroffenen gemacht zu haben. Sowohl in Hinsicht auf die präventive Bekämpfung von Armut als auch in Hinsicht auf die »bekämpfte Armut« sind eher Rück- statt Fortschritte eingetreten. Kürzungen bei der Sozialhilfe, der Arbeitslosenhilfe, Leistungsminderungen der Versicherungsträger und der völlige Zusammenbruch des sozialen Wohnungsbaus wirken gemeinsam mit der zunehmenden Finanznot der Kommunen, die wiederum zu Einschränkungen der Hilfemöglichkeiten für Betroffene geführt hat, eher in die entgegengesetzte Richtung, nämlich die einer Auffüllung der bereits bestehenden Armutspopulation durch neue armutsgefährdete Personengruppen. 

Wenn der 5. Familienbericht der Bundesregierung 1994 offen von »strukturellen Rücksichtslosigkeiten gegenüber den Familien« spricht, trifft dies in noch weitaus stärkerem Maße gegenüber der Armutspopulation zu. Alle wesentlichen Merkmale einer Lebensqualität, wie sie der Normalbürger der Bundesrepublik heute versteht, werden dieser Personengruppe immer systematischer verweigert. Arme haben nicht nur keine Lobby, sondern sie scheinen, aufgrund ihrer gesellschaftlich heterogenen Erscheinungsform eines der frühesten und (noch) willfährigsten Opfer staatlicher Kürzungen im Sozialbereich darzustellen. Dass man mit Maßnahmen gegen »Sozialschmarotzer«, »Leistungserschleicher« etc. noch öffentlichen Beifall einheimsen kann, erleichtert das Vorgehen ungemein.[35] Dass die bisherige Form der Armutsbekämpfung eher das Gegenteil dessen erzeugt hat, was einmal intendiert war - sie zum Verschwinden zu bringen -, kann man heute in den Einkaufszentren der Innenstädte öffentlich besichtigen.

Die Zunahme bettelnder Menschen, ausgebreitete Schlafsäcke in Kaufhauseingängen, Zelte und Lager in öffentlichen Grünanlagen sind jedoch nur der augenfälligste Hinweis auf die Verschärfung der Armutsproblematik. Blicken wir ins benachbarte Ausland, kann man leicht ablesen, wohin uns der bisherige Weg der »Armutsbekämpfung « in wenigen Jahren führen wird. In England, wo unter der Regierung Thatcher schon seit 1979 das soziale Netz immer stärker zerschnitten wurde und an seine Stelle eine privatkapitalistisch orientierte soziale Regulierungspolitik getreten ist, gibt es im Norden (Newcastle, Glasgow), im Südwesten (Liverpool) und in den Midlands (Birmingham, Nottingham) bereits zusammenhängende Armutszonen, die oft mehrere Stadtviertel umfassen. Die hohen Dauerarbeitslosenquoten, der Wegfall von Unterstützungsleistungen, die Privatisierung des kommunalen Wohnungseigentums und noch einige zusätzliche Faktoren haben dort dazu geführt, dass traditionelle Gemeinwesenstrukturen zerbrochen sind. Alle von H. M. Enzensberger in seinem Essay beschriebenen »Aussichten auf den Bürgerkrieg« sind hier bereits vorhanden: »Der Durchschnitt der Lebensverhältnisse löst sich auf.

Es entstehen geschützte Gebiete mit eigenen Sicherheitsdiensten auf der einen, Slums und Ghettos auf der anderen Seite. In den preisgegebenen Stadtteilen haben Ämter, Polizeistreifen und Gerichte nichts mehr zu sagen. Sie werden unkontrollierbar.«[36] Das geschieht heute bereits in Mitteleuropa und nicht nur in England: Die Banlieue von Paris kennt solche Gebiete ebenso wie Lyon, Madrid, Rom oder Athen. In der Bundesrepublik sind die jugendlichen Streetgangs der bisher sichtbarste Ausdruck dieser noch etwas hinterherhinkenden Entwicklung.[37]

