Arbeitserfahrung (work experience) als Methode der Berufsorientierung
Bernd Hainmüller
Einleitung
We don‘t need no education,
we don´t need no thoughts control
no dark sarcasm in the class rooms
hey, teachers leave the kids alone !
All and all you‘re just another
brick in the wall...
Pink Floyd: „The Wall“, 1979
Auch wenn es auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen mag, hat dieses weltbekannte Lied der Pop-Gruppe Pink Floyd von 1979 einiges mit diesem Artikel zu tun. Es drückt nämlich ein Lebensgefühl vieler Jugendlicher auf den Punkt genau aus: Schulen sind umgeben von Mauern, die vor dem wirklichen Leben abschotten, und die Lehrer darin setzen Stein auf Stein auf diese Mauern, bis nur noch trüber Sarkasmus die Eingeschlossenen im Klassenzimmer beherrscht. Aus welchen Quellen wurde diese vehemente Anklage gegen die Schule gespeist? Wie entsteht ein solches „Anti-Lernklima”? Drückt es ein allgemeines Unbehagen Jugendlicher im Hinblick auf Schule aus? Was sind dann die Hauptkritikpunkte? Was könnten die Ursachen dafür sein und in welche Richtung sollten sich Schulen verändern, wenn die Lagebeschreibung stimmt? Der vorliegende Artikel versucht, einige dieser Fragen bezogen auf den Bereich der Methodik und Didaktik der Berufsorientierung zu beantworten. Hier, an der Nahtstelle zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung müssen Schulen den Beweis antreten, ob sie in der Lage sind, Schülern jenes Rüstzeug mitzugeben, das diese für den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt benötigen, oder ob sie diese Aufgabe versäumen. Sind die von Schulen benutzten Instrumente der Berufsorientierung noch zeitgemäß oder brauchen wir ganz neue, der heutigen Lebenswirklichkeit von Jugendlichen angemessene didaktisch-methodische Ansätze? Dies waren einige meiner Ausgangsüberlegungen. Im Rahmen der Teilnahme an ersten Aktionsprogrammen der Europäischen Gemeinschaft zum Übergang von der Schule in die Arbeitswelt von 1976 - 1982 erhielt ich die Gelegenheit, die Situation in anderen europäischen Ländern kennenzulernen. Mein besonderes Interesse konzentrierte sich deshalb auf Fragen wie: Gibt es gemeinsame Grundannahmen hinsichtlich des Zweckes von Arbeitserfahrungsprogrammen? Können sich die in anderen Ländern entwickelten Ansätze zur Bewältigung der Probleme des Übergangs gegenseitig befruchten, auch wenn sie auf unterschiedlichen bildungspolitischen Voraussetzungen beruhen? Läßt sich nachweisen, daß solche Programme wirkliche Hilfen für den Übergang ins Berufsleben sind? Reichen die entwickelten Verfahren auch in Zukunft aus? Die Ergebnisse meiner Untersuchungen wurden in einer Dissertation 1996 der Öffentlichkeit vorgestellt. (1)
Heute, fast vierzig Jahre später, sind wir in der Beantwortung dieser Fragen nicht sehr viel weiter gekommen. Im Juni 2014 lag die Zahl von jugendlichen Arbeitslosen in den Mitgliedsstaaten bei 22,2 % , mit einer breiten Spreizung zwischen 56,3% in Griechenland und 7,8% in Deutschland.(2)
Warum? Haben wir viel getan und die anderen Länder zu wenig? Oder haben wir uns einfach nur konjunkturell begünstigt um die die Klippen herum geschmuggelt? Es gibt bisher nur wenige Vergleiche der Methodik und Didaktik der Berufsorientierung an Schulen in Europa. Dies gilt vor allem für die Vorbereitung auf die Berufs- und Arbeitswelt. Und es ist allgemein üblich, die gute Stellung der Bundesrepublik im Chor der europäischen Länder damit zu begründen, dass in den meisten europäischen Ländern kein Berufsausbildungssystem existiert , mit dessen kurzfristiger Ausweitung man die Übergangsprobleme zumindest vermindern kann. Bedeutete dies - im Unterschied zur Bundesrepublik - dass die anderen europäischen Länder praktisch beim Punkt Null beginnen müssen, nachdem sie das Problem vierzig Jahre lang verschlafen haben? Ich meine, man muß sich dort dem Phänomen Übergang von ganz anderen Seiten her nähern, z. B. statt Teillösungen in verschiedenen Bereichen anzustreben, muß man den Gesamtprozeß des Übergangs von der Schule ins Arbeitsleben ins Auge fassen und hier nach neuen, grundlegenden Lösungsmöglichkeiten suchen, die wirkungsvoller sein könnten als Einzelmaßnahmen. Inwieweit sich durch den Vergleich der Methodik und Didaktik der Berufsorientierung Rückschlüsse für eine Neubewertung unserer eigenen Ziele, Inhalte und Methoden der Berufsorientierung ziehen lassen und ob wir in der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden eine europäische Zukunftsperspektive der Berufsorientierung gewinnen können, ist die Hauptfrage dieses Artikels.
Europäische Bemühungen zur Entschärfung einer Zeitbombe
Wenn der Wind des Wandels weht,
bauen einige Mauern, andere Windmühlen.
(Chinesisches Sprichwort)
In Europa tickt eine gefährliche Zeitbombe. Sie besteht aus einer brisanten Mischung mehrerer Benachteiligungen:
Ausschluß vom Arbeitsleben; Ausschluß von Bildung und Ausbildung; Ausschluß vom Wohlstand;
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Ausschluß vom Arbeitsleben: In Europa waren im Mai 2014 mehr als 5,6 Millionen junger Menschen unter 25 Jahren ohne Job. Auf dem letzten Krisengipfel (Juli 2014) in Berlin stellte Angela Merkel eine feste Summe im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit inn den Raum: Sechs Milliarden Euro sollen in den kommenden zwei Jahren investiert werden - sie sind für Regionen gedacht, wo mehr als 25 Prozent der jungen Menschen einen Job suchen. Wie genau das Geld verwendet werden soll, ist allerdings immer noch nicht klar. Wird das helfen, einer "verlorenen" Generation auf die Beine zu helfen? Zur Mitte des Jahres 1994 waren bei den Arbeitsämtern in der Europäischen Union rund 18 Millionen Arbeitssuchende erfaßt, davon mehr als fünf Millionen Jugendliche unter 25 Jahren. Die Arbeitslosenquote für Jugendliche beträgt immer noch das Doppelte der allgemeinen Quote (11% zu 22%). Nach dreißig Jahren ein eher niederschmetterndes Ergebnis. Fast die Hälfte aller Arbeitslosen ist länger als ein Jahr ohne Arbeit.
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Ausschluß von Bildung und Ausbildung: 15 Millionen Jugendliche zwischen zwischen 15 und 25 Jahren haben im Anschluß an die allgemeine Pflichtschulzeit keine weiterführende Bildungs- und Ausbildungsqualifikation erworben; fünf Millionen von ihnen haben nicht einmal ihre Pflichtschulzeit mit Erfolg beendet.
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Ausschluß vom Wohlstand: ca. 17% von 502 Mio. Millionen Europäer leben an oder unterhalb der Armutsgrenze - ihre Kinder mit ihnen. (3)
Die Zukunft der Europäischen Union wird davon abhängen, ob diese Zeitbombe entschärft werden kann. Konkrete Lösungsansätze stehen unter einem enormen Zeitdruck, denn diese Benachteiligungen beeinträchtigen nicht nur die sozialen und beruflichen Lebenschancen der Betroffenen, sondern sie stellen vor allem die Glaubwürdigkeit der sozialen Werte, die in der Union gelten, in Frage. Zwar steht seit vielen Jahren die soziale Frage ganz vorne auf der Tagesordnung aller Gipfeltreffen der europäischen Staats- bzw. Regierungschefs, ebenso wie bei den verschiedenen Welt-Armutsgipfeln, aber feierliche Deklarationen werden schwerlich weiterhelfen.
Ein wichtigster Teil der Lösung dieser sozialen Frage ist zweifellos die umfassende Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt. Nach wie vor zählt das Gelingen des Übergangs von “der Schulbank an die Werkbank” zu einer der stärksten Stützen des Prozesses des Erwachsenwerdens von Jugendlichen. Der gelingende Übergang - so die einhellige Meinung der Fachleute verschiedener Disziplinen - trägt erheblich zur Identitätsentwicklung, zum Aufbau von Selbstwertgefühl und zur Ausweitung von Beziehungsgeflechten über die peer group hinaus bei. Außerdem verschafft er gesellschaftliche Anerkennung und - verbunden mit einem eigenen Verdienst - auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung außerhalb des engen Rahmens der eigenen Familie. Dieser Übergang ist heute für die meisten Jugendlichen kein abrupter Prozeß mehr, durch den man quasi ins Berufsleben - oder in die Arbeitslosigkeit - hinausgestoßen wird, denn er wird von verschiedenen Institutionen wie der Familie, der Schule, der Berufsberatung etc.von langer Hand vorbereitet (oder er sollte vorbereitet werden). In den meisten europäischen Ländern beginnt die schulische Beschäftigung mit dem Übergang im Alter zwischen dreizehn oder vierzehn Jahren, aber die Jugendlichen haben oft ein Alter von 17 oder 18 Jahren erreicht, bis sie ihn wirklich vollziehen. Dennoch trifft viele dann die Entscheidung, nach der Beendigung der Pflichtschulzeit eine berufliche Laufbahn anstreben zu sollen, derart „unvorbereitet”, daß sie nicht wissen, was sie mit den erworbenen formalen schulischen Qualifikationen anfangen könnten. Für diejenigen unter ihnen, die das Ziel formaler Bildungsabschlüsse nicht oder nicht in ausreichendem Maße erreichen, ist die Situation noch traumatischer: Fehlende Qualifikation, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Sozialhilfe, Wohnungs- und Familienprobleme ergeben eine Gemengelage von Benachteiligung und Ausgrenzung, bei der die Schwierigkeiten wechselseitig bedingen und verstärken.
Der Übergangsbereich zwischen 14 und 18 Jahren stellt von daher für die schulischen Lernstrategien in zweierlei Hinsicht eine große Herausforderung dar. Der Unterricht, mit dem auf den Übergang vorbereitet werden soll, muß erstens subjektive Faktoren berücksichtigen, wie den Reifegrad der jeweiligen Persönlichkeitsbildung, den Bildungsstand und möglichen Bildungsabschluß, die Zielsetzungen für die Zukunft etc. und zweitens die objektiven Faktoren, die sich aus der ökonomischen und sozialen Situation der jeweiligen Gesellschaft in Hinblick auf den Übergang ergeben. Es reicht also keineswegs aus, ein starres „Orientierungsmodell” für alle anzubieten. Mangelnde Qualifikation z. B. kann zum individuellen Beschäftigungsproblem werden, aber in strukturschwachen Regionen haben auch qualifizierte Bewerber geringe Chancen auf Ausbildung oder Beschäftigung.
Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragen, die schwierig zu beantworten sind: Soll der Unterricht die jeweils verschiedenen Zeitpunkte des Übergangs berücksichtigen oder nicht? Welche allgemeinen und zugleich welche individuellen Fertigkeiten und Kenntnisse müssen vermittelt werden, die für die Bewältigung des Übergangs unentbehrlich sind? Aus welchen Faktoren besteht überhaupt ein solches Spektrum von Kompetenzen, über das die Jugendlichen als Vorbereitung auf den Übergang verfügen sollten? Lassen sich diese kategorial erfassen und in entsprechende Lernsequenzen umsetzen? Und darüber hinausgehend gefragt: Gelten solche „Kompetenzen des Übergangs“ auch unabhängig von allen Außenfaktoren wie Wirtschafts- und Beschäftigungssituation, Qualifikationsniveaus und technologischen Veränderungsprozessen?
Die Übergangsperiode zwischen Schule und Berufs- und Arbeitswelt stand schon immer unter besonderen Belastungen, bedingt durch Fragen nach dem notwendigen Maß an Allgemeinbildung und dem ebenfalls notwendigen Maß an berufsbezogener Spezialbildung, wie wir im Verlauf dieser Untersuchung sehen werden. Daß die Hoffnung auf das Gelingen oder die Angst vor einem Scheitern des Übergangs in die Berufs- und Arbeitswelt heute immer stärker zu dem Grundmuster des Hineinwachsens von Jugendlichen in die gesellschaftliche Wirklichkeit überhaupt gehört und unbequeme Fragen an alle Beteiligten, Schüler wie Lehrer, Berufsberater wie Eltern aufwirft, ist eine Tatsache, die eine beständige Überprüfung sowohl der Zielsetzungen der Übergangshilfen als auch des dazu eingesetzten didaktisch-methodischen Instrumentariums unerläßlich macht.
Wie zwischen Scylla und Charybdis werden die mit dieser Aufgabe betrauten Personen zwischen Ansprüchen und Interessen seitens der Institutionen der Arbeitswelt, der Arbeitsmarktpolitik, der Bildungspolitik, aber auch der Ansprüche der Eltern und Schüler selbst hin- und hergeworfen. War es noch zu Zeiten guter Beschäftigungsaussichten in den sechziger Jahren üblich, vor allem die „Arbeitstugenden” als Voraussetzung für ein „arbeitsmarktgerechtes Verhalten“ (Lehrjahre sind keine Herrenjahre!) im berufsorientierenden Unterricht (z. B. im Fach Handarbeit und Werken) zu vermitteln, kam in den siebziger Jahren die Vorstellung auf, Schüler vor diesen bloßen Anpassungsanforderungen der Wirtschaft schützen zu müssen und die Zumutungen der Arbeitswelt zurückzuweisen.
Die Funktion der Berufsorientierung
Die achtziger Jahre wiederum waren geprägt von der von Dieter Mertens (4) 1974 angeregten Diskussion um die Entwicklung von „Schlüsselqualifikationen”, mit denen Schulen auf die Herausforderungen der Umbrüche in der Arbeitswelt reagieren sollten. Am Ausgang der neunziger Jahre wird die „Didaktisierung der Arbeitswelt” (5) als Folge neuer, verschlankter Produktionskonzepte zum Brennpunkt der Forderungen nach einer Neubestimmung von Allgemein- und Berufsbildung mit entsprechendem Handlungsbedarf für das zu reformierende „duale System”. Statt Orientierung auf den „Erstberuf als Lebensberuf” wird heute deutlich, daß die Berufswahl im Übergang nur den prozessualen Anfang eines „Bäumchen-Wechsel-Dich”- Spiels markiert, in dem sich Berufs- und Erwerbsbiographien als bunte Abfolge von Gelegenheitsjobs, Full-time-jobs, Phasen von Arbeitslosigkeit, Umschulung, Weiterbildung, Warteschleifen etc. präsentieren - zumindest für den größten Teil der Jugendlichen. Der „Beruf” ist zum Patchwork-Teppich geworden, das „lebenslange Lernen” wird ergänzt durch das „lebenslange Risiko”, ein halbwegs gesichertes Auskommen zu haben. Für benachteiligte Jugendliche, z. B. ausländische, gilt selbst das nicht. Ihr Beruf heißt: Überleben um jeden Preis. Wie reagiert die schulische Berufsorientierung auf diese Befunde? Watts (6) hat vier Funktionen unterschieden, die im Zusammenhang mit dem Übergang von der Schule in die Arbeitswelt eine entscheidende Rolle spielen:
a) Die Selektionsfunktion von Schule, d. h. sie ist diejenige Instanz, die der Arbeitswelt Kriterien an die Hand gibt, unter Bewerbern mit geringerer oder höherer Qualifikation auszuwählen. Die Schule verteilt Lebenschancen in Hinsicht auf die Gesellschaft allgemein und damit auch in Hinsicht auf mögliche Arbeitsplätze.
b) Die Sozialisierungsfunktion der Schule, d. h. sie kann auf indirektem Wege als Sozialisationsinstanz die Wertvorstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen zur Arbeitswelt insgesamt und zur Arbeit speziell beeinflussen.
c) Die Orientierungsfunktion von Schule, d. h. sie kann mittels Lehrplänen und ihrer Umgestaltung versuchen, die Schüler mit der Arbeitswelt vertraut zu machen, indem Einsichten über die Bedingungsfelder vermittelt werden, die die Schüler beim Übergang zur und beim Eintritt in die Arbeitswelt erwarten.
d) Die Vorbereitungsfunktion von Schule, d. h. sie kann die Vermittlung spezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in der Arbeitswelt - zu welchem Zwecke auch immer - nützlich sind, in den Vordergrund stellen.
Man sieht heute, dass die Faktoren Sozialisation und Vorbereitung an Bedeutung verlieren, wohingegen das Gewicht der Funktionen Selektion und Orientierung stark zunimmt. Daraus folgt für Maßnahmen der Berufsorientierung an Schulen zunächst einmal, dass man sich bei den Unterrichtsangeboten in einem ständigen Spagat zwischen Angeboten „selektiver“ und „orientierender“ Natur befindet. Praktisch bedeutet das, dass der Berufsorientierung der Part der Orientierung zugeschrieben wird, während der Akzent der anderen Fächer auf dem der Selektion liegt, d. h. - implizit oder explizit - der Vermittlung höherer Allgemein- oder Spezialbildung. Je nach dem, durch welches Lernprofil die jeweilige Schulart geprägt ist, wird der eine oder der andere Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt. Dementsprechend setzen berufsorientierende Maßnahmen auch früher oder später ein, z. B. in Baden-Württemberg in der Hauptschule ab Klasse 8, in der Realschule in den Klassenstufen 9 und 10 und am Gymnasium ab Klasse 10. Was aber, wenn nun - z. B. aufgrund der Lage auf dem Arbeitsmarkt- immer mehr Gymnasiasten bereits mit Abschluß der Mittleren Reife nach Klasse 10 auf den Ausbildungsmarkt drängen? Hatten sie vorher keine Berufsorientierung nötig? Oder umgekehrt: Was geschieht, wenn Hauptschüler als die Verlierer im Verdrängungswettbewerb auf dem Lehrstellenmarkt verstärkt in Berufsfachschulen drängen oder ein Berufsvorbereitungsjahr absolvieren, um die Wartezeit zu überbrücken? Brauchen sie dann ab Klasse 8 eine vorberufliche Orientierung oder nicht? Nehmen Schulen ihre Orientierungsfunktion im engen Sinne wahr als Vorbereitung auf den „Beruf” und nicht als weitergehende Orientierung auf mögliche zukünftige Lebensperspektiven der jetzigen Schüler, wird Berufsorientierung dysfunktional und kontraproduktiv zugleich. Auch durch eine sinkende Zahl von Schulabgängern, die eine vermeintliche Erleichterung für den Lehrstellenmarkt gebracht hat, ist das grundlegende Problem nicht aus dem Weg geräumt. Die Veränderungen am Ausbildungsmarkt (es werden weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen als noch vor fünf Jahren) treibt zwar die Zahl unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplätze auf Höchststände, aber als eine zentrale Herausforderung stellen sich die zunehmenden "Matchingprobleme" am Ausbildungsmarkt dar. Betriebe klagen über Schwierigkeiten, geeignete Jugendliche für ihre Ausbildungsstellen zu finden. Auf der anderen Seite gibt es immer noch eine Grundlast (rund 10% der Alterskohorte) an Jugendlichen, denen der Einstieg in Ausbildung nicht unmittelbar gelingt.
In der Vergangenheit ist die Vielfalt der „orientierenden“ Aufgabenstellungen der Berufsorientierung - nicht nur in der Bundesrepublik - zu wenig beachtet worden. Statt Beiträge zur Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbsteinschätzung, Selbstwertgefühl und zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit der Jugendlichen zu leisten, hat man versucht, das Verständnis für verschiedene Formen von Arbeit zu vergrößern, die Kenntisse von Schülern über unterschiedliche Berufe zu vermehren und die Entwicklung einer Reihe praktischer Fertigkeiten voranzutreiben, die gemeinsam dazu beitragen sollten, bewußte Übergangsentscheidungen zu treffen. Man kann diese Tendenz unter dem Stichwort „vorberufliche Orientierung” zusammenfassen. In den Lehrplänen der Schulen war viel von der „Hinführung zu den Erfordernissen der Berufs- und Arbeitswelt” die Rede. Die Kompetenzen, die dabei vermittelt wurden, bestanden im wesentlichen aus der Einübung in die später geforderten Arbeitstugenden durch Werkunterricht und in der Vermittlung berufskundlicher Informationen durch Berufswahlunterricht. Daß Jugendliche auf verschiedenartige Formen der „Arbeit“, mit denen sie später einmal konfrontiert werden, hingewiesen wurden, war dabei ebenso selten wie die Vorbereitung auf eine Vielzahl von Situationen und Bedingungen, unter denen der Übergang scheitern kann. Dementsprechend dürftig waren auch die Lernformen, die man unter dem Gesichtspunkt „Techniken im Klassenzimmer“ zusammenfassen kann.
