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Arbeitserfahrung in England und Deutschland - der historische Kontext

Bernd Hainmüller

From Powles I went, to Aeton sent,
to learne straight wayes the Latin phraise,
where fiftie three stripes given to mee at once I had:
For faut but smallor none at all
it came to passe, thus beat I was

(Klage des Schülers Thomas Tusser um 1560 über seine Zeit in Eton) (1) 

Der beklagenswerte Thomas Tusser, der es später immerhin in das King´s College  und Trinity Hall in Cambridge geschafft hat, war der "klassische" Lateinschüler, der nach althergebrachten Methoden die Schule absolvierte: Voll von Schlägen der Lehrmeister, egal ob man Fehler machte oder nicht. Dabei hatte er noch das Glück, überhaupt eine Schule von innen zu sehen. Im damaligem Europa war diese für weniger als ein Prozent der Heranwachsenden üblich. Für die überwiegende Mehrheit von Tusser´s Altersgenossen gehörte In der vorindustriellen Gesellschaft die Erwerbsarbeit noch zum unmittelbaren alltäglichen Lebensvollzug, nicht die Schule. Die Werkstatt lag meist im gleichen Haus oder nicht weit davon entfernt zumindest im gleichen Ort. Kinder und Jugendliche nahmen selbstverständlich teil an den Arbeitsprozessen, und zwar nicht nur als Beobachtende, sondern mit zunehmendem Alter auch zunehmend als Mitarbeitende. So war das Arbeiten von Kindern und Jugendlichen im Sinne von Erwerbsarbeit in allen Zeiten und Kulturen bis ins 19., ja bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit. Im Unterschied dazu wurde das Lernen für die Mehrzahl von ihnen erst ab dem 19. Jahrhundert zur Pflicht. Man kann feststellen, daß je stärker die Kinderarbeit abnahm, die „Lernarbeit” zunahm. So haben sich die Gewichte zwischen Arbeiten und Lernen im Laufe der Entwicklung immer stärker verschoben haben - von der Erwerbsarbeit weg zum Lernen hin - jedenfalls bei uns in Europa und in den entwickelten Ländern der Erde, nicht aber in den Entwicklungsländern. Kinder nehmen bei uns im Unterschied zu dort kaum noch durch eigene Erwerbsarbeit am Existenzkampf der Eltern oder der Gruppe, in der sie leben, teil. Mitterauer stellt in seinem Rückblick auf die Sozialgeschichte der Jugend in Europa fest, daß historisch gesehen sich erst mit der Überwindung der familienwirtschaftlichen Ordnung des Mittelalters der Kontrast zwischen den Bereichen Erziehung, Bildung und Arbeit zunehmend vergrößert und Bewältigungsstrategien nach sich gezogen hat:"Ihn zu bewältigen ist eine jener Aufgaben der Jugendphase, die durch die spezifische europäische Sozialentwicklung besonders spannungsreich geworden ist".(2)

Passen Arbeitserfahrungen und Lernerfahrungen zusammen?

Im Altertum wurde die körperliche Arbeit nicht deshalb verachtet, weil nur Sklaven sie ausführten, sondern weil man bestimmte Beschäftigungen ihrer Natur nach als „sklavisch“ ansah. Arbeiten zu müssen, bedeutete Sklave einer Notwendigkeit zu sein. Frei war derjenige, der sich andere unterwarf und sie dazu zwingen konnte, für ihn die Notwendigkeiten des Lebens zu verrichten. Aristoteles unterschied drei Tätigkeiten des Menschen, die poiesis oder Produktion - das Machen -, die praxis - das kommunikative Handeln mit anderen - und das energein - das um seiner selbst willen in der Theorie und im Erkennen Tätigsein. Bei ihm wird die Arbeit nicht als Ausdruck des menschlichen Wesens gesehen, sondern sie ist ganz im Gegenteil sogar für das Mensch-Sein hinderlich. Die soziale Stellung der Freien ist völlig unvereinbar mit Arbeit, für sie ist allein das „Handeln” angemessen. In der Antike bedeutet Arbeit im vollen Wortsinn Sklavenarbeit. Alle Worte für „Arbeit“ in den europäischen Sprachen - das lateinische und englische „labor“, das griechische „ponos“, das französische „travail”, das deutsche „Arbeit” - deuten auf diesen sklavischen Ursprung der Arbeit hin: sie ist Mühsal, die Unlust verursacht, körperliche Anstrengung. Labor, verwandt mit labare, heißt eigentlich „das Wanken unter einer Last“ - die Sprachwurzel ist eng mit Armut verbunden. Selbst das benediktinische „ora et labora” versteht die Arbeit im Mönchsgewand als Sündenabtragung, „Vorarbeit” für das himmlische Paradies. Viele der dem Hl. Benedikt zugeschriebenen Wunder handeln davon, wie man trotz Teufelslist wieder zur Arbeit zurückkehren kann. (siehe Abbildung 1) . Der Tagesablauf der Benediktinermönche war nach den Ordensregeln des Hl. Benedikt genau geregelt hinsichtlich Phasen von Gebet, Arbeit, Mahlzeiten und ein wenig Ausruhen. (Abbildung 2). 

Abb. 1:  Wunder des Hl. Benedikt: Ein vom Gerüst gestürzter Mönch (hinten links) wird zum Leben erweckt - Fresko von Luca Signorelli (1441-1523) in der Benediktinerabtei Monte Oliveto Maggiore

Abb. :  Tagesablauf nach der Ordensregel des Hl. Benedikt





Ein Bedeutungswandel taucht in England mit dem Begriff „Work“ als erweiterter Begriff von Arbeit erstmals im frühen Mittelalter auf. (3) Er umfaßt dort eine ganze Bandbreite von Tätigkeiten, die sowohl handwerklicher, geistiger als auch religiöser Natur sein konnten. Der „worker” trennt sich vom „labourer”. „Experience“ geht ebenfalls in diesem Zeitraum im Gefolge der normannischen Eroberung in den englischen Wortschatz ein. Zusammengezogen zu „work experience“ meinte das Wort ursprünglich die Erfahrung, die jemand für eine bestimmte Arbeit mitbrachte, wie z. B. der Handwerker, der langjährige Übung in seinem Handwerk gesammelt hatte. Im Unterschied zu „labour“ lag die Betonung nicht so sehr auf der körperlichen Kraftentfaltung, sondern auf planvoller, geistig überlegter Arbeit, gepaart mit Wissen. In der mittelalterlichen Ständeordnung stand daher der „worker“ über dem „labourer“, der wiederum seine Stellung über dem Armen hatte. Insgesamt gesehen empfand der mittelalterliche Mensch Arbeit nicht als etwas Besonderes oder Erstrebenswertes. Sie war ein notwendiges Mittel der Lebenserhaltung, mehr nicht. Da Arbeit eine niedrige Stellung im Wertgefüge der damaligen Zeit einnahm, hatten die Armen in der Werthierarchie der mittelalterlichen Gesellschaft eine vergleichsweise günstige Stellung: Sie lebten von Almosen. Diesen Nichtarbeitenden schuf die Religion einen Platz in der Gesellschaft mit den Worten der Bibel: „Der Arme steht Christus näher als der Reiche“. Für jeden Christenmenschen galt die Pflicht, Wohltätigkeit gegenüber den Armen zu beweisen. Der Protestantismus veränderte das Bezugssystem zwischen Arbeiten und Lernen drastisch. Luthers Wort, daß "der Streich eines Dreschers in der Scheuer vor Gott soviel gelte wie ein Psalter, den ein Kartäuser singt", (4) zeigt den endgültigen Bedeutungswandel an. Der Protestantismus erhob die Arbeit mit den Worten der Bibel zur allgemeinen Pflicht: So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen. (2. Thess. 3, 10).

Für England markierte der Abfall Heinrichs VIII. von der römisch- katholischen Kirche 1535 und die darauffolgende Gründung der anglikanischen Staatskirche den Beginn der Neuzeit. Die Kirchengüter wurden eingezogen und der Anglikanismus als Staatsreligion installiert. In einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen 1601 und 1660 wurde die Auseinandersetzung zwischen Reformation und Restauration zugunsten des Anglikanismus entschieden. Der protestantische Gläubige arbeitete fortan nicht für sein eigenes Seelenheil, sondern zur Ehre Gottes als dessen Verwalter auf Erden. Der Kern dieser, in England in Form des Puritanismus besonders ausgeprägten Ethik war die rationale Selbstbeherrschung, gekoppelt mit harter Arbeit, Sparsamkeit, Selbstbeherrschung und kühler Kalkulation. Keine nutzlose Kontemplation, kein Rückzug in die Klöster waren gefragt, sondern ein rechtes Arbeitsethos, das gegen religiöse Zweifel, Selbstmitleid und die fleischlichen Verlockungen feite. An den Früchten ihrer Arbeit erkannte man die Auserwählten.

Protestantismus und "Beruf"

In seiner berühmten Studie postulierte Max Weber, daß diese „protestantische Ethik“ mit ihrer Betonung der innerweltlichen Askese ganz ungewollt zum spektakulären Aufstieg des Kapitalismus beigetragen hat. Er kam zu dieser Ansicht aufgrund der Tatsache, daß im 16. und 17. Jahrhundert die wohlhabendsten Gebiete in Europa protestantisch waren: "Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt, vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. ... Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist - ob endgültig, wer weiß es? - aus diesem Gehäuse entwichen".(5) Für Weber hat der Protestantismus den Beruf untrennbar mit dem Berufsethos verknüpft: Du sollst um der Arbeit willen arbeiten. Im Übergang zu diesem Mechanismus sieht freilich Max Weber noch menschliche Motive am Werk: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein". (6)

Durch den Anglikanismus als Staatsreligion wurde England das erste Land, das die Rationalisierung der Lebensführung zum Prinzip erhob. (7) Das Ergebnis dieses Prozesses war der Glaube an den Fortschritt schlechthin. Man wandte sich gegen die unnütze Pracht der Zeremonien, die reichen Klöster, die zeitraubenden Feiertage, das Bettlerunwesen (8) und beschleunigte die Elitenbildung durch die King’s Schools. (9) Für die Armen trat an die Stelle des Almosens der Arbeitszwang. So wurde in einem Statut Heinrichs VIII. aus dem Jahre 1538 den Friedensrichtern auf dem Lande und den Vögten bzw. den Bürgermeistern in den Städten befohlen, in ihrem Wirkungsbereich die Armen einer Musterung zu unterziehen und die wirklich Kranken und Gebrechlichen zu zählen. Nur diese Armen sollten eine spezielle Erlaubnis erhalten, in einem abgegrenzten Gebiet zu betteln. Wer außerhalb des ihm zugewiesenen Gebietes oder ohne Erlaubnisschein ertappt wurde, sollte verhaftet werden. Für gesunde Bettler wurde vorgeschlagen, sie auszupeitschen und diejenigen mit einer Geldstrafe zu belegen, die ihnen Almosen gaben.

Mit dem Gesetz über die Armen von 1601 wurden unter der Regentschaft Elisabeths I. diese Grundlagen erweitert und zu einem System ausgebaut, in dessen Mittelpunkt das Arbeitshaus oder Zuchthaus rückte. (10) 1555 war in Bridewell in London bereits das erste errichtet worden.

Abb. 3:  William Hogarth: A Harlot's Progress, Plate IV: Frauenarbeit in Bridewell, April 1732. 

Wer sich hier nicht fügte, wurde hingerichtet: Zwischen 1558 und 1603 waren dies durchschnittlich 400 Arme pro Jahr. (11) In diesen Häusern, die sich v.a. in den protestantisch gewordenen Ländern ausbreiteten, fanden, wenngleich im fast auf den Kopf gestellten Sinn Arbeiten und Lernen wieder zusammen: Lerne, zu arbeiten. Der Ausdruck „labouring poor“ (arbeitende Arme), der sich ab diesem Zeitpunkt in den englischen Gesetzen findet, markiert deutlich die Wende von den müßigen Armen (idle poor) zu den Lohnarbeitern, die das Fundament der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bildeten. (12) Mit utopischen Entwürfen gegen die schlechte Wirklichkeit Es gab auch Kritiker dieser absehbaren kapitalistischen Entwicklung, die die so gestaltete „Arbeitserfahrung” ablehnten. Ihr Darstellungsmittel war - der Umbruchzeit angemessen - die „konkrete Utopie”.

Ist Erfahrung durch Arbeit eine Utopie?

In Thomas Morus´ Inselstaat „Utopia“ gab es Unterricht und Wissenschaft für alle Kinder. (13) Der Name Utopia war ein feinsinniges Wortspiel aus zwei Wörtern: eutopia (guter Ort) und outopia (kein Ort) und deutete schon an, um was es ging: Utopia war ein Synoym für das Paradies, das Ideale und zugleich das Unrealistische und Unerreichbare. "Aber die durch diesen Text  geschaffene oder zumindest umgedeutete Überlieferung repräsentiert in Wirklichkeit keine perfekte gesellschaft, sondern nur eine radikal verbesserte". (14) Nicht die antike Bildung sollte dort nachgeahmt werden, sondern im Mittelpunkt stand eine landwirtschaftliche Berufsausbildung. Sie sollte teils durch theoretischen Unterricht in der Schule, teils praktisch erfolgen, indem die Kinder auf die der Stadt benachbarten Äcker, gleich wie zum Spiel, geführt werden, wo sie nicht nur zuschauen, sondern zur Übung der Körperkräfte auch zupacken.