Die sozialen Folgekosten der Entstehung und Verbreitung solcher Armutszonen sind nicht einmal annähernd bezifferbar: Wenn das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung für das Jahr 1987 bereits die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit auf 59 Milliarden DM errechnete und zu diesem Betrag noch einmal 180 Milliarden DM hinzugerechnet werden müssten, die der Volkswirtschaft allein pro Jahr durch Arbeitslosigkeit - nur ein Armutsfaktor - [38] entstehen, kann man leicht ersehen, welche Beträge als spätere Folgekosten der Armut auf die Gesellschaft zukommen. Sie reichen von der Wiederherstellung ganzer dem periodisch aufflackernden Vandalismus zum Opfer gefallener Straßenzüge über den Bau von kasernenartig anmutenden öffentlichen Gebäuden bis hin zu einem enormen Geldaufwand von Privatpersonen durch die Installation von Alarmanlagen, Autosicherungssystemen etc., ganz zu schweigen von den Langzeitfolgekosten für die dort aufwachsenden Kinder und Jugendlichen.

7. Reichtum und Armut

Armut hat eine oft wenig beachtete Kehrseite: den Reichtum. Wer sich mit Armut beschäftigt, darf den Reichtum nicht aus dem Blick verlieren, zumal wenn es um Strategien zur Bekämpfung der Armut geht. Die Bundesrepublik ist eines der reichsten Länder der Welt. Das Bruttosozialprodukt beträgt derzeit 2,7 Billionen DM, die privaten Haushalte verfügen allein über ein Geldvermögen in Höhe von ca. 3 Billionen DM, die westdeutschen Unternehmen haben ca. 670 Milliarden DM auf der hohen Kante liegen. Diese Gesellschaft ist reich, der Staat hat bei einer Staatsquote von ca. 50 Prozent an diesem Reichtum in einem hohen Maße teil.

Dennoch hat sich in der Bundesrepublik in den 80er Jahren eine stärker werdende Verteilungsschieflage entwickelt: 2,1 Millionen aller westdeutschen Pivathaushalte mussten 1988 pro Kopf mit weniger als 50% des durchschnittlich verfügbaren Haushaltseinkommens auskommen, waren also »arm«. 10,7 Millionen Haushalte hatten pro Kopf nur 50 bis 90 Prozent des Durchschnittseinkommens, waren also »knapp« dran. Etwa 4,5 Millionen Haushalte erreichten das Durchschnittseinkommen (»mittelprächtig«), 7,1 Millionen Haushalten ging es »gut«, pro Kopf erreichten sie 110 bis 200 Prozent des Durchschnittseinkommens. Und eben nicht nur den Oberen Zehntausend, sondern 1,8 Millionen Haushalten schließlich ging es bei einem Pro-Kopf-Einkommen von über 200 Prozent des Durchschnittseinkommens »blendend«. Im zeitlichen Längsschnitt betrachtet hat sich die Zahl der reichen Haushalte in den 80er Jahren schlicht verdoppelt.

Es sieht – statistisch gesehen - tatsächlich so aus, dass wir uns auf dem Weg in eine Zweidrittel-Gesellschaft befinden, in der die Reichen reicher und die Armen ärmer werden: das oberste Zehntel der Einkommensbezieher verfügt über 48,8 Prozent des gesamten privaten Nettovermögens. Die untere Hälfte der Haushalte hält davon lediglich 2,4 Prozentanteile.[39] Diese Republik ist reich, aber dieser Reichtum ist nicht nur höchst ungleich verteilt, sondern steht im krassen Gegensatz zur Existenz von Armut. Aber auch die sichtbar gewordenen Polarisierungen innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft werden schwerlich zu einer ausgleichenden Umverteilung zwischen Reichen und Armen führen. Dass die Solidarität mit den Armen mehr ist als Wohltätigkeit, sondern in viel gewichtigerem Maße eine Grundvoraussetzung für den inneren Frieden einer zivilen Gesellschaft darstellt, werden wir hoffentlich feststellen, bevor es zu spät ist.