Von der Defizit- zur Kompetenzdidaktik
Erst ab Beginn der sechziger Jahre verbreitete sich auch in Westeuropa die Erkenntnis, daß noch so moderne Schulräume mit noch so qualifizierten und motivierten Lehrern und einer ausgefeilten Methodik und Didaktik die Gewinnung von exemplarischen Erfahrungen, die aus dem Einblick in die Arbeitswelt selbst geschöpft sind, nicht ersetzen können. Neu daran war zunächst die Erkenntnis, daß viele der im Übergangsbereich geforderten Kompetenzen im Sinne einer Orientierung nur durch selbsttätiges Handeln, durch unmittelbare Erfahrung und Auseinandersetzung mit sich selbst erworben werden. Sie sind nicht „lehrbar“, man kann sie nur „erfahren”. Dies setzte voraus, daß sich die Jugendlichen an andere Lernorte als das Klassenzimmer begaben und in diesen Erfahrungsräumen unter Anleitung von Erwachsenen lernten. Zwar kann das Lernen an der eigenen Erfahrung auch teilweise schon durch methodische Änderungen in den Lehrplänen ermöglicht werden, beispielsweise durch Einzel- oder Gruppenarbeit an „Projekten“ oder durch Änderungen des Verhältnisses von Lehrern und Schülern, z. B. durch Einräumung eines Mitspracherechts für die Schüler. Für sich genommen sind diese Veränderungen aber nicht ausreichend. Aus den Erfahrungen, die seit den fünfziger Jahren vor allem in den skandinavischen Ländern gemacht wurden, (7) war deutlich geworden,dass eine Verbindung zum außerschulischen Bereich hergestellt werden mußte, indem man entweder in diesen hineinging oder ihn in die Schule hineinholte. Durch die Verbindung mit anderen Lernorten, im Kontakt zu Erwachsenen außerhalb von Schule und Familie glaubte man, Lernsituationen schaffen zu können, in denen sich Ausschnitte der „wirklichen Welt draußen“ widerspiegelten. Langsam und in vorsichtigen Schritten öffneten sich in der Folge die Schultore, und man begann, Schülern die Gelegenheit zu geben, in einen Ausschnitt der rauhen Wirklichkeit des Erwachsenenlebens „hineinzuschnuppern“. Bei diesen frühen Versuchen gewann man nicht selten den Eindruck, die Schulen wollten alle Versäumnisse schulischer und außerschulischer Vorbereitung auf die Arbeits- und Berufswelt in ein paar Wochen gutmachen. Die naive Befürwortung des „praktischen Lernens“ tendierte darüber hinaus dazu, diese Schritte in die Arbeitswelt mit allen möglichen Zielsetzungen und Erwartungen zu überfrachten. Lange Zeit sah es so aus, als wären die für solche Formen der Realbegegnung gefundenen Methoden wie Betriebserkundungen oder Praktika besonders für jene schulmüden, motivationslosen und leistungsschwachen Schüler hervorragend geeignet, denen mit traditionellen Unterrichtsmethoden nicht mehr zu helfen war.
Erst allmählich erkannte man den pädagogischen Gehalt solcher Maßnahmen auch für andere Schülerpopulationen, denn vor dem Hintergrund sich verschlechternder Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche hatte sich gezeigt, daß Defizite hinsichtlich der Vorbereitung auf die Berufs- und Arbeitswelt allgemeiner verbreitet waren, als man bis dahin annahm. Solche Kompensationsmodelle, die vorhandene Defizite ausgleichen sollten, dominierten weithin in den siebziger Jahren. Im Vordergrund standen meistens die Bemühungen, den Schüler auf eine gezielte Berufswahl hin zu „orientieren“. Betriebspraktika und Erkundungen in der Arbeitswelt wurden aufgrund dieser Sichtweise aspektbezogen auf Einblicke in Berufs- oder Arbeitsfelder hin ausgerichtet, die eine „exemplarische“ Funktion für Schüler haben sollten. Mit Hilfe dieser Einblicke hoffte man, den Schülern bei der Realisierung von Berufswünschen helfen zu können.
Der Erkenntnisgewinn gegenüber den früheren Ansätzen lag bei diesen Kompensationsmodellen zweifellos in der Tatsache, daß man die Komplexität des Sachverhaltes „Übergang“ ins Auge gefaßt hatte und nicht nur den Abgang von der Pflichtschule. Noch nicht in den Blick genommen wurde aber die Bedingtheit des Einzelelements „Berufswahlentscheidung“ in seinem Verhältnis zum Ganzen, d. h. der Übergangsphase an sich, die nicht nur um die Aufnahme einer Berufsausbildung kreist und mit deren Ende abschließt, sondern die z. B. auch Teil eines Identitätsfindungprozesses ist, der weit mehr als Berufswahlentscheidungen beinhaltet. Darüber hinaus ist klar geworden, daß wir heute Schülern angesichts immer komplexer werdenden medialer Informationssysteme nicht einfach fehlende „Zusatzinforma-tionen über die Arbeitswelt” bereitstellen dürfen, sondern daß wir diejenigen Kompetenzen fördern müssen, die für einen gelingenden Übergang notwendig sind. Kompetenzen kann man aber nicht nach dem Modell des Nürnberger Trichters „vermitteln” - sie müssen erfahren werden und erfahrbar sein im Sinne einer Rückkoppelung auf die Person. Diese Erkenntnis markiert die Trendwende von einer „Defizitdidaktik” hin zu einer „Kompetenzdidaktik”. Dazu war eine Revision bisheriger Methoden unumgänglich.
Wenn wir heute stärker zu den erfahrungswissenschaftlich begründeten Methoden wie das „Erfahrungslernen”, das „Projektlernen” , das „selbstorganisierte Lernen” greifen, d. h. stärker schüler- oder allgemeiner gesagt - „lernerzentriert” zu arbeiten versuchen, muß dies auch vor dem Hintergrund des Scheiterns der linearen Modelle des Übergangs angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit gesehen werden. Wenn es keine ausreichende Zahl von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für alle gibt und diese Tendenz des allgemeinen Abbaus von Arbeitsplätzen sogar in Zeiten von Konjunkturaufschwüngen sichtbar wird, können berufsorientierende Maßnahmen von Schulen nicht auf einer „Erzeugungsdidaktik” (8) fußen und so tun, als würden Praktika und Erkundungen die Verwirklichung von Berufswünschen und Berufsvorstellungen und damit die Möglichkeit zur Einpassung in das Beschäftigungssystem auch nur minimal erhöhen. Es wäre eher sinnvoll, sich darauf zu konzentrieren, dem Schüler mit Hilfe von ganzheitlichen Vorgehensweisen möglichst viele Aspekte des Übergangs mit Hilfe von Sozialisationseinwirkungen und durch Interaktionen zwischen Schulen und der Lebenswelt zu erschließen.
Deshalb wird es in der Zukunft weniger um die "Berufsorientierung" gehen als vielmehr um eine qualitiative Vertiefung dieser Orientierung hin zum Gewinnen von Arbeitserfahrung (work experience) und diese in Hinsicht auf eigene mögliche Übergange ins Erwachsenenleben zu reflektieren.
Die „Erziehung zum Übergang“ muß heute neben der Frage nach dem Umgang mit dem möglichen Problem der Arbeitslosigkeit für Jugendliche noch eine Vielzahl weiterer Themen ansprechen, die dem Bedeutungswandel der Begriffe „Arbeit“ und „Beruf“ bis hin zu Prozessen des Wertewandels in Familie, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht werden müssen. Der „Einstieg“ in das Erwachsenenleben ist nicht mehr denkbar als Einstieg in einen Erstberuf, der gleichzeitig Lebensberuf ist, sondern nur der Beginn eines ständigen Prozesses des lebenslangen Lernens über alle Lebensdekaden hinweg. Dieser schon früh von Donald Super eingeführte Begriff des „lifelong learning over the life cycle“ als Grundlage einer Gesamtvorstellung von zukünftiger Bildung ist nicht in Pädagogikseminaren oder Lehrerbildungs-einrichtungen entstanden, sondern er entsprang aus den Arbeiten der Berufswahlforschung, die, bezogen auf die raschen Veränderungen von Berufsanforderungsprofilen, Arbeitsfeldern oder Produktions- und Dienstleistungsbereichen, konstatierten, daß schulisches Lernen nicht nur reagieren, sondern gegenüber diesen Veränderungen auch agieren muß.Aus der Einsicht heraus, daß andere Lehrpläne und Unterrichtsmethoden erforderlich sind, wenn die Herausbildung der für den Übergang notwendigen Kompetenzen von Jugendlichen auch und gerade eine Aufgabe der Berufsorientierung sein soll, hat sich im englischsprachigen Raum das „Konzept Arbeitserfahrung (work experience) entwickelt. Es kann als ein Konzept betrachtet werden, das übergreifend den gesamten Übergangsbereich umfaßt. Gibt man heute allerdings bei Google das Wort "Arbeitserfahrung" in die Suchmaschine ein, findet man das genaue Gegenteil von dem, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist: In fast jeder Berufsbiographie auf den homepages findet man dort Arten von Arbeitserfahrung, die Personen gemacht haben: Sei es in einer Strandbar, im Robinson Club, bei einem Praktikum in Übersee, einer NGO, als BUFDI oder Werkstudent. All das ist zwar eine Art von Arbeitserfahrung, aber nicht im Sinne einer pädagogisch angeleiteten und danach reflektierten und ausgewerteten Maßnahme, die unternommen wurde, um sich über sich und seine Stärken und Lernfelder klar zu werden.
Arbeiten und Lernen gehören zusammen
Wenn Begriffe wie „Arbeitserfahrung“, „Erfahrungslernen“ oder „Projektlernen“ heute so anmuten, als entsprängen sie fortschrittlichen anglo-amerikanischen Lehr- und Lerntheorien, ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, daß die europäische Pädagogik lange gebraucht hat, um zu ihren eigenen Wurzeln zurückzukehren, aus denen diese Ideen entstammen. Vergewissert man sich jener Grundlagen im Rahmen eines ideengeschichtlichen Rückblickes, lassen sich in Hinblick auf das Verhältnis von Arbeiten und Lernen diejenigen methodischen Ansätze wiederentdecken, die für die Gewinnung von „Arbeitserfahrung“ konstitutiv sind. In den Werken von Comenius, Bacon, Rousseau, Pestalozzi, dem frühen Marx und in den Arbeiten der deutschen wie internationalen Reformpädagogik zu Beginn unseres Jahrhunderts sind die gedanklichen Grundlagen eines Lernens mit allen Sinnen und „in jeder Lebenslage“ zu finden. Der Versuch einer Verbindung von Arbeiten und Lernen, in den unterschiedlichsten historischen Situationen immer wieder neu durchdacht, propagiert und durchexperimentiert zu haben, einte auch so unterschiedliche Geister wie Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Georg Kerschensteiner oder Paul Oestreich. Sowohl die geisteswissenschaftlich orientierte Pädagogik in der Nachfolge Diltheys, als auch die angelsächsische erfahrungswissenschaftlich orientierte Pädagogik in der Nachfolge Herbert Spencers entwarfen Grundlinien dessen, was wir heute als „notwendige Verbindung von Arbeit und Lernen“ bezeichnen könnten. In den Werken von John Dewey überlebte der Ansatz die Kriegszeit, während er bei uns am Ende des Zweiten Weltkrieges fast verschwunden war.