Abb. 4:  Erstausgabe von Thomas Morus "Utopia" 1516

Neben dieser „Berufsgrundbildung“ sollte jedes Kind ein besonderes Handwerk erlernen, wobei dafür der väterliche Betrieb vorgesehen war. Morus’ Entwurf, aber auch kontinentaleuropäische Utopien wie Johann Eberlin von Günzburgs „Wolfaria“ (in der Schrift "15 Bundesgenossen" von 1521) oder Tommasio Campanellas „Sonnenstaat“ (1602), in denen die produktive Verbindung von Arbeit und Bildung eine gewisse Rolle spielt, waren zugleich rückwärts und nach vorne gerichtet. Ihr Hinweis, daß der Ausbruch aus der mittelalterlichen Gesellschaft Risiken und Chancen zugleich beinhaltete, kam jedoch zu spät: Morus mußte dafür mit dem Leben bezahlen; Campanella entkam mit knapper Not der Inquisition. (15) 

Das durch die protestantische Ethik neu formulierte Verhältnis von Arbeiten und Lernen fand große Unterstützung auf dem Kontinent dort, wo die Gegenreformation scheiterte, v. a. im deutschen Pietismus. Zwei Momente waren für das Gelingen des neuen „Erziehungsprogramms” protestantisch-calvinistisch-pietistischer Prägung ausschlaggebend: Der Sieg des Protestantismus und das mit ihm einsetzende neue Wirtschaftssystem zerbrach - familienpolitisch gesehen - allmählich auch das Konzept der „joint familiy“ als Typus einer Hausgemeinschaft, in der aus der Notwendigkeit der ökonomischen Existenzsicherung heraus Kinder, Jugendliche, Eltern, Verwandte und das Gesinde unter einem Dach zusammengelebt hatten.(16) Es kam zur Freisetzung aus den vielfältigen Haus- und Hof, Tal- und Dorfgemeinschaften, Kloster- und Zunftgemeinschaften, Landsgemeinden, Brüderschaften, aber auch Diebs- und Verbrechergemeinschaften, die bis zu diesem Zeitpunkt der allgemeinen Unsicherheit jeglicher Existenz angemessene Schutzräume (17) geboten hatten. Kinder waren in ihnen als potentielle Arbeitskräfte wichtig gewesen und standen als solche mit dem Gesinde auf gleicher Stufe; mit ihrem Heranwachsen konnten sie das Gesinde ersetzen. Als Dienende, als sozial Abhängige lebten sie jedoch auch schon sehr früh in dem gleichen gesellschaftlichen Raum wie die Erwachsenen, und die pädagogische Distanz zwischen Jung und Alt war dadurch sehr gering.(18)

Als die markantesten Fixpunkte der Veränderung im Verhältnis von Arbeiten und Lernen kann man die Tatsache ansehen, daß sich in Hinsicht auf die Organisationsformen von Lernen in den Oberschichten der Hauslehrer als Mitbewohner des Elternhauses herausbildete, andererseits im Handwerk und im Handel der Jugendliche als Lehrling in eine mit ihm nicht unbedingt verwandte Hausgemeinschaft beim Meister eintrat und dort das Gesinde ersetzte. (19) Da durch Heiratsverbote ohne wirtschaftlich tragbare Vollstellen die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze beschränkt war, entstand eine junge, überschüssige Arbeitsbevölkerung, die durch zunehmende Restriktionen des Bettelwesens in die Verwahrlosung gedrängt wurde. „Pädagogische“ Beziehungen mußten die zerstörten verwandschaftlichen Beziehungen ersetzen und das Credo dieser Armenerziehung war die Erziehung durch Arbeit oder zumindest durch „Aktivitäten”.

Johann Amos Comenius - "Schulen als Werkstätten"

Die Brücke zwischen England und dem Kontinent und den dortigen protestantischen Brüdern schlug ein Mann, der zu den berühmtesten seiner Zeit gehörte: Johann Amos Komensky (Comenius) (1592-1670). Comenius, Bischof der böhmisch-mährischen Brüdergemeinde, steht in der Nachfolge des Hussitentums, einer dem Protestantismus in vielerlei Hinsicht nahestehenden Strömung. Er bereitet den „pädagogische Realismus“ des 17. Jahrhunderts vor. Der Verfasser der ersten „Großen Unterrichtslehre“ (Didacta Magna, 1638) hat mit dem Versuch, alle Menschen alles zu lehren, (20) die herkömmlichen Bildungsgrundsätze in Richtung auf eine neue Beziehung zwischen Arbeiten und Lernen entscheidend verändert. Ganzheitliche Bildung in seinem Sinne entfesselt als Ziel der Erziehung einen Aktivismus, der sich auf das Diesseits bezog, ohne daß die Beteiligten sich am Diesseits orientierten. Die menschliche Aktivität, der Bezug zu den Dingen als Voraussetzung für das spätere Seelenheil rücken dabei ins Zentrum pädagogischer Arbeit. Dieser Aktivismus, der sich durch konkrete Werken in dieser Welt äußert, ist ein erstes Prinzip, welches der Arbeit im Erziehungskontext ein wirkliches Gewicht verleiht. Werke sind Ausdruck dafür, daß kein verwerflicher Müßiggang entsteht. Die Bildung für das Leben als Bildung für das gegenwärtige Dasein und für die zukünftige Bürgerschaft im Himmel kann deshalb bei Comenius nicht früh genug beginnen. In seiner in Deutsch verfassten Schrift „Informatorium der Mutterschul“ wird der Müßiggang bereits für Kleinkinder als gefährlich angesehen. Dieser sei ein Polster des Teufels:" „Denn wen der Teufel müssig findet, den macht er gewisslich unmüssig und siehet, dass er ihm zu schaffen gebe: erstlich mit bösen Gedanken, darnach mit bösen Werken. Darum ist es klüglich gehandelt, wenn man den Menschen von Jugend auf keinen Müssiggang gestattet, sondem ihn in steter Arbeit übe, weil dadurch den Versuchen der Weg verhauen wird... Ist also nicht schwer, die Kinder zur Arbeit zu gewöhnen, weil sie die Natur selber darzu treiben tut, dass sie immer etwas gern zu tun haben". (21)

Abb. 5:  "Die Schul". aus: J.A.Comenius: Orbis sensualium Pictus, erschienen 1658; Nachdruck 1991

Comenius plädiert in dieser Schrift in einem eigenen Kapitel für die Einführung von „Werkarbeit der Kinder” von frühester Kindheit an: da das junge Blut nicht lange stillstehe, müsse man ihm immer Anlaß geben, etwas zu tun, etwas in die Hände zu nehmen. Bereits im dritten Jahr würden sie dann „Mechanicam“ besser begreifen, was neben Laufen, Spielen, auch Bauen, Aufbinden, Brechen, Schneiden beinhalte. Auch zum Malen und Schreiben sollten sie bereits im dritten oder vierten Jahr angehalten werden. Diese Aktivitäten des Kindes stehen für Comenius im Gegensatz zum Müßiggang, aber nicht nur das. Sie bauen im Kind eine Haltung auf, die später verinnerlicht werden kann: die innerweltliche Askese, die den höheren Zweck hat, Gott zu dienen. Erziehung, sowohl im Elternhaus wie auch in der Schule, ist „Gottesdienst”. Neben dem Elternhaus war für Comenius der Schulraum der Schlüssel zur Welterschließung, und der Unterricht sollte darauf ausgerichtet sein, die Heranwachsenden in die Welt hinauszuschicken, indem in den Schulen „allen alles” gelehrt werden mußte: "Das ist jedoch nicht so zu verstehen, daß wir von allen die Kenntnisse aller Wissenschaften und Künste (und gar eine genaue und tiefe Kenntnis) verlangten. Das ist weder an sich nützlich noch bei der Kürze unseres Lebens irgend jemanden überhaupt möglich ... Aber über Grundlagen, Ursachen und Zwecke der wichtigsten Tatsachen und Ereignisse müssen alle belehrt werden, die nicht nur als Zuschauer, sondern als künftig Handelnde in die Welt eintreten". (22) Die Kunst des Lehrers besteht darin, den richtigen Stoff, das Vorbild und die richtigen Werkzeuge hierzu vorzugeben, um dann die richtige Anwendung zu lehren, diese durch geschickte Führung immer wieder zu beleben und durch häufige Übung das Erlernte zu festigen. Vorbild dieses anzustrebenden Lernprozesses war der Gang der Natur, die keine Sprünge macht, sondern schrittweise vorgeht, ihre Tätigkeiten nicht durcheinanderbringt und vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet. Ebensolches sollte für die Schulen gelten:" Was auszuführen ist, muß durch die Ausführung selbst erlernt werden. Die Handwerker halten die Lehrlinge ihrer Kunst auch nicht mit Betrachtungen hin, sondern sie stellen sie alsbald an die Arbeit, damit sie das Schmieden durch schmieden lernen. So sollen sie auch in der Schule das Schreiben schreibend, das Sprechen sprechend, das Singen singend, das Rechnen rechnend lernen. Die Schulen sollen nichts anderes sein als Werkstätten, glühend vor Tätigkeit". (23)

Dieses Prinzip des „fabricando fabricamur” (24) - durch unser Gestalten erhalten wir selbst Gestalt - muß didaktisch ausgestaltet werden. In seiner 1658 erschienenen Fibel „Orbis Sensualium Pictus“ stellte er daher unter den vornehmsten Weltdingen in mehr als 300 Bildern auch konkrete Handwerke vor, wie die Gärtnerei, den Feldbau, den Fischfang, die Viehzucht, die Künste, die Buchdruckerei und den Buchhandel mitsamt den jeweils benutzten Werkzeugen. (25) Die Arbeitswelt wurde zum Gegenstand des Schulunterrichts. In seinem unvollendet gebliebenen siebenbändigen Werk „Consultatio Catholica“ entwarf Comenius im vierten Teil, der „Pampaedia“ die dazugehörigen „Schultypen“ des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt.  

Wesentliche Vorarbeiten seines Werkes waren während Comenius’ Aufenthalt in England entstanden. Er war 1641 vom englischen Parlament auf Einladung einiger Parlamentarier des „Langen Parlaments“ nach London gerufen worden, um eine durchgreifende Umgestaltung der Schulverhältnisse anzubahnen. Comenius konnte sich in England auf eine breite Anhängerschaft stützen, die sich „comenian group“ nannte und vor allem unter Führung von Samuel Hartlib die Herausgabe seiner Schriften durchgesetzt hatte. Seine „Pansophiae prodomus“ war 1639 in London erschienen. Auch Comenius selbst war der Ansicht, daß England die besten Voraussetzungen für eine umfassende Revision der Schulmethodik- und didaktik bot: Das Parlament hatte 1641 beschlossen, einen Teil des beschlagnahmten Kirchenvermögens zur Förderung wissenschaftlicher Vorhaben zu nutzen. Im Oktober 1641 wandte sich Comenius mit zwei Schriften an die englische Öffentlichkeit. Er schlug eine Reform des Erziehungs- und Schulwesens vor, konkretisierte die dazu notwendigen Materialien, Bücher und Finanzmittel, mit denen das gesamte Reformprojekt durchführbar wäre. (26) Wenngleich sich die Verhandlungen mit dem Parlament aufgrund der durch den Aufstand der katholischen Iren im November 1641 einsetzenden Wirren zerschlugen, (27) darf der Einfluß seiner Pansophie auf die englischen Pädagogen in den nächsten Jahrzehnten nicht unterschätzt werden. Ohne soweit zu gehen wie Trevor-Roper, der in der comenian group die „Ideologen der englischen Revolution“ zu erkennen meint, (28) kann man doch soweit gehen zu sagen, daß der Einfluß der comenianischen Ideen vor allem in Hinsicht auf die Grundlegung einer neuen Schulmethodik- und didaktik maßgeblich gewesen ist. Bereits ein Jahr nach dem Erstdruck des „Orbis Pictus“ in Nürnberg erschien 1659 eine englische Ausgabe, in deren Vorwort Charles Hoole die didaktischen Prinzipien Comenius’ als grundlegend für die Entwicklung neuer Formen von Unterricht in der Dorfschule bezeichnete. Die Schar seiner Anhänger, die dafür eintraten, Methoden und Ziele von Comenius in den englischen petty schools zu verwirklichen, wie Samuel Hartlib, John Dury, Gerrard Winstanley, William Dell, aber auch Ökonomen wie William Petty wuchs ständig. (29) Die „Comenianer“ wurden zum Mittelpunkt einer Reformbewegung, die durch die breite Streuung ihrer Ideen zur Veränderung von Lehr- und Lernformen beitrug, und die, ausgehend von der sozialen Nützlichkeit der Bildung, deren Praxisbezug und die Hinführung zu Handel, Landwirtschaft und Handwerk durch den Unterricht einforderte. Sie wollten ein neues Kapitel der Beziehungen zwischen Lernen, Leben und Arbeiten aufschlagen, wie es John Dury in seinem Buch: „The Reformed School“ (1650) exemplarisch aufgezeigt hatte. (30) Mit der Gründung der Royal Society 1662, der Comenius seine Abschiedsschrift aus England („Via Lucis“) gewidmet hat, fanden seine Grundsätze eine späte Erfüllung.
Die Begegnung Comenius mit René Descartes während seiner Rückreise von England im Juli 1642, einem vierstündigen Gespräch im Schlößchen Endegeest bei Leiden, markiert aber zugleich einen entscheidenden Wendepunkt europäischen Bildungsdenkens. Hier, auf „neutralem” Boden, trafen die Protagonisten zweier verschiedener Weltanschauungen persönlich aufeinander. Descartes Rationalismus, der naturwissenschaftliche Optimismus, der auf die Beherrschung der Natur des Menschen und der Dinge mittels Beobachtung und Erforschung, ausgedrückt in quantitativen Einheiten, abzielte, war Comenius fremd und unheimlich, nahm er doch dem Menschen seine religiösen und damit humanen Qualitäten und verwandelte ihn in einen fast unerheblichen Bestandteil einer Welt, die durch mechanisch-starre, naturwissenschaftlich nachgewiesene Gesetze beherrscht war. Nicht mehr das Werk zum Lob des Weltschöpfers zählte, sondern der Dienst an der Sache selbst, die, vom religiösen Schein entzaubert, dem Menschen dazu diente, sich die Erde untertan zu machen. Die Begegnung der beiden soll höflich, aber kühl beendet worden sein.(31)