8. Abschließende Zusammenfassung

Zu jenen, die dringend mehr Geld benötigen, gehören die Kommunen. Sie müssen von Sozialhilfeausgaben entlastet werden, die inzwischen einen Umfang erreicht haben, der bei Verabschiedung des BSHG nicht vorgesehen gewesen ist: Denn die Sozialhilfe sollte letzter Ausfallbürge, nicht aber eine Mindestsicherung für mehr als 4,2 Millionen Menschen in Gesamtdeutschland sein.

Wer nur in Teilbereichen ansetzt, setzt sich der Gefahr des Misslingens aus, weil er u. U. sich von Randproblemen beeindrucken lässt, aus der Fülle der vorhandenen Faktoren die auswählt, die besonders auffällig sind oder für die er - vielleicht zufällig – eine Lösung zur Hand hat. Weitere Gefahren bei punktuellem Ansatz drohen durch zu schnelle Verallgemeinerungen aufgrund mangelnder Informationen und durch zu frühe Entscheidungen oder Aktionen, aber auch Vermeidung oder Hinauszögern von Entscheidungen durch eine zu exzessive Sammlung von Informationen, die im Extremfall zur völligen Handlungsunfähigkeit führen können.[40]

In diesem Sinne gilt es, politisch neue Mindestsicherungsformen einzuklagen. Die Sozialhilfe mit ihrem niedrigen Niveau, ihrer z. T. entwürdigenden Bedarfsprüfung und dem Heranziehen von Familienangehörigen muss durch eine neue bedarfsorientierte Grundsicherung ersetzt werden. Dabei soll quer durch alle Sicherungssysteme, die Einkommensersatz leisten, ein einheitlicher Sockel in Höhe eines bedarfsgerecht angehobenen Sozialhilferegelsatzes als Mindestleistung eingezogen werden. Somit wäre dann etwa bei Renten, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe eine ergänzende Sozialhilfe nicht mehr notwendig. 