Ein integraler Bestandteil der Gedanken über Arbeiten und Lernen war von Anfang an die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Gewinnung von Erfahrung durch Arbeit. Wenngleich unterschiedlich ausnuanciert, war die Überzeugung vorherrschend, daß der durch praktische Arbeit erreichte Erfahrungszugewinn im Sinne eines Beitrags zur „Schule des Lebens“ zu strukturieren sei und nicht, wie es später praktiziert wurde, als „Leben in der Schule“. Heute stehen wir speziell in Hinsicht auf die Zukunft von Arbeit und Beschäftigung erneut vor der Frage, welche Bildungselemente als notwendige anzusehen sind, um Jugendliche für den Übergang in das Erwachsenenleben zu rüsten, was u. a. auch bedeutet, die Kluft zwischen den „Anforderungen der Schule“ und den „Anforderungen des Lebens“ zu verringern. (9)
In Hinsicht auf die Frage, was dabei das Gelingen des Übergangs von der Schule ins Arbeits- und Berufsleben kennzeichnet, kehren wir jetzt allmählich zu dem alten Grundmuster einer Bildung zurück, die auf dem Lernen durch Arbeitserfahrung, auf „Lern-Arbeit“ (10) beruht. Es wird sich zeigen, daß die Ursprünge dieses Konzeptes weit in die Geschichte der Pädagogik zurückreichen und keineswegs nur in Deutschland Fuß faßten. (siehe Teil 2 dieses Artikelsauf dieser homepage (Vorläufer) Ob in den Frankeschen Anstalten in Halle, in Salzmanns „Erziehungsanstalt” in Schnepfenthal, in Basedows "Philantropin" in Dessau, auf Pestalozzis "Neuhof" oder in New Lanark bei Robert Owen - immer wieder ist diese besondere Art von „Arbeit” über die Jahrhunderte hinweg neu thematisiert worden. An einem entscheidenden Moment zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Anläufe Teil einer umfassenden „pädagogischen Bewegung“: der „Reformpädagogik“. Hier stehen sich „Buchschule” und „Arbeitsschule” und Arbeit als „methodisches” oder „ökonomisches Prinzip” gegenüber. Gespeist aus den Debatten im „Bund entschiedener Schulreformer”, im „Weltbund für die Erneuerung der Erziehung“ und der „New Education Fellowship“, weitete sich die Diskussion um die einzelnen Elemente dieser Arbeitsschule in den zwanziger Jahren zu einer fast weltumspannenden pädagogischen Fragestellung aus. Lernen durch eigene Erfahrung (experiential learning), vermittelt über konkrete Arbeit (learning by doing) als methodisches Instrument der „proportionierlichen” Ausbildung aller Kräfte des Kindes prägte nicht nur die englischen „public schools”, die Deweysche „laboratory school” in Chicago, Father Flanagans „Boys Town” in Nebraska, A. M. Makarenkos „ Gorki-Kolonie” im revolutionären Rußland, die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf” Wynekens, sondern auch die zahlreichen bisher kaum erforschten staatlichen Versuchsschulen der Weimarer Republik, von denen nur wenige wie Peter Petersens Schule in Jena, die Schulfarm „Insel Scharfenberg” (Dr. Specht läßt grüßen!) oder Adolf Reichweins Alternativschulmodell in Tiefensee bekannt wurden. (11)
Den politischen, nicht den pädagogischen Umständen ist es zuzurechnen, daß diese Ansätze nur in den angelsächsischen Ländern den Krieg überlebten und in zum Teil nur verstümmelter Form als „Projektmethode” etwa ab 1970 nach Europa zurückkehrten. Im europäischen Raum waren sie bis dato in den Bereich der Landheim - und Schullandheimerziehung und der Waldorfpädagogik abgedrängt, als Kibbuzimgedanke ins Exil getrieben, zur stalinistischen Kollektivpädagogik entstellt oder als Arbeitsschulerziehung der Berufsbildung zugeschlagen worden. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist hier eine „Renaissance“ erkennbar, die vor allem darum bemüht ist, einige Elemente dieser „fortschrittlichen Pädagogik“ (z. B. Freiarbeit) angemessen in schulische Institutionen zu überführen. Gemessen an der Vielzahl solcher „Experimentalschulen“ in den Vereinigten Staaten liegt in Europa allerdings noch ein weiter Weg vor uns. (12) Die schulische Anwendung und Konkretisierung des „Erfahrungslernens“ in Hinsicht auf den Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt wird heute im englischsprachigen Raum mit dem Begriff „work experience“ umrissen. Seit etwa 1982 ist als deutsche Übersetzung der Begriff „Arbeitserfahrung“ gebräuchlich. Konzepte des „Projektlernens“, der „Lern-Arbeit“ oder das „Konzept Arbeitserfahrung“ werden die bildungspolitische Zukunft der Europäischen Union vielleicht stärker prägen, als wir heute glauben. Trotz aller Verschiedenheit in Detailfragen sind die grundsätzlichen ökonomischen, ökologischen und bildungspolitischen Probleme europaweit vergleichbar und ihre Lösung ist überall dringlich. Noch fällt es in den meisten gesellschaftlichen Bereichen schwer, sich als Teil eines vernetzten Weltsystems zu begreifen, in dem die Bedeutung der Grenzen des Nationalstaats ständig sinkt. Diese Entwicklung schreitet unaufhaltsam voran. Ob wir heute unseren Schülern helfen können, ihren Spürsinn dafür zu entwickeln, was das 21. Jahrhundert an Herausforderungen bringen wird, entscheidet sich nicht zuletzt daran, um noch einmal das Bild des Eingangszitat aufzugreifen, inwiefern wir Mauern oder Windmühlen bauen helfen.
Was ist Arbeitserfahrung?
“It could be of marble, Sir, it would still be a lousy school”.
Antwort eines englischen Schülers (1963) auf die Frage von Sir John Newsom, ob ihm die Schule gefalle.(13)
Arbeitserfahrung ist ein komplexer Begriff. Er betrifft zwei zentrale Bereiche des menschlichen Lebens, die so alltäglich sind, daß man kaum einen Gedanken auf sie verschwendet. Arbeit gehört zum Leben ebenso wie das beständige Sammeln von Erfahrungen. Aber hier beginnt bereits das Problem: Was verstehen wir überhaupt unter „Arbeit“ und was unter „Erfahrung“? Je nachdem, welche Definition der beiden Begriffe wir zugrundelegen, kommen wir zu ganz unterschiedlichen Bewertungen dessen, was Arbeitserfahrung ist. Wenn unter Arbeit bis heute nicht jede Form des „Tätigwerdens“ verstanden wird, ist dies dem Umstand zu verdanken, daß Arbeit seit mehreren hundert Jahren nur als „bezahlte Arbeit“ gesellschaftlich anerkannt wird und nur diese als Normalform von Arbeit gilt. Im historischen Rückblick gesehen, hat die bezahlte Arbeit alle anderen Formen der Arbeit weit hinter sich gelassen oder in ein Schattendasein verdammt, obwohl sie geschichtlich gesehen zu den jüngeren Formen von Arbeit gehört als die unbezahlte Arbeit. Wer Kinder aufzieht, das Haus in Ordnung hält, einkauft, Angehörige pflegt, in Vereinen, Verbänden oder Religionsgemeinschaften aktiv ist, arbeitet, aber er tut dies eben nicht zum eigenen Lebensunterhalt. Dementsprechend gering ist das soziale Prestige, das sich mit diesen Formen von Arbeit verknüpft. Gemessen am Begriffe von bezahlter Arbeit ist unbezahlte Arbeit die ganze Palette derjenigen Tätigkeiten von Menschen, die nicht instrumentell auf die Erzielung einer Bezahlung für die geleistete Arbeit hinauslaufen und aufgrund dieser Freiwilligkeit, sofern diese nicht auf äußere Umstände (Kindererziehung; Krankheit; Alter etc.) zurückzuführen sind, ein hohes Maß an Selbstdarstellungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten bieten.
Strittig geworden ist der Begriff Arbeit durch ein Phänomen, das der Vergangenheit anzugehören schien: die Arbeitslosigkeit. „Bezahlte Arbeit“ in ihrer herkömmlichen Form als Lohnarbeit stellt für viele Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, auf Dauer keine gültige Norm mehr dar. Sie gilt nur noch für diejenigen Personen, die „bezahlte Arbeit“ gefunden haben, weil deren Ausgangsbedin-gungen und persönlichen Voraussetzungen ihnen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den oben erwähnten Gruppen verschafft haben. Die nicht so Erfolgreichen müssen auf längere Sicht ohne diese Form von Arbeit leben und geraten in eine gesellschaftliche Randlage. Für sie entfernt sich der Begriff Arbeit im bisher verstandenen Sinne als bezahlte Lohnarbeit immer mehr aus ihrem Blickfeld. Je länger der Zeitraum der Arbeitslosigkeit dauert, desto weniger gilt für sie die bisher gültige Formel „Erwerbsarbeit = Lebensunterhalt“. Sie fallen staatlicher Sozialhilfe und Fürsorge anheim, d. h. sie müssen „leben, ohne zu arbeiten“. Auch wenn es für eine Mehrheit weiterhin die heute noch vorherrschenden Formen der Beschäftigung gibt, muß der Begriff Arbeit vor dem Hintergrund der Langzeit- oder Dauerarbeitslosigkeit bestimmter Personengruppen neu überdacht werden. Zunächst sei hier aber festgehalten, daß Arbeit heute überwiegend als „bezahlte Arbeit“ begriffen wird, es aber noch viele weitere Formen des Tätigseins des Menschen gibt, die, ohne bezahlt zu werden, unter Arbeit subsumiert werden können, vorausgesetzt, wir unterziehen diesen heute verwendeten Arbeitsbegriff selbst einer kritischen Betrachtung. Eine der anregendsten und gründlichsten Untersuchungen zum kulturgeschichtlichen Wandel des Arbeitsbegriffs ist nach wie vor das Buch von Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben. (14) Innerhalb des Modells der „Vita Activa”, der tätigen, eingreifenden und umgestaltenden Beziehungen der Subjekte zu den Dingen und der sozialen Umwelt unterscheidet sie, an Aristoteles anknüpfend, drei Typen menschlichen Tätigseins und bringt sie in eine wertende Reihenfolge: Arbeiten,Herstellen und Handeln. Das auf der niedrigsten Stufe stehende Arbeiten dient nach diesem Verständnis der Selbsterhaltung des Menschen und entspricht dem biologischen Prozeß des Körpers, ist damit im Leben selbst begründet. Die Notwendigkeit der Arbeit liegt darin, Leben und Welt zu erhalten. Die entscheidenden Merkmale des Arbeitens sind, daß es weder Anfang noch Ende hat, sondern eine dauernde Notwendigkeit ist.(15) Arbeit birgt damit die Erfahrung qualvoll erschöpfender Anstrengung, ihre Ergebnisse sind nicht von Dauer, sondern verbrauchen sich sofort; der arbeitende Mensch ist der „animal laborans”. Wenn der Mensch nur noch animal laborans ist, dann hat er das Wissen um andere Tätigkeitsformen verloren. Wenn " die Arbeit so leicht geworden ist, daß sie kein Fluch mehr ist, besteht die Gefahr, daß niemand mehr sich von der Notwendigkeit zu befreien wünscht bzw. daß Menschen ihrem Zwang erliegen, ohne auch nur zu wissen, daß sie gezwungen sind" (16).Arbeit hat für Arendt heute eine eingeengte Bedeutung im Sinne eines instrumentellen, vorwiegend sprach- und kommunikationslosen Verhaltens, das unseren Arbeitsbegriff dominiert (z. B. die "Generation Praktikum").