Comenianisch oder Cartesianisch? Unterschiedliche Verläufe in England und Deutschland

Von nun an gab es, eingebunden in den weiteren Kontext der Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Spiritualismus, zwei Wege, Arbeiten und Lernen miteinander zu verbinden: den comeni-anischen Weg, der Arbeit als methodisches Prinzip im Sinne der ganzheitlichen Bildung des Menschen begriff und den cartesianischen Weg, der Arbeit als ökonomisches Prinzip sah, das Bildung vor allem benötigte, um sich die Natur untertan zu machen. Diese beiden Wege lassen sich länderspezifisch nachvollziehen: Während in Deutschland die Prinzipien von Comenius mit den pietistischen „Arbeitsschulen” im Sinne von Spener, Francke und Zinsendorf Geltung erlangten, erhielt in England die naturwissenschaftlich ausgerichtete Bildung den Vorzug. Ihre rasante Entwicklung verbindet sich vor allem mit dem Namen Francis Bacon von Verulam (1561-1626). Er versucht, den Geheimnissen der Natur durch das erfahrungswissenschaftlich ausgerichtete Experiment auf die Spur zu kommen. In seinem Buch: „The Advancement of Learning“ (1605) untersuchte er die Voraussetzungen für verläßliche Erkenntnisfortschritte. Er fand sie in der Trennung von Glauben und Wissen. Wissenaber wurde durch Experimente gewonnen. Diesen Ausgangspunkt übertrug Bacon in seinem Buch „Nova Atlantis“ (1624) auf den Unterricht in den Naturwissenschaften.(32)

Abb. 6: An den Säulen des Herkules vorbei...Titelbild von Nova Atlantis des Francis Bacon (1624)

Das Titelblatt der erst nach Bacons Tod als Fragment veröffentlichten Schrift zeigt ein Schiff, das die Säulen des Herkules, d. h. die alte Welt verläßt und zu neuen, unbekannten Ufern aufbricht. Diese beschreibt er, in die Form einer Utopie gekleidet, anhand des Lebens des Inselvolkes Bensalem. Ihr Mittelpunkt war das Haus Salomon, dessen Funktion darin bestand, die gesamte Kultur und technische Produktivkraft des Staates aufgrund besonderer Privilegien voranzutreiben. Das Haus Salomon war ein Großlaboratorium und Wirtschaftsunternehmen, das nach den Grundsätzen experimenteller Forschung arbeitete. Seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sollten kein Selbstzweck sein, sondern dazu dienen, für alle Bewohner der Insel ausreichende Lebensbedingungen zu schaffen und die Vervollkommnung der Daseinsverhältnisse anzustreben. Motor der naturwissenschaftlichen „Grund-lagenforschung” war ein Orden; sein Hauptarbeitsmittel war die Propagierung einer universalen Erfahrung, die auch die bei der Arbeit gewonnene Erfahrung einschließen sollte. Dem Orden schwebte eine Bildung vor, in der die natürlichen Landschaftsgegebenheiten, wie Höhlen, Seen, Türme als Lernstoff für die naturwissenschaftliche Bildung ebenso ausgenützt werden sollten wie Bücher, in denen man liest. Die Novizen des Ordens sollten daran Optik, Thermodynamik, Mechanik, Landwirtschaft, Pharmazie und Akustik studieren. Für Bacon war dieses Lernen, begriffen als naturwissenschaftlich exakt aufgebauter Gang der Erfahrungsgewinnung, der Zugriff auf die Neuzeit. Daß diese wenige Jahrzehnte nach Bacons Tod in Form der industriellen Revolution einsetzen würde, in der sich das Verhältnis von Arbeiten und Lernen radikal veränderte, hat er nicht ahnen können, aber die Grundlagen dafür waren gelegt: Die Schulen wurden nicht, wie Comenius es vorgesehen hatte, zu Werkstätten, sondern umgekehrt, die Werkstätten wurden zu Schulen, zu Arbeitsschulen. Aloys Fischer hat 1924 auf diesen bis dahin wenig beachteten Aspekt der unterschiedlichen Entwicklung in England und Deutschland hingewiesen: "Auf englischem Boden hatte der Geist einer Beschränkung der Erkenntnis auf das grundsätzlich Erfahrbare am frühesten einer Bildungsauffassung Bahn gebrochen, die den nützlichen Menschen, den brauchbaren Arbeiter als ihr vielleicht bescheidenes, aber erreichbares Ziel verfolgte, und mit der Erziehung nicht einen an sich wertvollen Persönlichkeitszustand, sondern eine willige und geschulte Menschenkraft für kleinere und größere Aufgaben bezweckte...Unterdessen war der methodische Sinn des Wortes „Arbeit“ von dem ökonomischen abgehoben worden ... Damit war die folgenschwere Vieldeutigkeit dieses Begriffes in pädagogischem Zusammenhang da, mit der wir bis zur Stunde ringen ... Die einen sagten „Arbeitsschule“ und meinten die Wirtschaftsbedürfnisse, die anderen sagten „Arbeitsschule“ und hatten den Geist im Auge, als dessen Wesen ihnen die Selbstbewegung erschien". (33)

Der deutsche Pietismus und die Arbeit für Gotteslohn

In Deutschland verlief die Entwicklung anders. Hier war es vor allem der Pietismus, der dem Verhältnis von Arbeiten und Lernen eine andere Richtung gab. Spener, Francke und Zinzendorf waren zwar stark durch den englisch-niederländischen Pietismus beeinflußt, und es nimmt nicht wunder, daß die deutschen Pietisten Erziehungsanstalten gründeten, die die Verbindung von Arbeit und Lernen auszeichnete, aber für sie war das Lernen für die Glaubensgemeinschaft und das Arbeiten für die gemeinsame Sache wichtiger als die bloße Lernarbeit für die Manufaktur oder die Industrie. (34) Den Pietisten galt Berufsarbeit als Gottesdienst, der Beruf war ihnen Berufung. Die Vorbereitung darauf bestand in der Einübung der strengen Zucht gegen alle geistigen und fleischlichen Gelüste. Zeitvergeudung war die erste und schwerste aller Sünden. Ihre Aufmerksamkeit in Hinsicht auf Bildung konzentrierte sich weniger auf die religiösen Aspekte (wie bei Comenius) oder auf das Lernen durch Erfahrung (wie bei Bacon) sondern vielmehr auf den gesamten Erziehungsgang von Kindern und Jugendlichen und einer dementsprechenden Umsetzung in die Praxis. August Hermann Franckes (1663-1727) zahlreiche Schulgründungen (zwischen 1698 und 1700 in Halle) sind Ausdruck dieses Bemühens. 

Abb. 7:  Die Franke´schen Anstalten - Stich von Gründler, 1749

Bei Franckes Tod wies sein Pädagogium 82 Schüler und 70 Lehrer auf, die Lateinschule hatte 400 Schüler und 32 Lehrer, in den Deutschschulen waren 1725 Knaben und Mädchen mit 98 Lehrern und 8 Lehrerinnen vertreten; im Waisenhaus waren 100 Knaben und 34 Mädchenuntergebracht.(35) Die "Franke´schen Anstalten" insgesamt beschäftigten zu diesem Zeitpunkt rund 3.000 Menschen, die in verschiedenen Manufakturen, einem Buchhandel, einem  Zeitungsverlag (die „Hallesche Zeitung”), einer Apotheke, einem Medikamentengroßhandel, der Landwirtschaft und der Papiermühlen arbeiteten. (36) Arbeit in der Schule wurde von Francke als die Hinwendung zu weltlichen Aktivitäten, als Vorbereitung auf den Beruf gesehen. Der Beruf wiederum (den auch der Adel zu ergreifen hätte), diente dazu, den Versuchungen der Sinnlichkeit zu widerstehen, "das Volck vom Müßiggang und Schwelgen, deßen Verstattung auch eine Hauptquelle des Verderbens ist, abzugewehnen und zu nützlicher Arbeit anzuhalten und auf diese und andere Weyse die Menschen in einen Zustand zu setzen, daß man dergleichen Übelthaten und Excesse von ihnen nicht leicht zu befahren haben möchte, welche bey der Verwahrlosung so vieler tausend Menschen nicht anders als häuffig an allen Orten sich hervor thun können".(37) Je nach künftigem Stand wurde der Unterricht im Hinblick auf entsprechende weltliche Tätigkeiten differenziert: Für die Armen-, Bürger- und Waisenkinder deutsche Schulen, ein Pädagogium als Anstalt zur Erziehung des Herrenstandes adeliger und anderer vornehmer Leute und eine Lateinschule für einheimische Bürgerkinder, die zum Studieren erzogen werden sollten. Verstanden hat Francke diese Schulen als „praktisches Christentum“, ihre Aktivitäten wurden - gerade auch gegenüber den Armen - als geeignete Mittel erachtet, dem Reiche Gottes die Wege zu bahnen. Ausgebildet wurde im Hinblick auf die künftige Bestimmung; so wurden Waisenkinder im Stricken unterrichtet, Waisen- und Armenmädchen wurden in Hausarbeiten eingeführt, aber auch den höheren Ständen wurde Handarbeit zugemutet u. a. Drechseln, Glasschleifen und Papparbeiten. In den Frankeschen Anstalten gabe es also zwei Formen von Arbeit: handwerklich-produktive und methodisch-sinnvolle. Jeder wurde zur „Mitarbeit“ verpflichtet, im Sinne des Zusammenhalts einer großen Familie, des Betriebes. Aber nicht nur für den Hausbedarf wurde gearbeitet. Auch im Unterricht ging es darum, die Jugend an Arbeitsamkeit zu gewöhnen. Der Versuch allerdings, die Kinderarbeit zu einem tragenden Faktor des Waisenhauses zu machen, diese kurze Episode der Strumpfmanufaktur, scheiterte am Widerstand der Lehrer und der Kinder. Sie wurde auch noch lange Zeit später, von Franckes Urenkel August Hermann Niemeyer, als „Fabriquengeist“ kritisiert.(38)

In der pietistischen Kombination von Glaube als wahrer Gottseligkeit, der den Zöglingen „eingepflanzt“ werden sollte, und der Erziehung dieses Christenmenschen zum Beruf, der als „Berufung” anzusehen war und in dem man zur Ehre Gottes arbeitete, liegt ein wichtiges Unterscheidungsmoment gegenüber dem erheblich durch wirtschaftliche Interessen bestimmten Protestantismus, der die englische Arbeitschule hervorbrachte und schließlich auch die ausgedehnte Arbeit von Kindern in den Fabriken. Bei Francke, ebenso wie bei den Herrnhuter Brüdergemeinden um Ludwig von Zinzendorf, steht die Erziehung im Vordergrund. Dabei wird die Arbeit als ein besonders geeignetes Mittel für alle Kinder und Jugendlichen, nicht nur für die Armen, sondern auch für die höheren Schichten, angesehen. Arbeit verhindert nicht nur Müßiggang in allen Lebenslagen, sondern ist sichtbares und lebendiges Zeugnis des Glaubens. Über den Erziehungsprozess hinaus leistet jeder seinen Gottesdienst im Beruf - zur Ehre Gottes und im Dienste der Gemeinschaft. Der Erwerb von handwerklichen Fertigkeiten, ja, die ganze Berufsbildung, waren für die pietistische Erziehung - und hier stehen die Pietisten in der Nachfolge von Comenius - nicht Ziel an sich und darum nicht das Zentrum der pädagogischen Bemühungen, sondern das Ziel der Arbeit war die Verinnerlichung der durch die Arbeit vermittelten Arbeitstugenden, nicht der höhere Profit. Lernen durch Arbeiten diente der Selbstregulierung. Wer faul war, versündigte sich: "Siehst du nun, du Fauler, wer den Schaden davon hat, dass du dich nicht hast erwecken lassen, dass du dem Herrn zu einem geheiligten Gefäss zubereitet würdest?" (39) 

Gegen die verderbliche Faulheit, die zur Sittenlosigkeit führte, war jedes Mittel recht: das Spiel des Kleinkindes, der Unterricht, die produktive Arbeit - alles das wurde als pädagogische Maßnahme gegen sie eingesetzt. Daß sich aus dieser pietistischen Arbeitserziehungskonzept am ehesten der Realienunterricht als Vorform der Realschule entwickeln konnte, ist naheliegend. So gründete vielleicht nicht zufällig der Francke-Schüler, Johann-Julius Hecker, in Berlin eine der ersten „ökonomisch-mathematischen” Realschulen.