Anmerkungen

[1]   Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949.
[2]   Heiner Geißler, Die neue Soziale Frage, Freiburg 1976.
[3]   Zum Verlauf der Diskussion vgl. Manfred Groser/Wolfgang Veiders, Die neue soziale Frage. For­schungsbericht 2 der Konrad-Adenauer­ Stiftung, Melle 1979; Siegfried Mosdorf, Die sozialpolitische Her­ausforderung. Wohlfahrtsstaatskritik und neue soziale Frage um die Zukunft der Sozialpolitik, Köln 1980.
[4]   Georg Simmel, Der Arme, in: ders., Soziologie, Untersuchung über die Formen der Vergesell­schaftung, 5. Auflage , Berlin 1968, S. 345-374.
[5]   Zitiert bei: Konrad Maier, Armut in der Wohlstandsgesellschaft, Mitteilungen der Ev. Landeskirche Baden, Hefe 5/1992, S. 8, vgl. Konrad Maier, Armut und Fürsorge. Untersuchungen zu einem angemessenen Armutsbegriff unter dem Gesichtspunkt der praktischen Sozialpolitik, Diss., Freiburg 1982.
[6]   Simmel, a.a.O., S. 371.
[7]   U.a. Werner Balsen u. a., Die neue Armut, Köln 1984; Stefan Leibfried/Florian Tenstedt (Hrsg.), Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaates, Frankfurt a. M. 1985; Diether Döring/Walter Hanesch/Ernst-Ulrich Huster, Armut im Wohlstand, Frankfurt a. M. 1990.
[8]   Klaus Lidy, Definition und Messung von Armut, Diss. Universität Heidelberg, 1974.
[9]   David Plachaud, Wie mißt man Armut? in: Stephan Leibfried/Wolfgang Voges, Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3/92, Opladen, S. 63-88.
[10]   Richard Hauser/Helga Cremer-Schäfer/Udo Nouvertne´: Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung in der Bundesrepublik Deutschland - Bestandsaufnahme und sozialpolitische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981.
[11]   Richard Hauser/Udo Neumann, Armut in der Bundesrepublik, in: Stephan Leibfried/Wolfgang Voges, Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3/92, Opladen, S. 237-271.
[12]   Zur Unterscheidung der verschiedenen Armutskonzepte vgl. P. Krause, Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49/92, Bonn, S. 3.
[13]   Gerhard Weisser, Wirtschaft, in: Werner Ziegenfoß( Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956.
[14]   Weisser, ebd., S. 986ff.
[15]   Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Bueb, Wagner und der Fraktion der Grünen vom 24. 9. 1986, Drucksache 10/6055, S. 10.
[16]   Hauser/Neumann, a.a.O., S. 247ff.
[17]   Hauser/Neumann, a.a.O., S. 239.
[18]   Ernst-Ulrich Huster, Lebenslang arm oder reich, in: Caritas, Zeitschrifr für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Heft 2, 95. Jahrgang, Februar 1994, Freiburg, S. 66.
[19]   Statistisches Bundesamt 1990.
[20]   Vgl. die Publikationen des SPIEGEL (1973) zu unterprivilegierten Gruppen, die Veröffentlichungen von Jürgen Roth (1971, 1974, 1979) zur Armut in der Bundesrepublik und die Reportagen von Ernst Klee (z.B. 1971, 1973, 1979).
[21]   Zahlen zusammengestellt aus: Arme unter uns. Der Deutsche Caritasverband bezieht Position, in: Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Heft 10, Oktober 1992, S. 444.
[22]   Eine Addition der Zahlen beider Hilfearten ist nicht zulässig, da ein Leistungsempfänger Leistungen nach beiden Hilfearten erhalten kann.
[23]   Zahlen aus: Arme unter uns, Zusammenfassung der Caritas-Armutsuntersuchung, wie Anm. 21, S. 445.
[24]   Vgl. Gerd Iben, Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 22.
[25]   Mehr als 180000 Menschen sind in der Bundesrepublik Deutschland gänzlich ohne Unterkunft. Rund 700000 leben in nicht gesicherten Wohnverhältnissen, d. h. sind von Wohnungslosigkeit bedroht. Die Zahl der unter 30jährigen Wohnungslosen hat von 6,6% im Jahr 1972 über 15,1% in 1981 auf über 25% im Jahr 1990 zuge­ nommen. Das untere Zehntel der Einkommensbezieher in der Bundesrepublik Deutschland (Altgebiet) muß - trotz Entlastung durch Wohngeld - rund 38% seines jeweils verfügbaren Haushaltseinkommens aufwenden, um seine Wohnung finanzieren zu können.
[26]   Vgl. die berühmte Studie von Marie ]ahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, Wien 1933, 4. Auflage Frankfurt a. M. 1982.
[27]   Hauser/Neumann, a.a.O, S. 262.
[28]   Vgl. die Zusammenfassung: Arme unter uns. Der Deutsche Caritasverband bezieht Position, a.a.O, S. 441 ff. Der vollständige Text ist erschienen als: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Arme unter uns: Ergebnisse und Konsequenzen der Caritas-Armutsuntersuchung, Freiburg 1992.
[29]   Arme unter uns. Der deutsche Caritasverband bezieht Position, a.a.O. S. 456.
[30]   Arme unter uns. Der Deutsche Caritasverband bezieht Position, a.a.O. S. 446.
[31]   Süddeutsche Zeitung vom 20. 7. 1994.
[32]   Arme unter uns. der Deutsche Caritasverband bezieht Position, a.a.O. S. 446.
[33]   Arme unter uns. Der Deutsche Caritasverband bezieht Position, a.a.O. S. 463.
[34]   Hauser/Neumann, a.a.O. S. 254.
[35]   »Eure Armut kotzt mich an« - las ich kürzlich auf einem Aufkleber am Heck eines BMW der 7er Klasse.
[36]   Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. 1993, S. 51 ff.
[37]   Vgl. K Farin/E. Seidel-Pielen, Krieg in den Städten -Jugendstreetgangs in Deutschland, Berlin 1993.
[38]   K A. Chasse/A. Drygala/A. Schmidt­ Noerr (Hrsg.), Randgruppen 2000, Bielefeld 1992, S. 41.
[39]   Zahlen aus: Ernst-Ulrich Huster, Lebenslang arm oder reich, in: Caritas, Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Heft 2, 95. Jahrgang, Februar 1994, Freiburg, S. 70.
[40]   Vgl. Dietrich Dörner, Die Logik des Mißlingens, Reinbek 1989, S. 146.