Mit den gleichen Schwierigkeiten, einen Begriff exakt zu definieren, haben wir es bei dem Begriff Erfahrung zu tun. Nach der biologistischen Auffassung von Portmann oder Gehlen dient das Sammeln von Erfahrung der Aufrechterhaltung eines inneren Gleichgewichts (Homöostase) trotz wechselnder Umweltverhältnisse im Sinne einer Verhaltensoptimierung. Man wird „reich“ an Erfahrungen, was dazu führt, daß man seine Beziehungen zur Umwelt immer komplexer sieht. Nach der psychoanalytischen Auffassung dient die Erweiterung des Erfahrungshorizontes der Zurückdrängung des Lustprinzips zugunsten eines Realitätsprinzips, das die Anerkennung der von der Umwelt auferlegten Beschränkungen fordert. In der schmerzhaften Dialektik von Ich und Es gewinnt der Mensch seine Erfahrungen und lernt, mit ihnen umzugehen.
Nach der Konzeption der humanistischen Psychologie von Rogers oder Maslow entspringt der Impuls für die Gewinnung von Erfahrungen der spontanen und selbständigen Aktivität des Menschen, der danach strebt, die in seiner Persönlichkeit liegenden Möglichkeiten zu verwirklichen. Sein menschliches „Selbst“ stellt sich als das letztendliche Produkt einer aufeinander aufbauenden Reihe von Erfahrungen, wie körperliche Empfindungen, Lernerfahrungen und Reflexion dar, die seine Entwicklung prägen. Konkreter noch hat Piaget im Zusammenhang mit der Entwicklung der Intelligenz bei Kindern sechs Konkretionsstadien der Intelligenzentwicklung durch Erfahrungsgewinnung unterschieden. Er stellte fest, daß in der Geschichte eines jeden Individuums der Einfluß der früheren Erfahrungen auf den im Moment ablaufenden Erfahrungsprozeß ganz beträchtlich zu sein scheint. Vom ersten Stadium der Kindesentwicklung an konstatiert Piaget eine Abhängigkeit der Reifung von den Möglichkeiten des Sammelns von Erfahrungen in experimentellen Wirklichkeiten der kindlichen Betätigung. Da alle Verhaltensschemata frühere Erfahrungen in geraffter Form enthalten, drücken auch ihre gegenseitigen Assimilationen oder Kombinationen in irgendeiner Weise immer eine Wirklichkeit aus, die in dieser Weise erfahren wurde. Mit einem Wort: Die Erfahrung ist für Piaget auf allen Stufen für die Entwicklung der Intelligenz notwendig. (17)
Das fünfte Stadium der Intelligenzentwicklung nennt Piaget „Die Entdeckung neuer Mittel durch aktives Experimentieren und Ausprobieren“. (18) Es geht der sechsten und letzten Phase: „Die Erfindung neuer Mittel durch geistige Kombination“ unmittelbar voraus. Obwohl er nicht vorhatte, aus seinen Beobachtungen dieser Stadienabfolge der Intelligenzentwicklung eine Lerntheorie zu entwickeln, können dieses fünfte und sechste Stadium Piagets als Grundlage für das herangezogen werden, was wir heute in der Pädagogik als „Erfahrungslernen“, als „Lernen durch Beobachtung und Nachvollzug“, als „exemplarisches“ oder als „praktisches Lernen“ bezeichnen. Piaget betont die Notwendigkeit des „entdeckenden Lernens” und der eigenen Aktivität des Schülers in diesem Prozeß. Versucht man, Wissen nur auf verbalem Weg oder durch Geschriebenes zu vermitteln, kommen dabei meist nur oberflächliche Lernerfolge heraus. Fakten machen oft nur einen geringen Teil des Wissens aus. Wahres Verständnis ist eine Folge des Handelns auf der motorischen ebenso wie auf der intellektuellen Ebene: "Die Aufgabe des Lehrers besteht folglich nicht so sehr darin, dem Kind Fakten oder Begriffe zu übermitteln, sondern darin, es zu bewegen, sowohl auf der materiellen wie auf der geistigen Ebene zu handeln. Diese Handlungen konstituieren - weit mehr als aufgedrängte Fakten - wirkliche Erkenntnis". (19)
Sich selbst regulierende Prozesse, in denen der Schüler auf seine Weise Erfahrungen verarbeitet, sie in seine affektiven, kognitiven und psychomotorischen Strukturen einbaut und daraus Erkenntnis gewinnt, sind Grundlage für wirkliches Lernen. Es ist daher sinnvoll, Schülern ihren eigenen Lernprozeß zu gestatten, d. h. sie selbst kontrollieren zu lassen,d. h. wie ihre kognitiven Strukturen in konstruktiver Weise zu modifiziert werden. Neues Wissen wird nach Piaget niemals auf zusammenhangslose Weise erworben, sondern immer so inkorporiert, daß frühere Erfahrungen zur Erklärung der neuen herangezogen werden können. Die neue Erfahrung wird in eine Form gebracht, die zur früheren Erfahrung “paßt”.
Arbeitserfahrung im pädagogischen Sinne ist ein Teilaspekt dieses Lernvorgangs. Nicht die „Erfahrung durch Arbeit“ oder „Arbeitserfahrung“ im Sinne einer zunehmenden Beherrschung und Vervollkomnung vorgegebener Arbeiten stehen dabei im Vordergrund, sondern den pädagogischen Intentionen folgend, wird durch die Kombination der beiden zentralen Tatbestände der Erfahrung und der Arbeit ein Lernfeld geschaffen, das sich dadurch auszeichnet, daß ein „Erfahrungsgewinn über Arbeit durch Arbeit“ möglich wird. Daß der Charakter dieser Arbeit, ebenso wie der Charakter der dabei gemachten Erfahrungen vorläufiger Natur sind und die durchgeführten Tätigkeiten unbezahlt erfolgen, gehört zu diesem „Ausprobieren“, „Nachvollziehen“ und „Experimentieren“ inhärent dazu. Aufgrund der Tatsache einer immer stärkeren Ausdifferenzierung der Ziele und der dazu notwendigen methodisch-didaktischen Ansätze von Arbeitserfahrung ist die Frage, warum diese Art von Erfahrungsgewinn überhaupt notwendig ist, in den Hintergrund gedrängt worden. Ebensowenig ist klar, ob das Gewinnen von Arbeitserfahrung bei Schülern auch wirklich die Effekte hervorbringt, die man sich von dem Angebot erhofft hat. Hier beginnt zumeist das Reich der Ideologie, denn was eine „realistische Erfahrung “ ist oder sein soll, ist je nach der Ausgangslage und der Zielsetzungen des Betrachters ebenso verschieden, also subjektiv gefärbt, wie die des Teilnehmers. Das Spannungsfeld zwischen objektiven und intersubjektiven Größenordnungen von Arbeitserfahrung kann nur dadurch gemindert werden, wenn die Zielvorgaben im Sinne von Zweck-Mittel-Relationen allen Beteiligten deutlich vor Augen stehen. Selbst dann bleiben erhebliche Lücken in der Bewertung im nachhinein. Warum also dann Arbeitserfahrung, wenn wir doch nur einen Bruchteil dessen damit verwirklichen können, was - unserer subjektiven Meinung nach - Schüler für ihr Leben nach der Schule brauchen?