Aufklärung und „Arbeitserfahrung: Rousseau vs. Locke.

Durch die Aufklärung stellten sich neue Bezugspunkte im Verhältnis von Arbeiten und Lernen her. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen jetzt Ziele, Inhalte und Grundlagen des Erziehungsprozesses allgemein. Bezogen auf den pädagogischen Gehalt von Arbeit in diesem Prozeß stehen sich am Ende - bezogen auf Deutschland und England - zwei Konzepte gegenüber: das Rousseausche und das Utilitaristische. Für England leiten an der Schwelle zur industriellen Revolution, die hier wesentlich früher als auf dem Kontinent einsetzt, John Milton (1608-1674) und John Locke (1632-17O4) die Orientierung auf die Nützlichkeit von Arbeit ein. Bei Comenius oder Francke war die Nützlichkeit als wichtiges didaktisches Auswahlkriterium vorhanden, Nutzen freilich nicht im utilitär-wirtschaftlichen Sinne, sondern eher gedacht als Maßstab für die Erziehung des Menschen zum Menschen. Es bedurfte nach Blankertz nur einer „kleinen Wendung“, um die Nützlichkeit der Bildung "als Differenzierungsgesichtspunkt (Hervorhebung d. V.) für die Erziehung der zu verschiedenen Aufgaben im Leben bestimmten Kinder" (40) zu mißdeuten.

Bildung sollte nach Ansicht der Utilitaristen zwar in Anlehnung an die protestantische Ethik mit dem praktischen Leben verknüpft werden, aber nur dort, wo sich die Verbindung auch als nützlich erwies. Das Nützlichkeitsprinzip markierte den Beginn der industriellen Entwicklung, die die Grenzen des Feudalsystems und des Merkantilismus hinter sich gelassen hatte. Im Mittelpunkt der Bildungsinteressen stand der merkantil ausgerichtete Wirtschaftsbürger. Er war der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung: Was ihm nützte, nützte allen. Damit er die Nützlichkeit der Dinge erkennen konnte, mußte er gebildet werden. Die Utilitaristen sahen, daß die industrielle Produktion infolge der Gleichförmigkeit der Arbeitsabläufe keine „Arbeitserfahrung”, sondern Arbeitsdisziplin und Anpassung an vorgegebene Strukturen erforderte. Für John Milton (41) stand die gelungene Verbindung von theoretischem und praktischen Wissen im Vordergrund. Lernen mußte eine Brücke zur wirklich nützlichen Welt herstellen. Respektive sollten die Bildungsinhalte nicht nur vom Ballast der Aufhäufung von totem Wissen befreit werden, sondern eine enge Verbindung von Theorie und Praxis vor allem dort eingehen, wo sie eine neue Sicht der Nützlichkeit von Dingen ermöglichten: "Was hindert sie (die Schüler - d. V.)...so oft es nötig ist, die hilfreichen Erfahrungen von Jägern, Geflügelzüchtern, Fischern, Schäfern, Gärtnern und Apothekern in Anspruch zu nehmen und in den anderen Wissenschaften die von Architekten, Ingenieuren, Seeleuten, Anatomen, welche zweifellos bereit sein werden, einige gegen Entgelt und einige, um ein so hoffnungsvolles Seminar zu begünstigen?". (42)

Die nützliche Bildung war gleichwohl nicht für jedermann bestimmt, sondern nur für die Personen, die es nach Stand und Herkunft verdienten. Gemessen an den Reformzielen der deutschen Pietisten war dies ein Rückschritt. Miltons geforderter steter Wechsel von Theorie und Praxis durch Berücksichtigung „außerschulischer Lernorte” war nicht gedacht als Erfahrungsgewinn durch Berufsbezogenheit oder Berufsvorbereitung, sondern ein methodischer Zugriff, der auf spätere Anleitungsfunktionen des Zöglings in der Wirtschaft abzielte. Was bei Milton nur angedeutet war, baute Locke zu einem Bildungsideal aus. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand nur noch der „Gentleman“, dessen Erziehung und Bildung auf den vier Prinzipien Tugend, Weisheit, Lebensart und Kenntnisse beruhte. An letzter Stelle standen dabei die konkreten Kenntnisse, die nur eine gewisse Ergänzung der vorangegangenen allgemeinen Menschenbildung darstellten. Deshalb brauchte man nach Locke´s Auffassung auch keine öffentlichen Schulen, sondern nur geschickte Hauslehrer.

Als Handbuch für die richtige Auswahl und Anleitung solcher Lehrer war der Brief „Some Thoughts Concerning Education“ von 1692 für Lockes Verwandten Edward Clark ursprünglich gedacht. Die Erfahrung durch Arbeit war darin ein eher zu vernachlässigendes Medium des Bildungsprozesses: Der Zögling sollte als eine Art „Hobby“, ein leichtes Handwerk erlernen wie das Gärtnern oder das Drechseln auf dem Lande; in der städtischen Kultur konnte die Ausbildung aus Lackieren, Gravieren, Sticken oder Vergolden bestehen. Für den Gentleman waren solche Kenntnisse, im Gesamt seiner Bildung gesehen, eher nebensächlich. Sie stellten einen gewissen Ausgleich zu seinen sonstigen Tätigkeiten im Unterschied zu den arbeitenden Menschen dar, die, wenn man sie nicht beständig zur Arbeit anhielt, der Gefahr ausgesetzt waren, als Müßiggänger und Kostgänger der Gesellschaft zu enden: "Die Kinder der arbeitenden Leute sind meist eine Last für die Gemeinde und werden gewöhnlich in Müßiggang gehalten, so daß ihre Arbeitsleistung der Öffentlichkeit verlorengeht .... Das wirksamste Mittel dagegen ist, daß künftig dafür gesorgt wird, daß in jeder Gemeinde Arbeitsschulen errichtet werden, zu denen alle Kinder über drei und unter vierzehn gehen müssen". (43)

Die Arbeitsschule war nicht als Bildungseinrichtung, sondern als Anstalt für die Erziehung durch Arbeit gedacht. Die poor laws hatten zum Verschwinden von Landstreicherei, Bettelei, Elend und Immoralität, hervorgerufen durch die Armut, wenig beigetragen. Wenn man wenigstens den kleinen Bettlern eine religiöse und eine gewisse Elementarbildung angedeihen ließ, könnte man aus ihnen fromme und gewissenhafte Arbeiter machen, während sie sonst als Abenteurer, Vagabunden und Landstreicher ihr Leben fristen würden. Das war der Kern der „nützlichen” Erziehung. In diesem Zusammenhang ist es ohne Belang, ob man Locke als Apologeten abtut, der pädagogische Tugenden nur entworfen habe, um die Proletarier von den politischen Tendenzen des frühbürgerlichen Aufklärungsdenkens auszuschließen wie Markert (44) meint, oder man ihn umgekehrt als Vorläufer der kontinentalen Aufklärer sieht. (45) Immerhin war der Weg geebnet, daß man auch den Kindern der Armen elementaren Unterricht erteilen wollte, der ihrem Stande angemessen erschienen, wie dies später in den auf karitativer Grundlage operierenden Schulen der „Society for Promoting Christian Knowledge“ und der „Academies of Dissent“ geschah.(46) Locke führte das zu Ende, was bereits durch die normative Kraft des Faktischen entschieden war: Im Mittelpunkt stand nicht die Verbindung von Arbeiten und Lernen, sondern die Frage nach den Bildungsanteilen, die bestimmte gesellschaftlichen Schichten brauchten, um die neuen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Möglichkeiten zu nutzen. Warum sollte der Arbeiter Bildung erwerben, wenn er sie im Produktionsprozeß gar nicht brauchte? Warum sollte der erfolgreiche Wirtschaftsbürger in seiner Jugend Arbeit an der Werkbank kennenlernen, wenn er dazu bestimmt war, die Wirtschaft zu lenken? Immanent gesehen hatte Locke durchaus recht, als er den bereits bestehenden Dualismus zwischen arm und reich auf die Erziehungsaufgaben übertrug.

Abb. 8:  J.J. Rousseaus´s Emile erschien in Erstausgabe 1762 in Amsterdam (warum wohl dort?) 

Eben dies akzeptierte Jean Jacques Rousseau (1712-1778) nicht. Er hatte nicht die Ehre, einen Edelmann zu erziehen (47) , sondern stellte in seinem Erziehungsroman „Emile“ ein Kind in den Mittelpunkt, das nicht den höheren Schichten entstammte.(48) Es machte für ihn keinen Unterschied, ob sein „Emile“ ein Wilder, ein Bürgerkind oder ein Adliger war. Entscheidend war das, was die Erziehung aus ihm machen würde: "Wir werden schwach geboren und bedürfen der Kräfte; wir werden hilflos geboren und bedürfen des Beistandes; wir werden dumm geboren und bedürfen des Verstandes. All das, was uns bei der Geburt noch fehlt und dessen wir als Erwachsene bedürfen, wird uns durch Erziehung zuteil".(49)

Erziehung bestand nach Rousseau in der Einübung von Normen, die dem Kind dazu verhalfen, in einer feindlichen Umwelt zu überleben. Die Locke´schen Erziehungsprinzipien Tugend, Weisheit, Lebensart und Kenntnisse waren seiner Meinung nach der harten Realität nicht angemessen, sie verbildeten den Heranwachsenden und verstärkten den künstlichen Horizont. (50) Die Erziehung sollte dagegen in Einklang mit der Natur stehen und fremden Einflüssen nicht unterworfen sein: Leben war der „Beruf”, den Emile lernen sollte. (51) Mit dieser Auffassung, die stark autobiographische Züge trägt, wandte er sich endgültig von dem von ihm bewunderten Locke ab.(52) Dessen Forderung, man solle das Kind von früh an als ein „vernünftiges Geschöpf“ behandeln und ihm „vernünftig zureden“, widersprach Rousseau vehement:"Den Kindern mit Vernunftsgründen zu kommen, war Locke’s Hauptmaxime, und heute ist sie große Mode. Indessen scheint mir ihr Erfolg nicht recht geeignet, ihr Vertrauen zu schenken. Ich für meine Person kenne nichts Dümmeres als Kinder, denen man zuviel vorräsoniert hat".(53)

Rousseau begründete seine Ablehnung damit, daß die Vernunft sich von allen Fähigkeiten am schwersten und spätesten entwickelte, weil sie eine Zusammenfassung aller anderen Fähigkeiten sei. Die „Nützlichkeit” des Lernens bezieht sich deshalb nicht einfach auf die Entwicklung der Tugenden zum Nutzen für die Gesellschaft, sondern wird in Beziehung zum kindlichen Wohlbefinden, auf sein „bien-etre actuel“ gesetzt. Dieses Lernen geht über die Sinne zu den Begriffen. Es erscheint nur konsequent, daß der Zögling Emile nicht Gentleman, sondern Schreiner werden sollte: "Ich will natürlich nicht, daß er Sticker, Vergolder oder Lackierer wird wie Lockes Edelmann. Ich will auch nicht, daß er Musiker, Komödiant oder Schreiber von Büchern wird. Außer diesen Berufen und denen, die ihnen gleichen, mag er alle wählen, die er will - ich werde ihn bestimmt nicht hindern. Eher soll er Schuster werden als Dichter; lieber soll er Landstraßen pflastern als Porzellanblumen fabrizieren".(54)

Die Handarbeit sei der Natur am nächsten, darum soll Emile neben dem Ackerbau auch ein Handwerk lernen. Dieses Handwerk gilt es kennenzulernen, und zwar weniger, um es zu beherrschen, als um die Vorurteile zu besiegen, die es mißachten. Das nach allen Gesichtspunkten vorteilhafteste Handwerk war für Rousseau das Schreinerhandwerk; es sei sauber und nützlich, halte den Körper genügend in Bewegung, außerdem verlange es Geschicklichkeit und „de l’industrie“. (55)

Die Neigung des Zöglings war für Rousseau der ausschlaggebende Punkt für seine Berufsentscheidung. Für diese Entscheidung brauchte das Kind Erfahrungen, die auf einem gesichertem Bild des zu wählenden Berufs beruhten, was weder aus Büchern erlernbar (56) noch aus vorgeblichen frühkindlichen Begabungen ableitbar war: "Die Welt ist voll von Handwerkern, und vor allem von Künstlern, die durchaus keine angeborene Begabung für die Kunst haben, die sie ausüben und zu der man sie schon in ihren früheren Jahren getrieben hat, entweder aus Zweckmäßigkeit oder weil man sich durch offenbaren Eifer täuschen ließ, den sie genausogut auf jedes andere Handwerk gewandt hätten, wenn sie es in der Praxis gesehen hätten. Dieser hört eine Trommel und sieht sich schon als General; jener sieht, wie ein Gebäude errichtet wird, und schon fühlt er sich als Architekt. Jeden lockt der Beruf, den er ausüben sieht, sobald er meint, es wäre ein hochgeachteter Beruf".(57)

Zur Vertiefung der Gewißheit, welcher Beruf für Emile geeignet sein könnte, fügte Rousseau in seine Berufswahlüberlegungen im modernen Sinne die Methode „Arbeitserfahrung” ein: "So schlage ich denn vor, daß wir jede Woche mindestens ein- oder zweimal einen ganzen Tag beim Meister verbringen, daß wir zur selben Stunde aufstehen wie er und noch vor ihm bei der Arbeit sind, daß wir an seinem Tisch essen, daß wir auf seine Anordnungen hin arbeiten und, nachdem wir die Ehre hatten, mit seiner Familie zu Abend zu essen, nach Hause gehen, wenn wir wollen, und in unseren harten Betten schlafen. So lernt man mehrere Berufe auf einmal und auch, wie man sich in Handarbeit üben kann, ohne darüber die andere Lehre zu vernachlässigen". (58) Gewünschter Zweck dieser Bemühungen der Hinwendung zur „l´industrie” ist laut Rousseau, daß Emile lerne, wie ein Bauer zu arbeiten und wie ein Philosoph zu denken („qu’il travaille en paysan et qu’il pense en philosophe“).(59) Es geht also Rousseau nicht in erster Linie um die Bildung zur Industrie im Sinne einer Berufsvorbildung, sondern um den weitergehenden Versuch, die Arbeit als Teil der allgemeinen Menschenbildung im Sinne der Natur und der Vernunft mit dem eigenen Leben in Einklang zu bringen. Handarbeit im Sinne der Gewinnung von Arbeitserfahrung ist dieser Menschenbildung dienlich und ab einer gewissen Altersstufe unerläßlicher Bestandteil zur Herausbildung dieser menschlichen Natur. „De l’industrie“ ist ein nicht unerwünschter Effekt der im 12. bis 15. Lebensjahr erworbenen handwerklichen Ausbildung, aber diese dient nicht in erster Linie dem künftigen Lebensunterhalt, sondern der allgemeinen Bildung. Zentraler Zweck erzieherischen Bemühens ist die Erkenntnis des für die menschliche Bildung Nützlichen, das sich an der Natur orientieren müsse. Handwerkliche Tätigkeiten und der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten führt bei Rousseau im Unterschied zu Locke über den Zeitvertreib hinaus zu allgemeineren Kenntnissen und Vorstellungen. Arbeit dient der (menschlichen) Erkenntnis und versöhnt Natur und Gesellschaft.

Gentleman oder Handwerker?

Abb. 8:  John Locke´s "Gedanken über Erziehung", Deutsche Erstausgabe, 1708

Der zentrale Unterschied zwischen Locke und Rousseau bestand in der Frage der Rolle der aus Arbeit gewonnenen Erfahrung für den Bildungs- und Erziehungsprozeß: Lockes Pädagogik benötigte diese Form von Erfahrung nicht, weil der spätere Beruf des Gentleman bereits durch seinen gesellschaftlichen Stand vorgezeichnet war. Rousseaus Zögling hingegen soll mehr werden als ein Gentleman: eine allseitig gebildete Persönlichkeit. Insofern nahm ihre Auseinandersetzung um die Notwendigkeit von Arbeit und Erfahrung spätere Konflikte zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung gleichsam vorweg.(60) Für England - und dies ist ein folgenreicher Unterschied zur Entwicklung im Verhältnis von Arbeiten und Lernen auf dem Kontinent - kommt nicht Rousseaus Konzept zum Tragen, sondern das von Locke. Dort verfestigt sich der Dualismus zwischen arm und reich im gesamten Bildungswesen: Die unteren Gesellschaftsklassen müssen lernen zu arbeiten, die oberen müssen lernen, diese Arbeit später anzuleiten und zu beaufsichtigen. Im englischen Utilitarismus erreicht dieser Dualismus seine krasseste Form.

Es nimmt deshalb nicht wunder, daß auf Rousseau aufbauende Erziehungs- und Bildungskonzepte, so auch das von Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) in England kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dessen Auseinandersetzung mit den Gedanken Rousseaus führten ihn zu einer pädagogischen Anthropologie, die Naturgegebenheiten, Sozialisation, biographische Entwicklung und humanistisches Denken verband. Pestalozzis Wirkung in England findet man heute nur in den Erziehungs- und Bildungsplänen einiger Internatsschulen wieder, die der Reformpädagogik nahestehen - immer noch verbunden mit einem Schuß Elitenbewußtsein. Selbst in einem Standardwerk zur Sozialgeschichte englischer Erziehung von Lawson/Silver (61) wird z. B. Pestalozzi lediglich die Idee zugeschrieben, daß die Erziehung mehr praktisch als theoretisch ausgerichtet sein solle.

In Deutschland hingegen gewinnt Rousseau, nicht Locke an Einfluß. Dem ist zuzuschreiben, daß „de l´industrie” hier nicht zu einem Synonym für Kinderarbeit, Überausbeutung und Maschinenmenschentum verkommt. 1789 gibt Johann Heinrich Campe (1746-1818) in seiner pädagogischen Buchreihe „Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens” eine Übersetzung des „Emile” heraus. In fortlaufenden Kommentaren und Anmerkungen zu einzelnen Textstellen diskutieren verschiedene Autoren wie Peter Villaume (1746-1825) und Ernst Christian Trapp (1745-1818) - beide gehörten zu den bekanntesten Pädagogen in Deutschland - über das Konzept Rousseaus. Ihre Schlußfolgerung lautet: Rousseau sei „soviel als möglich zu folgen - aber bezogen auf unsere deutschen Verhältnisse”. Was das bedeutet, wird im Kommentar zu jener Stelle deutlich, in der Rousseau den Wert der Erfahrung erläutert hat, die durch Arbeit beim Meister zu gewinnen ist (62): "Handarbeit ist nicht eine so unfehlbare Zuflucht, wie er sie vorstellt. Vorerst muß man, um Arbeit zu bekommen, nicht allein geschicket sein, man muß auch Lehrbriefe und Attestate haben ... Wenn ihm auch der Meister Arbeit geben wollte; die Gesellen werden es nicht zulassen, sie werden Emile hinauswerfen und von der Hobelbank wegprügeln ... Es ist auch nicht immer Arbeit voräthig... oder die Zunft verbietet es ihm".(63)

Der deutsche Weg: Die "Philantropen"

In Deutschland sind Traditionen oft langlebiger als bei den Nachbarn. Das galt insbesondere in Preußen. Dies hatte Vor- und Nachteile. Was im Falle der Rousseau´ schen Erfahrung durch Arbeit den deutschen Pädagogen nachteilig erscheint, erweist sich umgekehrt auch als Vorteil: Die Standes- und Zunftordnungen sorgten dafür, daß die krudesten Formen utilitaristischer Arbeitserziehung, wie sie sich in England ausbreiteten, hier nicht zum Zuge kamen. Vielmehr mußte in Deutschland ein Zwischenweg gefunden werden, der „de l´ industrie” als Prinzip mit den Bedingungen der ständischen Arbeitswelt in Einklang brachte. Es ist vor allem Johann Bernhard Basedow (1724 - 1790), dem mit der Gründung des „Philantropiniums” in Dessau 1774 dieses Kunststück gelang. In seiner privat (mit Unterstützung des Fürsten Leopold Friedrich von Anhalt) gegründeten Anstalt fiel nicht nur die für vornehme Kinder übliche Perücke und die Kavalierstracht (sie wurde durch die bis ins 20. Jahrhundert üblichen Matrosenanzüge ersetzt), sondern es wurde auch tüchtig gewerkelt - vornehmlich geschreinert.(64) Hand, Leib und Geist sollten nach Basedow mit gleicher Sorgfalt gepflegt werden. Die Knaben der Philantropine, von denen es bis zum Jahrhundertende über 60 in Deutschland gab, wurden in handwerklichen Arbeiten (Holz- und Gartenarbeiten), für die jeweils nachmittags eine Stunde reserviert war, unterrichtet. Auch Christian Gotthilf Salzmann (1744 - 1811), der Gründer des Philantropins in Schnepfenthal (1786) , befürwortete er vehement den Gebrauch der Hände als des Menschen vornehmstes Werkzeug, welches nicht rosten dürfe. Im „Ameisenbüchlein“ (65) fordert er, daß die Zöglinge vornehmlich in den Freistunden unter Anleitung Gelegenheit zum Selbstverfertigen (von Papierspielereien, Korbflechtereien, Papparbeiten, Schreinerarbeiten u. a.) erhalten. Nicht nur würden die Kinder dadurch vor Ausschweifungen bewahrt, sondern solche Tätigkeiten würden den kindlicher Tätigkeitstrieb befriedigen und Vergnügen bereiten. Denn ein Mann, der mit seinen Händen nicht mancherlei Geschicklichkeit in der Jugend erworben habe, sei nur ein halber Mann, weil er beständig von anderen Leuten abhängig sei. Der Tätigkeitstrieb - für Salzmann ein Geschenk des Schöpfers - ist die „Stahlfeder” des jungen Menschen. Bücher und Griffel vermögen ihn nicht zu befriedigen, denn dazu bedarf es des Nachdenkens und der Vernunft, die sich eben erst allmählich entwickeln. Im Unterschied zu Basedow, bei dem zwischen tätigem Spiel und tätiger Arbeit noch nicht streng unterschieden worden war, gibt Salzmann der nützlichen Arbeit den Vorrang. Die Arbeiten und Schülerämter werden mit Geld bezahlt, damit jeder Eigentum akkumulieren kann. Gestraft wird hingegen mit dem Entzug lohnender Ämter.(66) Dieses „marktwirtschaftliche Modell” soll zur Gewöhnung an die Berufsarbeit beitragen. Neben die Arbeit tritt bei Salzmann aber auch in starkem Maße das entdeckende Lernen, vor allem durch gemeinsame Reisen, deren erzieherischer Wert sowohl Locke wie auch Rousseau gesehen hatten. Sie stellte Salzmann in sechs Bänden als „Reisen der Salzmannschen Zöglinge” zusammen. Auf solchen Reisen sollte vor allem die Wahrnehmung geschult werden. Sie wurden gründlich vorbereitet und waren Teil des Unterrichts. Neben dem Wandern, Gymnastik etc. erfindet Salzmann hier - modern gesprochen - die Betriebserkundung als Teil der Berufsorientierung. Auf der Reise werden Fabriken, Kolonisationsprojekte, Bergwerke etc. erkundet. Für Salzmann geht es dabei freilich weniger um den berufsorientierenden Aspekt für seine Zöglinge, als um das Nachdenken über Arbeit und die Arbeitswelt überhaupt. Beispiel: Ein Bergwerk wird besichtigt. Der Pädagoge fragt einen Bergmann, ob nicht bei all der Mühe wenigstens die Aussicht bestände, der oberste der Bergleute zu werden. Der Bergmann verneint dies, die Kinder der Reichen würden immer bevorzugt. Der Lehrer gibt zu, daß dies nicht in eine Gesellschaft paßt, die sich allein durch Leistung und Tugend legitimieren sollte. Angesichts der Vorrechte der Reichen erschlaffe die Tätigkeit der Bergleute. Solche Argumente äußert der Lehrer allerdings erst, als er wieder mit seinen Schülern allein ist, weil er besorgt war, er könnte seine Schüler mit solchen Feststellungen unzufrieden machen.(67)

Abb. 9: Christian Salzmann´s Reisen der Zöglinge zu Schnepfenthal, 1803

Blankertz faßt die drei für die pädagogische Theorie des Philantropismus unerläßlichen didaktischen Grundsätze wie folgt zusammen: 

1. Die Bildung muß auf die Berufs- und Standeserziehung ausgerichtet werden.

2. Die Inhalte sind um der Gemeinnützigkeit willen unvertauschbar.

3. Alle gemeinnützigen Inhalte müssen so gelehrt werden, daß sie zur gleichmäßigen Entfaltung aller Kräfte beitragen. (68)

Daß dazu auch die Verbindung von Arbeiten und Lernen gehört, ist seit dieser Zeit pädagogisch unstrittig. Über den „Nutzen” solcher Maßnahmen, d. h. wem diese Verbindung nutzen soll, dem Zögling, der Gesellschaft oder der Industrie, darüber gehen die Meinungen aber stark auseinander. Für Rousseau ist es der Zögling, der der Nutznießer ist. Er lernt dazu. Für die Philantropen ist es die Gesellschaft, die auf das Nützliche ausgerichtete Wirtschaftsbürger braucht. Der Nutzen für den Zögling bleibt zweitrangig. Für die englischen Utilitaristen ist es die Industrie, da sie den Nutzen des Ganzen durch die Hebung des Volkswohlstandes mehrt. Hier spielen subjektive Interessen der zu Erziehenden keine Rolle mehr.