Arbeitserfahrung als Hilfe zur Identitätsfindung im Jugendalter
Das Individuum konstituiert sich aus der Sicht einer kognitiv orientierten Entwicklungspsychologie im Sinne Piagets durch die Herstellung von Relationen und Organisationsformen des kognitiven Systems in zunehmend stabileren Formen des Gleichgewichts (Äquilibration) von Assimilation (Aneignung) und Akkomodation (Anpassung).(20) Gelingt dieser Prozeß mit zunehmendem Alter, kann man davon sprechen, daß eine „unverwechselbare Persönlichkeit“ entsteht, d. h. Identität möglich geworden ist. Nach Erikson bedeutet Identität, "
der Verpflichtung zu physischer Intimität, zu Berufswahl, zu einer psycho-sozialen Selbstdefinition nachzukommen", (21) wobei es wichtig ist, "richtige Entscheidungen zu treffen, ohne sich ein für allemal mit dem falschen Mädchen, Geschlechtspartner, Führer oder Beruf anzulegen".(22) Identitätsbildung im Sinne dieser Definition einer „individuellen Einmaligkeit“ ist ein langandauernder Prozeß, in dessen Verlauf sich die betreffende Person immer besser in die Lage versetzt, die Unterschiede zwischen sich und anderen Menschen zu erkennen und anzunehmen "allein aus den Zeichen, die uns bedeuten, inwiefern wir anders sind als die anderen".(23)
Ein entscheidender Abschnitt dieser Entwicklung geht in der Phase der Adoleszenz vor sich. Sie ist keine Erfindung der Neuzeit. Ariès weist darauf hin, daß schon die Altersklassen des Neolithikum und die griechische paideia auf einem Unterschied und einem Übergang zwischen der Welt des Kindes und der Erwachsenen beruhten, "einer Übergangszeit, die im Zeichen der Initiation oder irgendeiner Form der Erziehung bestand". (24) Wer bin ich? Wer will ich sein? - diese Fragen verstärken sich in diesem Alters- und Entwicklungsabschnitt. Freuds Leitsatz: „Wo Es war, soll Ich werden“, umschreibt dabei zutreffend die Entwicklungsrichtung der Adoleszenz: Die noch vorhandene Nähe zum Es ebenso wie die Zuwendung zur gesellschaftlichen Realität in allen ihren Ausformungen - die Fähigkeit zur Liebe als auch die zur Arbeit, zu Kritik und Widerstand, kurz: zu Abgrenzungen zwischen „Innen“ und „Außen“ oder „Ich“ und „Die“. Gäbe es keine Adoleszenz, wären nur die Erfahrungen der ersten Jahre in der Familie maßgebend und die Gesellschaft bestünde nur aus immerwährenden Wiederholungen und Reproduktionen elterlicher Erfahrungen, wie sie Mead in traditionellen Kulturen dergestalt vorfand, daß Großeltern sich für ihre neugeborenen Enkel keine andere Zukunft vorstellen konnten als ihre eigene Vergangenheit. (25)
Im Triebdurchbruch der Pubertät können heute in modernen Gesellschaften die in der Kernfamilie entstandenen psychischen Strukturen so locker werden,(26) daß eine Neustrukturierung der entstehenden Persönlichkeit möglich wird. Diese Neustrukturierung basiert im wesentlichen auf neuen Erfahrungen. Während der erste Triebschub zur Anpassung an vorgegebene Muster, z. B. in der Familie, führt, kann der zweite eine Anpassung an dynamisch-expansive Strukturen bewirken. Das Identitätskonzept sieht den Jugendlichen als aktiven Gestalter seiner Umwelt, wobei von einer dialektischen Beziehung zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Umwelt ausgegangen wird. Es gilt dabei für den Jugendlichen, zwischen der sozialen Identität im Sinne von gesellschaftlichen Handlungsanforderungen in sozialen Bezügen auf der einen Seite und der personalen Identität im Sinne einzigartiger, im Laufe einer Biographie erworbener Erfahrungen zu vermitteln und zu einer eigenständigen Identität im Sinne einer autonomen Handlungssicherung in sozialen Bezügen zu gelangen. (27) Kaplan hat auf die vielfältigen Bezüge hingewiesen, die in diesen Prozeß einbezogen sind: Die Auseinandersetzung mit Autoritäten, die Trauer um die Vergangenheit, das „Verdauen“ des biologischen Wachstumsschubs, die Entdeckung der Sexualität, die Ablösung von den Eltern und dem Elternhaus - um nur einige zu nennen.(28) Zusammengenommen ist dies eine schwere Aufgabe, denn die Erwartungshorizonte und Handlungsstandards sozialer Teilsysteme, wie z. B. der Arbeitswelt, des Bildungssystems, der Familie oder der peer group differieren stark, was zusätzliche Widersprüche und Orientierungsprobleme schafft. Ein Wandspruch wie der folgende faßt treffend den unsicheren Zustand von Jugendlichen in dieser Zeit zusammen: "Ich bin nicht, was ich sein sollte, ich bin nicht, was ich sein werde, aber ich bin nicht mehr, was ich war". (29)
Diese Unsicherheiten entstehen einerseits auf dem Hintergrund der eigenen körperlichen Entwicklung (Geschlechtsreife) zum anderen aufgrund des Alters und der sich damit verändernden gesellschaftlichen Anforderungen, die sich u. a. im Erwerb von Schulabschlüssen, Schulabgang und der Forderung nach Arbeitsaufnahme ausdrücken (können). Gleichzeitig wächst aber auch die Gruppenbindung an Gleichaltrige, die in einer ähnlichen Situation sind, d. h. neben der eigenen Identitätsfindung her müssen die Jugendlichen ihre Stellung zu diesen Gleichaltrigen definieren und versuchen, eine Gruppenidentität zu finden. Nach Erikson drückt der Begriff „Identität“ "also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt". (30)
Erschwert wird dieser Prozeß der Gewinnung neuer Erfahrungen, der in dieser Umbruchsphase der Adoleszenz zu einer einheitlichen Identität des eigenen Selbst führen soll, heute dadurch, daß Jugendliche immer weniger auf historische Kontinuitäten zurückgreifen können, die ihnen Orientierung und Sicherheit bieten. Galt zum Beispiel hinsichtlich der Berufswahl in der vorindustriellen Gesellschaft der Leitsatz „Sons follow fathers“, hat die Industriegesellschaft diese Bezüge drastisch verändert. Die zunehmende Freiheit durch Auflösung autoritärer familiärer und traditioneller nachbarlicher bzw. dörflicher Strukturen bringt zwar erweiterte Handlungsspielräume, nimmt aber auch ehedem klare Orientierungen. Die zunehmenden Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen verstärken diesen Prozeß der Orientierungslosigkeit einerseits, begünstigen auf der anderen Seite aber auch Ausbruchsversuche aus vorgegebenen Mustern. Die Zeit des Jugendalters ist sowohl für den Jugendlichen als auch für seine Umwelt eine schwierige, anstrengende aber auch eine faszinierende und spannende Zeit. Durch die Auflehnung gegen das Gewohnte, durch die Ablehnung und Bekämpfung von Traditionellem, eröffnet sich die Chance, Neues zu entdecken und zu entwickeln, aber auch Altes weiterzutragen: "Der gesunde Junge oder das gesunde Mädchen wird fähig, Verantwortung zu übernehmen und dazu beizutragen, daß das Vermächtnis der vorigen Generation erhalten, abgewandelt oder sogar völlig verändert wird". (31)
Identitätsfindung ist aber nicht nur ein psychologisch bestimmbarer Prozeß. Die in den gebräuchlichen sozialpsychologischen Identitätstheorien als Schlüsselbegriffe verwendeten Aspekte der Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz, Balance von sozialer und Ich-Identität gründen sich weitgehend auf deren Inhaltsneutralität und Formalismus. Der Identitätsbegriff geht nicht in dem Selbstbild, in der Beschäftigung mit sich selbst und in einem Subjektivismus auf. Identität ist keine ausschließlich bewußtseinspsychologische Kategorie, die sich in Einstellungen und Wertorientierungen erschöpft, sondern Identität verweist auf ein Verhältnis zwischen Selbst und Umwelt, auf einen Bezug zur Realität. Mit dem Begriff der „sozialen Identität“ kommt auch das Verhältnis zur gegenständlichen Wirklichkeit, also zu kulturellen Objektivationen, zu gesellschaftlichen Entwicklungen und zur Zukunft zum Vorschein. (32) Identitätsuche enthält - so gesehen - eine wichtige handlungstheoretische Dimension: Der Realitätsbezug ist nur durch eigenes Handeln herstellbar, Handeln ist demnach Bestandteil des Identitätsaufbaus von Heranwachsenden und nicht nur die Folge einer Selbsteinschätzung. Diese ist zwar wichtig, aber der Heranwachsende muß auch wissen, was andere tun, was sie können, was ihnen wichtig ist. Zur Identitätsfindung gehören Handlungskompetenz und Autonomie, Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung. Eine solche handlungstheoretische Sicht ermöglicht die Verknüpfung des Identitätsbegriffs einerseits mit den gesellschaftlichen Systemstrukturen - insbesondere mit dem Bildungs- und Beschäftigungssystem - und andererseits mit organisierten Lernprozessen. Mit dem Begriff des Identitätslernens können so didaktisch-methodische Ansätze umrissen werden, die darauf abzielen, zur Herausbildung einer sozialen Identität des Jugendlichen beizutragen.
Arbeitserfahrung als soziales Identitätslernen
Eines dieser Konzepte des Identitätslernens ist das Lernen durch Arbeitserfahrung. Es soll dazu dienen, durch die Gewinnung von Erfahrungen mit Arbeit herauszufinden, wer ich bin, wie die anderen sind, was ich von ihnen will und was sie von mir wollen. Die Arbeit wird dabei als der entscheidende Katalysator begriffen, der diesen Austausch befördert. Solch erfahrungsorientiertes Lernen kann nicht auf dem Nachvollzug fremder Aktivitäten beruhen, sondern es basiert auf der Eigenaktivität derjenigen, die sich dieser Lernform unterziehen. Psychologisch gesehen muß die Schule die Schüler „loslassen“, statt sie an ihre Vorgaben zu binden, was gleichzeitig bedeutet, sie als eigenständige Persönlichkeiten wahrzunehmen.
Im Unterschied zum traditionellen Bildungsdenken des Neuhumanismus räumte die reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts deshalb dem überlegten und geplanten erzieherischen Erfahrungslernen einen höheren Erkenntniswert ein als dem bloß intellektuellen Erkennen durch das Studium von Büchern. In vielen Ländern meldeten sich Reformpädagogen zu Wort, die den Fortschritten der Institutionalisierung, Rationalisierung und Effektivierung von Schulwissen im Sinne eines bloß intellektuellen Lernens mit Skepsis und Widerspruch begegneten. Unter den Stichworten „Entseelung“, „Mechanisierung“ und „Intellektualisierung“ kritisierten sie vor allem die Tatsache, daß in den Schulen die emotionalen, seelischen und persönlichkeitsrelevanten Faktoren der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht nur nicht beachtet wurden, sondern zu verkümmern drohten.
Die sich aus noch vielen anderen Kritikpunkten speisende neue „pädagogische Bewegung“ hatte zum Ziel, die Schulen durch eine Pädagogik des „Wachsenlassens“ drastisch zu „entschulen“ und das Erzieherische gegenüber dem Bildungsauftrag an die erste Stelle zu setzen. Wenngleich einzelne Reformpädagogen wie Ellen Key (1849-1926) oder Maria Montessori (1870-1952) sich dabei mehr auf die frühe Kindheit und das Grundschulalter bezogen, gab es auch Ansätze, die eher das Jugendalter und die Adoleszenz in den Vordergrund rückten. Die wichtigsten Beiträge auf diesem Gebiet leistete John Dewey (1859-1952). Seine „pragmatische Pädagogik”, die gleichermaßen vom Naturalismus Rousseau´scher Prägung Abschied nehmen wollte wie vom Traditionalismus der „Kulturpädagogik” in der Nachfolge des deutschen Idealismus Hegelscher oder Fichte´scher Prägung, versuchte, gestützt auf die Einheit von Lernen und Handeln Erziehung als demokratische Erfahrung zu begründen. In seinem 1916 erschienenen Werk „Democracy and Education” schlug Dewey, aufbauend auf den psychologischen Arbeiten von William James (33) eine Neubestimmung von Erziehung in einem umfassenden Sinne vor, und zwar sowohl in philosophischer, pädagogischer, methodisch-didaktischer, als auch politischer Richtung. Ausgehend von James empirischen Forschungen und Experimenten zur Entstehung von Verhaltensweisen, Formierung von Interessenslagen und Herausbildung eines eigenen Willens von Jugendlichen (habit formation) gelangte Dewey nicht wie James zu einer Erziehung als „Gewohnheitsbildung”, sondern zum Prinzip der ständigen „Rekonstruktion von Erfahrung”: Nach seiner Überzeugung muß der Sinn pädagogischer Arbeit an Schulen darin bestehen, Jugendliche zu einer aktiven Auseinandersetzung mit einer sich stetig wandelnden, stets unfertigen und beständig verbesserungsbedürftigen Außenwelt zu erziehen. Dies kann nur durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise ermöglicht werden, die die Balance zwischen der aus Redundanzgründen notwendigen Reduktion von Eindrücken und Erfahrungen durch Selbsttätigkeit und produktives Handeln wiederherzustellen versucht. Den Lehrer als Wissenden und Bevormunder will Dewey ersetzen durch einen Mitarbeiter, einen denkend Vorarbeitenden, der eine Lernumwelt schafft "aus Materialien und Werkstätten, Bibliothek und Schulgarten, Schulgemeinschaft und Exkursionen, in der Kinder experimentierend die Realität und sich selbst entdecken und Kooperation lernen". (34) Im 23. Kapitel von „Demokratie und Erziehung” (35) überträgt Dewey das Prinzip der Rekonstruktion auf das Verhältnis von Schule und Arbeit, indem er das Verhältnis von Berufsbildung und Schulbildung neu definiert und das Moment der Arbeit für letztere neu zu bestimmen versucht.Theoretisch legte er damit den Grundstein für moderne Arbeitserfahrung:
"Praktisch sowohl wie philosophisch liegt der Schlüssel zur pädagogischen Sachlage der Gegenwart in einer allmählichen Umgestaltung der Lehrstoffe und Methoden, einer Neugestaltung solcher Art, daß verschiedene Formen menschlicher Arbeit, die für die verschiedenen sozialen Berufe typisch sind, nutzbar gemacht werden, daß ihr sittlicher und geistiger Gehalt herausgearbeitet wird. Diese Neugestaltung muß die rein literarischen Methoden - auch die Schulbücher- und die dialektischen Methoden so zurückstellen, daß sie als notwendige Hilfsmittel (Herv. d. Verf.) für die einsichtige Entwicklung zusammenhängender Betätigungen auftreten". (36)
Eine solche Neuordnung der Bildung und Erziehung kann nach Dewey aber nicht dadurch zustande kommen, daß man die Industrie in den Schulen „reproduziert”, sondern nur dadurch, daß einzelne Faktoren der industriellen Arbeitswelt dazu benutzt werden, das Schulleben aktiver, unmittelbarer, erfahrungsreicher auszugestalten und so die Schulen mit dem Leben außerhalb der Schulen in eine engere Verbindung bringt. In seiner 1894 an der Universität von Chicago errichteten Labor-Schule (laboratory school) konzentrierten Dewey und seine Frau Alice diese Leitprinzipien zu dem inzwischen Allgemeingut gewordenen Schlagwort des „Learning by doing“, das später von seinem Kollegen W. H. Kilpatrick zur Methode der Projektarbeit (project method) ausgebaut wurde.(37) Für Dewey haben Schulen drei wesentliche Aufgaben:
- Erstens sollen sie zunächst eine Reduktion der komplexen Umwelt vornehmen, indem sie die Dinge, die Kindern und Jugendlichen noch nicht zugänglich sind, so vereinfachen, daß sie ihnen begreifbar werden.
- Zweitens sollen sie die für den Schüler wertlosen Umwelteinflüsse zurückdrängen und so eine „gereinigte Atmosphäre des Handelns“ herstellen.
- Die dritte Aufgabe "... besteht darin, die verschiedenen Faktoren in der sozialen Umgebung gegeneinander auszubalancieren und dafür zu sorgen, daß jeder einzelne Gelegenheit findet, sich den Beschränkungen derjenigen sozialen Gruppe, in die er hineingeboren ist, zu entziehen und in lebendige Berührung mit einer breiteren Umgebung zu kommen". (38)
Bei dieser lebendigen Berührung mit der Umwelt kommt es für Dewey darauf an, "ob wir einer zufälligen (Hervorhebung d. V.) Umgebung das Werk überlassen oder eine besondere Umgebung für diesen Zweck schaffen". (39) Erfahrung gewinnen ist nach Dewey eine hervorgehobene Weise des Lernens, die aus einem aktiven und einem passiven Element besteht. Der Lernort bringt diese beiden Elemente in eine spezifische Verbindung miteinander. Aktiv ist dabei der Zugriff auf die Welt, der Versuch, den der Lernende unternimmt, indem er die Welt befragt oder auf sie einwirkt. Passiv nennt Dewey das Ertragen der Konsequenzen, also das Erleben der Folgen, die diese Einwirkung hat. Sind beide Phasen der Erfahrung, das Tun und das Erleiden, durch einen Vorgang des Bewußtseins, des Denkens, womöglich des Suchens und Experimentierens miteinander verknüpft, entsteht mehr als die bloße Aktivität, die selbst noch keine Erfahrung darstellt. Denken - das hat Dewey in seinem Buch „How we Think” (1910) genauer untersucht entsteht im Verlauf der Erfahrung und macht sie zu der spezifisch menschlichen, der „reflexiven Erfahrung”, die um die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Tun und seinen Konsequenzen weiß. Erfahrung macht nicht klug, aber das erlebte Ereignis kann richtiges Denken auslösen und zur durchdachten Erfahrung werden.
In der Projektmethode fand Dewey die Möglichkeit, zu einer Vermittlung von praxisrelevantem Wissen unter diesen Erfahrungsgesichtspunkt zu kommen. Sie stellt den Versuch dar, eine vom konkreten Handeln ausgehende Wirkung sowohl auf den vorausgegangenen, als auch auf die nachfolgenden Lernprozesse zu erzielen. Durch die Einbindung jedes einzelnen Schülers in ein Projekt, seinem aktiven Handeln, und in der engagierten Auseinandersetzung mit anderen Gruppenmitgliedern soll sie dazu verhelfen, Lernen zu einem eigenverantwortlichen Vorgang werden zu lassen, der durch die aktuelle Lebensnähe des in Angriff genommenen Projekts oder Vorhabens und einer dadurch angestrebten persönlichen Betroffenheit erreicht, daß Gedanken durch praktische Anwendung erprobt, ihr Sinn geklärt und ihr praktischer Wert entdeckt wird: "In der Familie gilt ein anderes Gesetz als auf der Straße; ein drittes gilt in der Werkstatt oder dem Laden, ein viertes in der religiösen Gemeinde. Wenn ein Mensch aus einer Gruppe in die andere übergeht, ist er Kräften unterworfen, die einander entgegenwirken, und kommt in die Gefahr, aufgespalten zu werden in ein Wesen, das für verschiedene Gelegenheiten verschiedene Normen des Urteilens und wertenden Fühlens besitzt. Diese Gefahr verpflichtet die Schule zum Ausgleich und zur Vereinheitlichung". (40)
Durch die Unterteilung eines Projektes oder Vorhabens in die Einzelschritte: Purposing - Planning - Executing - Judging, d. h. Zielsetzen - Planen - Ausführen - Beurteilen erfährt der Schüler konkret, daß er Schwierigkeiten aushalten, Ausdauer zeigen, mit anderen umgehen lernen muß, um für die geforderten Problemlösungen die nötigen Voraussetzungen mitzubringen. Einige der an der Laborschule durchgeführten Projekte haben damals allgemeines Aufsehen erregt, weil sie neue Zugänge zum Lernen aufzeigten. Weniger bekannt ist freilich, daß die meisten dieser Projekte auch berufsorientierende Aspekte enthielten: So z. B. das „Zeitungsprojekt”, in dem es nicht nur um das Nachrichtengewinnen und Artikelschreiben, das Drucken und Herstellen der Zeitung, um die Organisation des Vertriebs und schließlich um die Beobachtung der Wirkungen der Zeitung ging, sondern auch um Einblicke in die Berufs- und Arbeitswelt der Druckindustrie mittels Gesprächen mit Journalisten, Setzern, Druckern, Zeitungsverkäufern und durch Erkundungen von Arbeitsplätzen etc. Ein durch Dewey/Kilpatrick dokumentiertes vielzitiertes Projekt war “das Typhus-Projekt”. Es verknüpfte das Gewinnen von Arbeitserfahrung mit kommunalen Strukturen. Mit Untersuchungen in Häusern und ihrem Umfeld wollten Schüler dem Herd von Typhus-Infektionen auf die Spur kommen. Ihre Feststellungen führten zur Produktion geeigneter Abwehrinstrumente wie Fliegengitter, Fäkalienabdeckungen etc. (41) Selbst wenn inzwischen umstritten ist, ob dieses Projekt so wie geschildert existiert hat, zeigt es einen typischen Projektverlauf auf.
John Dewey, die Projektmethode und Arbeitserfahrung
Der erfahrungswissenschaftlich orientierte Ansatz unterschied die Projektmethode von allen neuhumanistischen Ansätzen. Er drückte aus, was Schulen zuallerst sein müßten: Keine Einrichtungen zur gesellschaftlichen Instrumentalisierung und Verwissenschaftlichung von Bildung, sondern Orte, die zur sozialen Identitätsfindung von Jugendlichen beitragen. Je mehr „besondere Umgebungen“ im Sinne Deweys von der Schule aus erforscht, erprobt und praktisch erfahren werden konnten, desto größer würde der Beitrag von Schulen zur Persönlichkeitsentwicklung ausfallen, und der Schüler hätte am Ende seiner Schulzeit ein Bündel von selbst entwickelten Leitlinien für die Lebensführung an der Hand. Als Konsequenz für eine Schulreform bedeutete dies: Die Schule mußte aus dem Schulhaus heraus, mitten in das Leben hinein. Sie darf nicht mehr vorwiegend Einrichtung für den Unterricht sein, sondern muß wieder in erster Linie einen Bezug zur Lebenswelt der Erwachsenen herstellen. (42)
Deweys pragmatische Pädagogik fand in den angelsächsischen Ländern eine mannigfaltige Anwendung in vielen Bildungsbereichen. Das „progressive education movement” stieß aber auch und gerade auf dem europäischen Kontinent auf strikte Ablehnung. Sprangers Verdikt über Deweys „Küchen- und Handwerksutilitarismus”, über die Georg Kerschensteiners „Arbeitsschulbewegung“ weit erhaben sei, (43) war eine Abrechnung vor allem mit Deweys Verzicht auf teleologische Begründungen von Erziehung, was für die deutsche geisteswissenschaftliche Pädagogik in der Nachfolge Wilhelm Diltheys unannehmbar blieb. Im Unterschied zu den Auffassungen der frühindustriellen Utilitaristen teilten zwar die meisten Verfechter der Arbeitsschulbewegung wie Georg Kerschensteiner, Aloys Fischer und Hugo Gaudig mit Dewey die Ansicht, daß „Arbeit“ an sich nicht bildet, vor allem nicht die mechanisierte und entfremdete Arbeit. Von dem gemeinsamen Ausgangspunkt aus wollten sowohl Dewey wie auch die Arbeitsschulbewegung der Arbeit als „methodischem Prinzip“ zum Durchbruch verhelfen. Spätestens hier aber enden die Gemeinsamkeiten. Kerschensteiners „pädagogisches Prinzip der Arbeit” fußte auf der schöpferischen Produktivität, wie sie sich vor allem. im Handwerklichen und in der Handarbeit äußert. Der Berufsbegriff bezieht sich deshalb weniger auf die zukünftige industrielle Tätigkeit, sondern ist ein ganzer Komplex von Verhaltenseigenschaften und Tugenden, die in der Arbeitsschule zu vermitteln sind. Er ist eine „Berufung”, die Ehrlichkeit und Sachlichkeit im Dienste des gesellschaftlichen Ganzen hervorbringt. Sachlichkeit in der Arbeit ist für Kerschensteiner in ihrer höchsten Vollendung Sittlichkeit. Sie verwirklicht sich im Arbeitsunterricht innerhalb der Schule. Der Weg zur Berufsschule als eigenständiger Teilbereich der Bildung, nämlich als Berufsbildung war hier vorgezeichnet. Dewey hingegen ging es um Grundsätzlicheres: Die Schule als „Modell der Demokratie” soll sich hin zur Gesellschaft öffnen. Ihre Lernorte können im Arbeitsunterricht in der Schule angesiedelt sein, sie müssen es aber nicht. Die die Schule umgebenden gesellschaftlichen Institutionen sind die Lernorte, die Übungsfelder demokratischen Lernens. Nicht die besonders sorgfältige Herstellung des „Starenkastens” bildet wie bei Kerschensteiner den Charakter, sondern die reflexive Erfahrung mit Arbeit in der Gesellschaft allgemein. Kerschensteiner hat sein Eintreten für Arbeit und Arbeitsschule von vornherein mit einer Philosophie des Staatsbürgertums, mit einer Soziallehre und Ethik staatsbürgerlichen Verhaltens verbunden. Seine Forderungen an die „staatsbürgerliche Gesinnung” sind nicht von ungefähr schon zur Zeit des Kaiserreichs formuliert und ohne allzu große Änderungen in die Zeit der Weimarer Republik übernommen worden. Es fehlt ihnen jene Liberalität, die Dewey als Vertreter der demokratischen Tradition Amerikas einfordert.