Utilitaristische Arbeitserfahrung vernutzt die Kinder

Ein Vertreter des (englischen) Utilitarismus auf der deutschen Seite ist Karl Friedrich Bahrdt (1741- 1792), den Blankertz das „enfant terrible” der Philantropen nennt - nicht nur seiner Biographie wegen.(69) Bahrdt war Theologieprofessor an mehreren Universitäten, Direktor eines Philantropins in Marschlins und beendete seine Karriere schließlich als Gastwirt in Halle. Für Bahrdt muß jede „Thätigkeit“ auf der Gewöhnung an Tätigkeit beruhen. Aufgabe des Erziehers sei es, die verschiedenen Arten der Tätigkeiten und des daraus entstehenden Wohlbefindens zu erkennen und dementsprechend zu fördem. Da alle Menschen zwangartig arbeiten müßten, so sei der erste Zweck der Erziehung und Bildung des Menschen für diese Welt, daß er lerne. Nur selten dürfe man seiner Laune folgen; was der Beruf fordere, „muss gethan werden, es mag schmecken oder nicht“: Alle Menschen müßten arbeiten, „zwangartig arbeiten“, darum müsse bereits die Jugend an anbefohlene und vorgeschriebene Arbeit gewöhnt werden, bis sie zur zweiten Natur wird.(70) Bahrdts Schlußfolgerung lautet daher: das Schulsystem muß auf die Industrie ausgerichtet werden. 1785 veröffentlicht Heinrich Philipp Sextro (1746 - 1836) die Programmschrift des deutschen Utilitarismus: „Über die Bildung der Jugend zur Industrie”. Hier schließt sich wieder der Kreis zwischen der deutschen und englischen Pädagogik der Aufklärung. Was mit Comenius und den pietistischen Aufklärern begonnen hatte, nämlich die Verbindung von Arbeiten und Lernen als bewußt eingesetztes didaktisches Instrument der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen zu nutzen, sich bei Rousseau zum Prinzip Erfahrung durch Arbeit als Teil der Menschenbildung erweitert hatte, steht am Ende der Epoche an einer entscheidenden Weggabelung: Arbeit als methodisches Instrument des Lernens oder Arbeit als ökonomisches Erziehungsprinzip im Sinne eines „Lerne, zu arbeiten”.

Bevor wir deshalb am Beginn des 19. Jahrhunderts diese Entwicklung in Deutschland weiter betrachten, müssen wir zunächst verfolgen, was sich im ökonomisch weiter entwickelten England unter diesem Blickwinkel ereignet hat. Wir können so besser verstehen, worauf sich in Deutschland diejenige Fraktion der Philantropen stützte, die die Ausrichtung auf die „Industrie“ als pädagogisches und moralisches Kriterium der allgemeinen Menschenbildung einführte.

Die Industriebildung als "nützliche" Erfahrung durch Arbeit.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah man England als die „Werkstatt der Welt”. England, von außen weitgehend unbeeinflußt geblieben von der französischen Revolution, im Innern gestützt auf eine Staatsreligion und politisch gesehen ein geeinter Nationalstaat war größter Importeur und Exporteur Europas, besaß die größte Handelsflotte und die meisten Kolonialgebiete. Dies verdankte das Land Umständen wie dem Besitz von Bodenschätzen (Kohle) im Innern, dem Reichtum seiner Kolonien draußen und technischen Erfindungen wie der Dampfkraft. Die verschiedenen Phasen der industriellen Revolution hatten eine enorme wirtschaftliche Dynamik ausgelöst, die der Kontinentaleuropäer nur bestaunen konnte. Was nach außen hin aber als Welthandels- und Kolonialmacht erstrahlte, war im Innern allerdings erkauft mit der krassesten Verelendung, der schlimmsten Kinderarbeit, der Vergrabung ganzer Bevölkerungsschichten in den Bergwerken, in Kohlenminen, in Arbeitshäusern oder in den modernen „panoptischen“ Zuchthäusern Jeremy Benthams. (71)

Abb. 10:  Jeremy Bentham vererbte sein Vermögen der Universität London mit der Auflage, seine Gebeine müssten an allen Ratssitzungen teilnehmen...Bild aus: Treiber/Steinert S. 76.

Kaum jemand hat die Lage der arbeitenden Klassen im damaligen England so akribisch nachgezeichnet wie Friedrich Engels (72) und Karl Marx.(73) Charles Dickens Romane geben davon ein literarisches Zeugnis. (74) 

Bei Locke und Rousseau war der Gehalt des Begriffes „Industria“ noch nahe bei seinem lateinischen Ursprung als Synonym für Fleiß und Regsamkeit, vornehmlich bei der Handarbeit angesiedelt. Adam Smith benutzte das Wort „Industry“ bereits für die Kennzeichnung einer Fabrikation in Abgrenzung zur Handarbeit.(75) Das „workhouse“, bei Smith noch gelegentlich mit der Manufaktur gleichgesetzt, war zum Betrieb mit Massenfertigung, zum Industriebetrieb, geworden.

Die aufblühende Industrie mit ihrer Koppelung des Menschen an Maschinen unter Nützlichkeits- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, hatte hier wenig Interesse an einer Bildung breiter Schichten, wenig Interesse an beruflicher Bildung und deshlab auch nicht an durch Arbeit vermittelte Erfahrungen. Trotz glänzender Handelsbilanzen entwickelte England als einer der letzten Staaten Europas ein nationales Schulwesen, wobei es im Unterschied z. B. zur Entwicklung in Deutschland nicht gelang, die Wirtschaft von der Notwendigkeit einer beruflichen Nachwuchsbildung zu überzeugen.(76) Die industrielle Revolution ließ das Bild einer Wirtschaft entstehen, von der man sich mit Hilfe höherer Bildung eher entfernen mußte, als von ihr zu lernen, und vor der diejenigen Jugendlichen durch Gesetze zu schützen waren, die das Pech hatten, von ihr vereinnahmt zu werden. Diese Auffassung gegenüber der Wirtschaft hat sich z. T. bis heute erhalten.(77)


Abb. 11:  Blick in eine Bell-Lancaster Monitoring Schule ca. 1810

Die Fabrikgesetzgebung (Factory Acts) ab 1867, die vo allem zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor den brutalsten Ausbeutungsmethoden gedacht war, war eine Notbremse, um zu verhindern, daß die zukünftige Arbeitsbevölkerung bereits im Kinder und Jugendalter geistig und körperlich „verbraucht” wurde. Da Kinder aufgrund ihrer Statur besonders gut in Minen, Textilfabriken und an Stahlöfen einsetzbar waren, waren sie z. T. begehrtere Arbeitskräfte als ihre Eltern und ernährten ganze Familien mit ihrer Arbeit. Was sie zur Ausführung dieser Tätigkeiten an Lernstoff brauchten, entschied der Fabrikant, und die einfachste Umsetzungsform für diese „notwendige und nützliche Bildung” war der Fabrikunterricht selbst. Bildung unter Vermeidung aller Unkosten war das Leitwort für dieses System, das u. a. von Andrew Bell und Joseph Lancaster entwickelt und als „Monitorial-System“ bekannt wurde. Der Fabrikunterricht war dem industriellen Arbeitsprozeß maßstabgetreu nachempfunden. Analog zur Arbeitsteilung in der Fabrik wurde der Unterricht in entsprechende Schritte zerlegt. In großen Schulräumen wurden nach genauem Zeitplan bis zu hundert und mehr Kinder nebeneinander und nacheinander von älteren Kindern (Monitors) in Lesen und Schreiben instruiert, die zuvor selbst instruiert worden waren. Das System „halbe Schule - halbe Arbeit“ wurde öfters von Fabrikanten als nützliche Verbindung von Unterricht und Handarbeit ausgegeben, hatte aber eine ganz andere Zielsetzung, wie ein Fabrikant gegenüber einer Untersuchungskommission über Kinderarbeit 1865 betonte: "Ich bin durchaus überzeugt, daß das wahre Geheimnis der Produktion tüchtiger Arbeiter gefunden ist in der Vereinigung der Arbeit mit Unterricht von der Periode der Kindheit an ... Ich wünschte, meine eigenen Kinder hätten Arbeit und Spiel zur Abwechslung von der Schule".(78) 

Bleibt die Frage, warum dann, wenn dieser angebliche so moderne Unterricht in den Fabriken ein Fortschritt war, der Adel und das reiche Bürgertum seine Kinder nicht dorthin, sondern auf public schools wie Hazelwood, Eton, Harrow oder Rugby schickten? Der Fabrikunterricht war keine pädagogisch geplante Verbindung von Arbeit und Unterricht, sondern eine Methode, die Kinder frühzeitig der Fabrikdisziplin zu unterwerfen, sie ganztags zur Verfügung zu haben und die Produktion flexibler handhaben zu können. Es gab nur wenige Fabrikanten wie Robert Owen (1771-1858), der in seinem Musterbetrieb im schottischen New Lanark versuchte, die soziale Frage mit neuen Elementen eines Erziehungssystems für die Zukunft zu verbinden. Marx hat in Kenntnis der Arbeit Owens später hieraus die Forderung nach „polytechnischem” oder „technologischem” Unterrichts entwickelt: "Wenn die Fabrikgesetzgebung als erste, dem Kapital notdürftig abgerungene Konzession nur Elementarunterricht mit fabrikmäßiger Arbeit verbindet, unterliegt es keinem Zweifel, daß mit der unvermeidlichen Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse auch der technologische Unterricht, theoretisch und praktisch, seinen Platz in den Arbeiterschulen erobern wird".(79) Vergl. den Artikel über Robert Owen auf dieser homepage. 

Das Bildungswesen war es vor allem, das die in der industriellen Revolution entstandene Klassenteilung der Gesellschaft am deutlichsten widerspiegelte. Die privaten public schools, die das von Locke hochgehaltene Hauslehrer-Prinzip abgelöst hatten, formten die Führungselite des Landes. Die Mittelschicht-Kinder gingen in die meist kirchlich gebundenen grammar schools und dame schools;(80) die Kinder der Unterschicht in die Fabrikschulen. Für diejenigen, die wegen bereits eingetretenen Schädigungen nicht mehr industriell arbeiten konnten, gab es die Schulen der Society for Promoting Christian Knowledge. Durch produktive Arbeit in der Schule sicherten die Kinder dort nicht nur deren Erhalt, sondern ihren eigenen Unterhalt. Die beiden letzteren Schultypen waren es vor allem, die den deutschen Vertretern des Utilitarismus als Vorbilder dienten. So hat bereits 1745 der Braunschweiger Hofprediger J. Fr. W. Jerusalem einen Bericht über diese Einrichtungen übersetzt und kostenlos verteilt.(81) In beiden Schultypen war die Verbindung von Arbeiten und Lernen auf „nützliche” Art und Weise gelöst worden.

Die Idee der "Industrieschule" setzt sich nicht durch

In Deutschland wird die Entwicklung der Fabrik- und Armenschulen aufmerksam beobachtet. Dabei gibt es bei den Philantropen durchaus geteilte Ansichten über die richtige Rezeption dieser neuen Art nützlichen Lernens. Industrie- oder Arbeitsschulen hatte es vor allem in Böhmen gegeben. 1782 bestanden hier rund 100 solcher Schulen, 1796 bereits 674. Ihr Förderer, der später geadelte und zum Bischof aufgestiegene Ferdinand Kindermann hatte Franckes Armenanstalt als Vorbild genommen und richtete 1777 an der Prager Stadtpfarrei eine Arbeitsschule ein. Die Kinder wurden für ihre Arbeit bezahlt und brachten oft aus der Schule mehr Geld mit nach Hause, als sie mit anderer Arbeit verdient hätten. Auch die Lehrer waren die Nutznießer der Arbeitsschule. Sie verdienten am Gartenbau und an der Seidenraupenzucht, die zum Arbeitsunterricht dazugehörten.(82) Nach Kindermanns Vorbild errichtete Wagemann im evangelischen Teil Deutschlands, in Göttingen, ein Institut, welches durch Schulung von Fertigkeiten dem „einfacheren“ Volk Möglichkeiten zur Selbsterhaltung und zu ökonomischem Gewinn bieten sollte. Göttingen, wo Sextros Fragment „Über die Bildung der Jugend zur Industrie” 1785 erschienen war, wurde unter der Ägide des Herzog Leopold von Braunschweig zum Mekka der deutschen Industrieschulbewegung.

Abb. 12:  Industrieschule in Himmelskron ca. 1890

Verschiedene Gründe waren für Sextro dafür ausschlaggebend, daß die Arbeitserziehung notwendig und nützlich wurde: Sie sei ein probates Mittel gegen Verzärtelung und Prachtliebe, verhindere Schlaffheit, Entnervung, und Kränklichkeit und bekämpfe die Arbeitsscheue einiger Bevölkerungssschichten. Der paulinische Satz: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen” war für Sextro das Leitmotiv seiner Industriephilosophie. In Abkehr von pietistischen Auffassungen erweiterte er den Begriff des Müßiggangs, indem er wischen Fleiß und Industrie trennte. Der „fleißige Mensch” , also der Handwerker im herkömmlichen Sinne, arbeitet bedächtig und ruht nach der Zeit der Arbeit entsprechend lange, wohingegen der in den neuen Produtkionsstätten mit neuen Methoden tätige Mensch nicht nur länger auf Kosten der Ruhezeit arbeitet, sondern durch die Teilung der Arbeitsvorgänge auch schneller und rationeller. Zählbare Zeiteinheit bei dieser neuen Arbeitsweise ist nicht mehr der Tag, sondern die Minute. Deshalb muß auch, wie Bernhard Heinrich Blasche, Lehrer bei Salzmann in Schnepfental, in seinem Buch über den „Papparbeiter” (1797) ausführt, auch an den Industrieschulen die „Schnellthätigkeit” herrschen. „Industrie“, das heißt jetzt: Fleiß plus Schnelligkeit plus Arbeitsteilung wie bei Adam Smith. Eine solche Arbeitshaltung wurde nicht nur zur wirtschaftlichen Hebung des Armenstandes gefordert: Diesem „Gewerbefleiß“ hätten sich alle unterzuordnen.(83) Er wird das Kennzeichen aller vorwärtsstrebenden, soz. fortschrittlichen Menschen , die die Zeichen der Zeit erkannt haben: "Industrie also sucht hervor, breitet aus, bildet, schafft, regelt, will immer vorwerts - der schaffenden, bildenden, zerstörenden und wieder bildenden Natur nach. Der Fleiß nutzt nur, was da ist, bleibt still im Kreise, arbeitet nach dem Herkommen, zählt und thut, was er kann". (84) 

Die „Industrie“ und ihre Anforderungen war auch ein Schlagwort im Kampf gegen die herkömmliche Schule, welche der Trägheit und dem Müßiggang Vorschub leiste. In diesem Sinne ging es vorwiegend um die Änderung einer Arbeitshaltung und weniger um die nahtlose Anpassung an industrielle Produktionsweisen. Die Industrie fördert die Gewöhnung an die Ordnung, bildet die körperlichen und geistigen Kräfte aus und regt zum praktischem Denken und Handeln an. Waren sich die verschiedenen Vertreter relativ einig über die Zielsetzung ihrer Bemühungen - der Bildung zur Industrie, so zeigen sich doch erhebliche Differenzen bezüglich der Organisation und den Inhalten einer solchen Arbeitserziehung. Einige Industrieschul-befürworter wie Blasche oder Kohler wiesen auf die negativen Folgen der Arbeitsteilung durch repetitive und monotone Bewegungsabläufe hin, (85) die eine gleichmäßige Entwicklung der menschlichen Kräfte verhinderten. Mit gemischten Gefühlen betrachtete man das englische Vorbild und seine sichtbaren Auswüchse. Es ist vor allem der Prediger und Lehrer Karl Ludolf Friedrich Lachmann, der - selbst aus der Industrieschule Braunschweig hervorgegangen - in seiner 1802 erschienen Schrift „Das Industrieschulwesen, ein wesentliches und erreichbares Bedürfnis aller Bürger- und Landschulen” eine kritische Sichtung der Ansätze Campes, Sextros, Wagemanns und Basedows vornahm. Lachmann warnte hierin vor einer neuen Gefahr, die in England sichtbar geworden war: "Und wenn in England, dem isolierten Inselreiche, bei der weitgetriebenen Theilung der Arbeit, die bloß mechanischen Arbeiter in den Fabriken bis zur thierischen Rohheit hinabsinken, und der öffentlichen Sicherheit gefährlich werden - was hat Teutschland, bei einigen stehenden Mißverhältnissen mehr zu erwarten, wenn man nicht planmäßig Vorkehrungen trifft!!" (86)

Seine Forderung lautete: Planmäßige Nationalerziehung, um das verderbliche Spiel der freien Marktkräfte einzudämmen. Aus diesem Grund lehnte Lachmann auch die mit Fabriken direkt verbundenen Schulen ab. Die Kinder sollten in der Schule lernen, Arbeiten für die Fabrik zu unternehmen: "Bei Fabriken, die Maschinen gebrauchen, fallen immer Zwischenarbeiten vor, die sich für Kinderhände in Schulen eignen. Wenn also nur die Industrieschulen mit dem Gange der Zeit fortschreiten und bei Anlegung derselben ...darauf Rücksicht nimmt, solche Fabriken und Industrieschulen möglichst nahe bei einander anzulegen, um den Transport und die Aufsicht zu erleichtern - so wird man nie an guten Arbeitsmitteln für Schulen, und nie an Kinderhänden zu Manufakturen Mangel haben".(87)

Dies ist - gemessen an den geschilderten englischen Zuständen - ein durchaus pragmatisch zu nennender Vorschlag. Auch Friedrich Eberhard Freiherr von Rochow, Gutsbesitzer zu Reckahn in der Mark Brandenburg, der vielgerühmte Musterschulen für Bauernkinder eingerichtet hatte, sah die Negativposten der Arbeitserziehung: In welchem Maße kann die Industriebildung die Entwicklung brauchbarer Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse be- und verhindern? Kann sie nicht auch der „Charakterbildung” durch diese Art von Bildung abträglich sein? Kann industrielle Arbeit, wenn sie die Menschen eher vertiert als vermenschlicht, überhaupt zur Sittlichkeit und Tugend führen? Einen Ausweg sah Rochow in der schulischen Handarbeit. Unabhängig von den künftigen Berufsgeschäften empfahl er - damit keine Langeweile oder Müßiggang aufkomme - das Spinnen von Flachs und Wolle, das Stricken von Strümpfen und zusätzlich noch für die Mädchen das Nähen.(88) Ähnlich pragmatisch sah Campe diesen „deutschen” Weg der Industrieschule: Ausschlaggebend für die Wahl der Handarbeitstätigkeiten, zu deren Gewöhnung nach Maßgabe des künftigen Standes die Industrieschulen beitragen sollten, sollten die örtlichen Gegebenheiten sein. In der Regel sollte täglich ein Teil der Schulzeit für Stricken (von Strümpfen), Nähen oder Spinnen (von Flachs, Hanf, Wolle oder Seide), vermittelt von einer dazu bestellten verständigen Person, in allerlei Handarbeiten reserviert werden. Auch Industriegärten, in denen Baumzucht, Futtergräser-, Küchenkräuterpflege u. a. gelehrt wurde, hielt er für sinnvoll. Das englische Vorbild, die reine Fabrikschule, faßte in Deutschland jedenfalls nicht Fuß, wohl auch deshalb, weil die preußische Regierung frühzeitig einschritt: In einem Regulativ von 1839 wurde festgelegt, daß Kinder ab dem 9. Lebensjahr bis zu 10 Stunden Fabrikarbeit(!) leisten durften.(89) Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren nur noch wenige Industrieschulen direkt mit einer Fabrik verknüpft: die fortschreitende Mechanisierung und Arbeitsteilung machte die Kinderarbeit zunehmend unproduktiver. Der Zusammenhang von Unterricht und Arbeit löste sich in dem gleichen Maße auf, wie Rentabilitätsüberlegungen in den Vordergrund rückten. Bildungspolitisch gesehen hat aber der Neuhumanismus dem deutschen Utilitarismus den Todesstoß versetzt. Bereits 1807 veröffentlichte Ernst August Evers seine Programmschrift mit dem an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Titel: „Über die Schulbildung zur Bestialität”. Dieses Pamphlet - und als solches ist es gemeint - wies allein schon den Begriff der Nützlichkeit im Zusammenhang mit Bildung zurück. Der den Utilitaristen vorschwebende „industriöse Bürger” wurde von Evers als „Tiermensch” tituliert; seine Wesenszüge bestanden aus Selbstsucht, Betrug, Lüge und „moralischer Nullität”. Evers überzeichnete zwar in seiner Schmähschrift gegen die Philantropen deren Absichten, aber die Wendung gegen die „nützliche Bildung” war damit vollzogen. Friedrich Immanuel Niethammer und insbesondere Wilhelm von Humboldt stellten die allgemeine Menschenbildung vor die Spezialbildung, z. B. in Form der Berufsbildung. Die Entwicklung eines gegliederten Schulwesens, das von Preußen ausgehend, schließlich im nationalstaatlichen Rahmen des Deutschen Reiches verwirklicht wird, behielt insgesamt gesehen die Oberhand gegenüber einer Bestimmung der Bildung durch die Industrie. Das Verhältnis von Arbeiten und Lernen wurde freilich in Deutschland in den später öffentlichen Elementar- und Realienschulen auf den Handarbeitsunterricht (vor allem für Mädchen) reduziert. Daß die deutsche Entwicklung, im Unterschied zur englischen, nicht nur früher zu einer Trennung zwischen Berufs- und Allgemeinbildung (unter Einschluß von Handarbeit für die unteren Schichten) führte, sondern sich darüber hinaus gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung des dualen Systems eine in Europa einzigartige Verbindung von Arbeiten und Lernen herausbildete, kann gegenüber der Entwicklung in England durchaus als Glücksfall angesehen werden.

Folgen: Allgemeinbildung und Berufsbildung in England fallen auseinander

Anders ist die Entwicklung in England verlaufen. Hier hat sich erst spät ein einheitliches Bildungssystem herausgebildet, in dem es allerdings bis heute - bedingt durch „Erblasten” aus den Zeiten der industriellen Revolution - kein einheitliches Berufsausbildungssystem gibt. Getreu dem utilitaristischen Prinzip, sich möglichst wenig in die Privatwirtschaft einzumischen, brauchten englische Regierungen eine lange Zeit, um die auf Dauer unhaltbaren Zustände abzuschaffen. 1833 stellte die Regierung zum ersten Mal einen Betrag von 20.000 £ zur Unterstützung der Grundschulerziehung für ausgewählte Schulen bereit.(90) Dies war, verglichen z. B. mit der Entwicklung in Preußen, wo bereits in den Jahren zwischen 1809 und 1818 W. von Humboldt, J. W. Süvern und G. H. Nicolovius das nationale Bildungswesen neu formierten,(91) ein später Zeitpunkt für staatlich gelenkte Bildungspolitik. War England dem Kontinent wirtschaftlich um Jahrzehnte voraus, bildete es jetzt, bildungspolitisch gesehen, das europäische Schlußlicht. In einer Rede am 17. 2. 1870 faßte der damalige Vorsitzende des Bildungsrates, W. H. Forster, die Situation nach dem Ende des Gründungsfiebers der industriellen Revolution so zusammen:"Wir finden eine große Anzahl schlecht unterrichteter Kinder; eine große Zahl gar nicht unterrichteter Kinder, weil es zu wenig Schulen und zu schlechte Schulen gibt und weil es viele Eltern gibt, die ihr Kind nicht in die Schule schicken können oder wollen .... Es hat keinen Sinn, unseren Handwerkern ohne vorherige Grund-schulbildung.eine technische Bildung zu geben. Ungebildete Arbeiter - und die meisten unserer Arbeiter sind höchst ungebildet - sind zu großen Teilen ungelernte Kräfte, und wenn wir unser Arbeitsvolk länger ungelernt lassen, wird es durch die Konkurrenz in der Welt geschlagen".(92) Forster zeigte auf, welche Aufgaben ein nationales Schulwesen aus seiner Sicht erfüllen mußte. Es sollte dazu beitragen, daß England auf den Weltmärkten konkurrenzfähig blieb. Er erkannte die Interdependenz zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und der Bildung der Arbeiterschaft. Aus wirtschaftlichen Gründen war eine Verbesserung der Schulbildung anzustreben, und es mußten der Vergeudung menschlicher Fähigkeiten in den Fabriken Grenzen gesetzt werden. Diese Sicht markierte den Beginn eines neuen Verständnisses zumindest von Bildung. Das 1870 vorgelegte Gesetz über die Elementarbildung (Elementary Education Act) legte den Grundstein für das öffentliche Schulwesen. 1880 wurde die Schulpflicht gesetzlich verankert, und die lokalen Schulausschüsse (School Boards) wurden ermächtigt, auf die Einhaltung dieser Schulpflicht zu achten. Ab 1893 wurden alle Kinder schulpflichtig bis zum elften Lebensjahr, ab 1899 bis zum zwölften Lebensjahr. Durch den Balfour Act von 1902 erfolgte die Schaffung lokaler Schulbehörden (Local Education Authorities - LEA´s), die in Partnerschaft mit der Zentralregierung arbeiten sollten. Damit war es gelungen, die Zerstörung der Ad-hoc-Autoritäten des 19. Jahrhunderts zu vollenden.(93) Die Lokalen Schulbehörden, ausgestattet mit einer weitreichenden Autonomie, bauten in den Folgejahren das Schulwesen aus (1906 Versorgung der Schulkinder mit Mahlzeiten; 1907 ärztliche Schulinspektion). Ab 1910 erhielten sie durch das Gesetz über die Berufsberatung (Choice of Employment Act) die Möglichkeit, besondere Maßnahmen zur Beratung, Beschäftigungsförderung und Plazierung von Schulabgängern in der Industrie einzuleiten. Diese Vorform des heutigen Berufsberatungsdienstes (Careers Service), der durch die ebenfalls 1910 erfolgte Einrichtung der Labour Exchange eine Doppelrolle zwischen Lokaler Schulbehörde und Arbeitsverwaltung erhielt,(94) markierte den Schlußstein der Überwindung des kruden Industrialismus.
Wenngleich ab diesem Zeitpunkt hinsichtlich der Fortentwicklung des allgemeinbildenden Schulwesens viele Stränge zwischen Deutschland und England zusammenliefen, ergab sich bis heute der wesentliche Unterschied in der Betrachtung des Stellenwerts der Berufsbildung- und Ausbildung: "Training on the job" oder "Duale Ausbildung" sind nach wie vor historisch gewachsene Unterschiede in einem wichtigen Teilbereich von Arbeitserfahrung. 


Anmerkungen

[1]  aus: Five hundred points of good  husbandry united to as manyof good huswiferie, London 1573 - Powles ist die Chorschule der St. Paul´s Cathedral, von der Tusser kam)
[2]  Mitterauer, Michael (1986): Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt, S.126 
[3] Finkenstaedt, Th./Leisi, E./Wolf, D. (1970): A Chronical English Dictionary , Heidelberg, S.71. 
[4]  Bertholet, A. (1962): Wörterbuch der Religionen, Stuttgart, S. 44 
[5] Weber, Max (1904): Die protestantische Ethik und der “Geist” des Kapitalismus, Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung, hrsg. von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, Hain/Hanstein 1993, S.153. Ein weitverbreiteter Irrtum über Webers Thesen lautet, daß der protestantische Glaube die Ursache des Kapitalismus gewesen sei. Weber ging es aber darum, die „Wahlverwandtschaft“ zwischen der Religion und der Entwicklung moderner Gesellschaften herauszuarbeiten. Nicht umsonst ist der "Geist" im Original  in Anführungszeichen gesetzt.
[6]  ebenda
[7] Kieser, Alfred/Baur, Rita/ Guggenberger, Bernd/Mieth, Dietmar (1989): Arbeit - Luxus, Lebenselixier und Last, Freiburg, S.7-18. Die Verbindung zwischen Kirche und Staat zeigt sich bis heute darin, daß die anglikanischen Bischöfe Sitze im Oberhaus innehaben. 
(8] siehe zu diesem Komplex: Geremek, Bronislaw (1988): Geschichte der Armut, München/Zürich. S. 188ff.; Treiber, Hubert/Steinert, Heinz (1980): Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen - Über die Wahlverwandtschaft von Kloster- und Fabrikdisziplin, München, S. 78ff. Dreßen, Wolfgang (1982): Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen /Deutschland, Frankfurt, S. 84 ff.
[9] Sie traten unter Heinrich VIII und Elisabeth I aufgrund ihrer Konstruktion in Konkurrenz zu den bisherigen Grammar Schools, da sie direkt von König finanziert wurden. 
[10]  Rechtlich drückte sich dies im Unterschied von "common" laws und "poor" laws aus. 
[11]  Dreßen,a. a. O. S. 35 ff. 
[12] Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, hrsg, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1971, 24. Kapitel, Anmerkung, S. 788ff. 
[13]  More (Morus), Thomas (1517): Von der besten Staatsverfassung, betreffend die Insel Utopia, Basel, deutsch: Der utopische Staat, Reinbek 1987,  S. 69 ff.
[14]  Claeys, Gregory (2011): Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt, S. 59. 
[15]  zur Funktion utopischer Entwürfe siehe Dahrendorf, Ralf (1968): Pfade aus Utopia, München, S.242 
[16]  vgl. Laslett, Peter (1988): Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Köln/Graz, der einen hervorragenden Einblick in die Entwicklung gibt. 
[17]  Imhof, Arthur (1988): Die Lebenszeit, München, S.127.
[18]  vgl. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation, Band 1, Frankfurt, S. 239 und 229. 
[19]  Mitterauer (1986) S. 142
[20]  zitiert nach Flitner, Wilhelm (Hrsg.) (1961): Die Erziehung. Pädagogen und Philosophen über die Erziehung und ihre Probleme, Bremen, S.134.
[21]  zitiert nach Gonon, Philipp (1992): Arbeitsschule und Qualifikation, Frankfurt, S.28
[22]  Johann Amos Comenius: Große Didaktik, Kap. 10, zitiert nach Scheuerl, Hans (1992): Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München, S.26.
[23]  ebenda, 27. Kapitel, S. 28.
[24]  vgl. Schmid, Wilhelm: Das Leben als Kunstwerk, in: Kunstforum International, Band 142 (1998), „Lebenskunstwerke“ (LKW) S. 7 
[25]  Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus, Nachdruck der Erstausgabe von 1658, Dortmund 1991Text 
[26]  Panek, Jaroslav (1991): Comenius, Lehrer der Nationen, Prag, S. 42 ff. 
[27]  In London erreichte ihn auch der Ruf, Präsident des neugegründeten amerikanischen Harvard College zu werden. Siehe: Illich, Ivan (1982): Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek.S. 30/31.
[28]  Panek, ebenda, S. 40 
[29]  Lawson, John/Silver, Harold (1973): A Social History of Education in England, London, S. 154 ff.
[30]  siehe Sabine, G. H. (1965) : The Work of Gerrard Winstanley, New York, S.576 ff.;Turnbull, G. H. (1947): Hartlib, Dury and Comenius, London; Webster, C. (1970): Samuel Hartlib and the Advancement of Learning, Cambridge. 
[31]  Panek, ebenda, S. 45.
[32] Bacon, Francis, Baron von Verulam (1638): Nova Atlantis, London, deutsch: Neu-Atlantis in: Der utopische Staat, Reinbek 1987, S. 205 ff. 
[33] Fischer, Aloys (1924): Die Krisis der Arbeitsschulbewegung, in: Scheuerl, a. a. O. S. 325 ff. #
[34]  vgl. Weber, Max (1904): Die protestantische Ethik und der “Geist” des Kapitalismus, Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung, hrsg. von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, Hain/Hanstein 1993, S.53-104, speziell S. 94 ff. 
[35]  Zahlen bei Gonon (1992) a. a. O. S. 30
[36]  Zahlen bei Dreßen (1982) a. a. O. S. 120
[37]  A.H. Francke (1701): Die Fußstapffen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, zitiert nach Dreßen (1982) S. 117.
[38]  vgl. Gonon (1992), a. a. O. S. 30 ff. 
[39]  Francke, (1885) zitiert bei Gonon (1992) S. 32
[40] Blankertz, Herwig (1985): Berufsbildung und Utilitarismus, Weinheim und München, S. 31. 
[41]  Milton, John (1644): Von der Erziehung - Brief an Samuel Hartlib, Deutsche Übersetzung, Hamburg, 1946, S. 8 ff. 
[42]  Milton, ebenda, S. 8
[43]  Locke, John (1969): On Working School, in: Geschichte der Erziehung , Quellenband , Berlin S. 105
[44]  Markert, Werner, u. a. Erziehung in der Klasengesellschaft, hrsg. von Gamm, Hans-Jochen, München S. 18 ff. 
[45]  Flitner, Wilhelm (Hrsg.) (1961): Die Erziehung. Pädagogen und Philosophen über die Erziehung und ihre Probleme, Bremen, S. 160
[46]  Aries (1975) S. 426
[47] Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder Über die Erziehung, (1762) herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von M. Rang, Stuttgart, 1963, S. 719
[48] Deshalb wurden u. a. alle erreichbaren Exemplare des Buchs per Dekret vom 8. 5. 1762 beschlagnahmt und verbrannt und für den Autor die Todesstrafe gefordert. Der Autor entzog sich seinem Schicksal durch die Flucht nach Genf.
[49]  Rousseau, ebenda, S. 109
[50] Rousseaus „Pädagogik der Unabhängigkeit“ ist nicht gleichbedeutend mit dem ihm oft unterstellten „wilden Wachsenlassen“ (Laissez faire) . Emile wird von früh auf geleitet und geführt nach dem Willen des Erziehers, aber allein durch ein dialektisches Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Er wird also nicht erzogen im Sinne von „ziehen“, sondern findet sich selbst in seinen Stärken und Schwächen, Grenzen und Möglichkeiten. Vergleiche: Blankertz, Herwig (1982): Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar; S. 69ff. 
[51]  Rousseau, ebenda, S. 116
[52] Einige seiner „Lebensberufe“ waren u. a.: Graveur, Lakai, Komponist, Salonlöwe, Akademiepreisträger, Verbannter. Siehe: Kaplan, Louise (1988): Abschied von der Kindheit, Stuttgart, S. 57-78.
(53) Rousseau, ebenda, S. 205
(54) Rousseau, ebenda, S. 415
(55) Gonon (1992) S. 39 weist darauf hin, daß die deutsche „Emile“-Fassung von Schmidt diese Stelle mit „Kunstsinn“ übersetzt; die Bearbeitung von Martin Rang gar mit “Intelligenz“. 
(56) Ausnahme: „Robinson Crusoe”, weil in der Robinsonade selbst der Gelehrteste darauf angewiesen wäre, sich dem unmittelbar Nützlichen zuzuwenden.
(57) Rousseau, ebenda, S. 417
(58) Rousseau, ebenda, S. 423
(59) Gonon (1992) S.39
(60) Der Grundkonflikt zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung wirkte auch in den Werken Daniel Defoes (1660-1731) nach, der seinen Robinson Crusoe in dem berühmten Buch von 1713 auf einer Südsee-Insel - nicht in Sheffield oder Manchester - diejenigen Erfahrungen gewinnen ließ, die dem Autor zur Menschwerdung notwendig erschienen.
(61) Lawson/Silver (1973) a.a.O. S. 173-179. Vgl. auch Silber, Käte (1963): Pestalozzis Beziehungen zu England und Amerika, Zürich, S. 163-174
(62) vgl. Zitat (58) 
(63) zitiert bei Dreßen (1982) S. 142
(64) Blankertz (1982) a. a. O. S. 80 ff. 
(65) Salzmann, Christian Gotthilf (1805): Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher, hrsg. von Theo Dietrich, 1960
(66) vgl. Dreßen (1982) S. 156 ff. 
(67) 
Beispiel: Ein Bergwerk wird besichtigt. Der Pädagoge fragt einen Bergmann, ob nicht bei all der Mühe wenigstens die Aussicht bestände, der oberste der Bergleute zu werden. Der Bergmann verneint dies, die Kinder der Reichen würden immer bevorzugt. Der Lehrer gibt zu, daß dies nicht in eine Gesellschaft paßt, die sich allein durch Leistung und Tugend legitimieren sollte. Angesichts der Vorrechte der Reichen erschlaffe die Tätigkeit der Bergleute. Solche Argumente äußert der Lehrer allerdings erst, als er wieder mit seinen Schülern allein ist, weil er besorgt war, er könnte seine Schüler mit solchen Feststellungen unzufrieden machen. Vgl. Dreßen (1982) S. 158
(68) Blankertz (1982) a. a. O. S. 86
(69) ebenda, S. 82
(70) Gonon (1992) a. a. O. S. 47
(71) Bentham, Jeremy (1787): Das Panoptikum, hrsg. von Christian Welzbacher, Berlin 2013
(72) Engels, Friedrich (1845): 
Die Lage der arbeitenden Klasse Englands, in Karl Marx/Friedrich Engels Werke (MEW), Band 2, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin.
(73) Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, hrsg, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1971, S. 319 ff. 
(74) vgl.: „Oliver Twist“; „David Copperfield“; „Der Raritätenladen“.
(75) Smith, Adam (1776): Der Wohlstand der Nationen, Nach der vollst. Ausgabe, München 1978.
(76) Blankertz (1985)  Blankertz, Herwig (1985): Berufsbildung und Utilitarismus, Weinheim und München, S. 17 ff.
(77) Nach Untersuchungen von CEDEFOP, dem Europäischen Zentrum für Berufsbildung, über die Attraktivität industrieller Berufe nimmt die Fabrikarbeit bei Jugendlichen den letzten Platz auf der Liste der Berufswünsche ein.
(78) zitiert bei Marx a. a. O. S. 507
(79) ebenda, S. 512
(80) Der Name der Schulart rührte von der Mehrzahl der dort unterrichtenden weiblichen Lehrkräfte her. Näheres siehe bei Lawson/Silver (1973) S. 233ff.
(81) Dreßen (1982), a. a. O. S. 178.
(82) ebenda, S. 178 ff. 
(83) Blankertz (1985) a. a. O. S. 143. 
(84) Sextro, zitiert in Dreßen (1982) S. 183.
(85) vgl. Gonon (1992) S. 49 ff.
(86) zitiert nach Dreßen (1982) S. 192.
(87) ebenda, S. 193.
(88) vgl. Gonon (1992) S. 50
(89) vgl. Rutschky, Katharina (1991): Deutsche Schul-Chronik, München, S.117-121.
(90) Gordon, Peter/Lawton, Denis (1984): A Guide to English Educational Terms, London, S. xiii
(91) siehe Blankertz (1982) S. 116 ff. 
(92) Maclure, John Stuart (1968): Educational Documents, England and Wales 1816 - 1967, London, S. 99 ff.
(93) siehe Ryder, Judith/Silver, Harold (1977): Modern English Society, second edition, London,
(94) Bemerkenswert daran ist, daß Arbeitsvermittlungen in England früher existierten als in Deutschland. 1910 wurde W. Beveridge von Handelsminister Winston Churchill zur Einrichtung von 61 Arbeitsvermittlungsstellen ermächtigt. Im Deutschen Reich z. B. wurde die allgemeine staatliche Arbeitsvermittlung erst 1927 eingeführt.