In seiner Gleichsetzung der staatsbürgerlichen Tugenden mit denen der Arbeitsgesinnung hat Kerschensteiner nicht nur die Interessengegensätze innerhalb der Arbeitswelt ignoriert, sondern zugleich die Arbeitsschule zum Modell handwerklicher Bildung umgebogen - eine entscheidende Verkürzung der „Arbeit als pädagogische Methode”, was letztlich den Gegensatz zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung weiter zementierte. Bei Deweys Konzept ging es hingegen um die Disposition des Menschen, seine Verwandlung aus sich selbst heraus durch Erfahrung im Sinne einer pädagogischen Entwicklung unter Einschluß von Arbeit. Er konnte deshalb Arbeit in einen erzieherisch sinnvollen Rahmen stellen, weil sein Prinzip „Arbeit“ primär auf das Lernen abzielt, eben nicht „learning by work“ sondern „learning by doing“, das Lernen durch eigene Erfahrung statt durch vorgegebene Muster von bloßer (Hand)arbeit. Die Reflexion über den Sinn und Wert der unternommenen Tätigkeit in bezug auf die eigene Person (Was sagt mir das?) gehörte inhärent dazu, bildete einen Teil des pädagogischen Rahmens, in den die Arbeit gestellt wurde. In diese Richtung von Erfahrungslernen war seine Forderung nach Öffnung der Schulen gerichtet: Die Sinnhaftigkeit des schulischen Lernens, so seine Meinung, kann nur dann „erfahren“ werden, wenn Lernen durch Erfahrung im Vordergrund steht, d. h. zumindest modellhaft „Kopf, Herz und Hand“ eingesetzt werden. Sind diese Lernformen innerhalb der Mauern der Schule nicht anwendbar, muß man den Schulhof verlassen und Lernorte aufsuchen, wo dieser Erfahrungsgewinn durch eigene Mitarbeit oder Beobachtung ermöglicht wird. Arbeit als Teil einer pädagogischen Methode zu begreifen, die nicht dem Lebensunterhalt oder der Berufsbildung, sondern dem Lernen an sich diente, war ein ungewohnter, ja ketzerischer Gedanke, denn hatte man nicht erst gegenüber der Industrie mühsam das „Recht auf Bildung“ gegenüber der „Pflicht zur Arbeit“ durchsetzen müssen?
Vielleicht lag gerade in dieser Neudefinition von „Arbeit“ das Haupthindernis für die Tatsache, daß sich die Ideen Deweys letztlich nicht an den allgemeinbildenden Schulen durchsetzen ließen, sondern jahrzehntelang nur im Bereich der Erwachsenenbildung, der Sozialpädagogik und der Jugendhilfe fruchtbar werden konnten. Hier war es erstens einfacher, „Arbeit“ und „Bildung“ miteinander zu verknüpfen, denn die „Arbeiterbildung“ fußte gerade auf jenen Bildungselementen, die den Arbeitenden bisher versagt schienen. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß nur „die Projektmethode” als schuldidaktisches Element und das Prinzip „Learning by doing“, nicht aber Deweys philosophische Pädagogik der Rekonstruktion von Erfahrung einige Zustimmung fand.
Ausgerechnet jenen Bereich, auf den Dewey eigentlich abgezielt hatte, die öffentlichen Schulen, erreichte die pragmatische Pädagogik erst mit einer Verspätung von fast 50 Jahren. Politische Differenzen zwischen dem liberalen Dewey, den z. T. konservativen deutschen Reformern einerseits und den Vordenkern sozialistischer Erziehungstheorien in der Weimarer Republik hatten über die theoretischen Differenzen hinaus ein Übriges getan, Dewey vor allem in Deutschland bis heute zum „marginal man” zu degradieren.
Nur einzelne Fraktionen der deutschen Reformpädagogik entdeckten viele „besondere Umgebungen“, die ihnen zum Lernen besser geeignet erschienen als der bloße Klassenraum. Die ab der Jahrhundertwende beginnende Gründung von „Landerziehungsheimen“ (Erstes Heim 1898 in Ilsenburg im Harz) und - in modifizierter Form - von Schullandheimen (ab 1913) waren Versuche, den herkömmlichen Schulunterricht mit neuen Lernorten zu bereichern. Ihre Gründungsväter Hermann Lietz, Gustav Wyneken oder Paul Geheeb faßten dabei das Vorbild englischer Internatsschulen, bei denen die „Schulgemeinde“ als gemeinsamer Lebens-, Lern- und Arbeitsort schon immer eine große Rolle gespielt hatte, als Basis auf, um „Arbeit als methodisches Prinzip” weiterzuentwickeln. Auch der von Martin Buber unterstützte „Kibbuzimgedanke”, der zu ersten Produktions-, Lern- und Lebensgemeinschaften in Palästina führte, zielte ebenso in diese Richtung wie die Anfänge der russischen „Kollektivpädagogik“ Anton Makarenkos und Pawel Blonskijs nach 1917. Freilich war allen diesen Ansätzen eines gemeinsam: Sie waren konzipiert als „Inseln in der pädagogischen Provinz” und nicht als Normalfall öffentlicher Schulen. Gerade dieses Moment machte sie zwar bekannt und hoch geschätzt, aber ihre Früchte erntete eher die Sozialpädagogik als die Schulpädagogik. Der gesamte Komplex der Verbindung von Arbeiten und Lernen ist bisher in der Rezeption der reformpädagogischen Bewegungen ab der Jahrhundertwende bis 1933 nur unzureichend bearbeitet worden. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, ihn hier darzustellen. Einige Hinweise mögen genügen: In der Landerziehungsbewegung war trotz aller großen Differenzen zwischen Lietz, Wyneken, Geheeb, Hahn und Luserke (um nur einige ihrer Exponenten zu nennen) die produktive Arbeit in der Landwirtschaft, in Werkstätten, in der Verwaltung der Heime etc. ein konstitutives Element des Bildungs- und Erziehungskonzepts. Lietz hatte die Idee von Cecil Reddie übernommen, als er 1896 für ein Jahr an der von Reddie 1889 gegründete Internatsschule Abbotsholme praktizierte. Reddie wiederum war beeinflußt von den Versuchen Robert Owens in New Lanark, produktive Arbeit mit Unterricht im Sinne des polytechnischen Unterrichtskonzepts von Marx zu verbinden. Die Schullandheimbewegung als Versuch der Verknüpfung von Schule und „Lebensgemeinschaft auf Zeit” in Form von Heimaufenthalten auf dem Lande setzte ebenfalls auf produktive Arbeit z. B. in Form von Selbstversorgung im Heim. In der Arbeitsschulbewegung gab es die Fraktion des „Bundes entschiedener Schulreformer” um Paul Oestreich, die für eine „Produktionsschule” plädierten und damit den Ideen Blonskijs und Makarenkos nahestanden. In der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus, Sozialdemokratie und Faschismus ab Ende der zwanziger Jahre sind die meisten dieser Konzepte untergegangen. (44)
Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Ansätze des amerikanischen Pragmatismus als Befruchtung herkömmlichen Schulunterrichts wieder stärker beachtet worden. Die Erkenntnis der humanistischen Psychologie (45), daß zum Aufbau eines Selbst neben dem kognitiven Lernen auch die emotionale und sinnliche Erfahrung als „helfende und begleitende Beziehung“ gehört, hat entscheidend dazu beigetragen, daß die Pädagogen sich zurückzubesannen. Kurt Lewin (46) griff die pädagogischen Ansätze von Dewey wieder auf und wies auf ihre Bedeutung für die Gewinnung außerschulischer Lernorte hin. 1980 machte sich der Club of Rome die pädagogischen Intentionen des Erfahrungslernens im Sinne von Arbeitserfahrung zu eigen und empfahl: "Als ersten Schritt für eine Neuorientierung der Schulen, um die Spaltung vom realen Leben zu überwinden, würden wir vorschlagen, die Bestrebungen zu unterstützen, die Schule und Arbeit miteinander verbinden wollen. Jedes Kind sollte spätestens ab dem 12. Lebensjahr einen Tag pro Woche während des Schuljahres außerhalb der Schule arbeiten". (47) 1984 hat Kolb (48) den Kreislauf des Erfahrungslernens, aufbauend auf Lewin, weiterentwickelt. Dieser sieht wie folgt aus:
Das Konzept Arbeitserfahrung, wie es sich in den letzten 20 Jahren im englischsprachigen Raum Konzept herausgebildet hat, baut auf diesen Grundlagen auf bzw. konkretisiert die Prinzipien des Erfahrungslernens in Hinsicht auf Lernen durch Arbeit. In Abgrenzung zum bloßen Nachvollzug fremder Aktivitäten steht bei diesem Konzept heute die Eigenaktivität der Beteiligten im Vordergrund, d. h. es kommt zu einer Interaktion zwischen dem Erzieher, den Lernenden und den Räumen und Dingen, in denen die Lernenden aktiv werden. Die Intensität der Interaktion in diesem „speziellen“ pädagogischen Raum entscheidet maßgeblich über den Lernerfolg. Potenziert werden die Möglichkeiten dann, wenn eine ganze Gruppe als Team arbeitet und wenn der Lernort, an dem sich die Beteiligten aufhalten, den Lernformen selbst räumlich, sachlich und pädagogisch entgegenkommt. Allgemein gesehen lassen sich solche Lernformen wie folgt voneinander unterscheiden:
- Unterrichtsformen des Lernens „vor Ort“ wie Arbeitsplatz-, Betriebs-, Gemein-wesenerkundungen, Betriebs- und Sozialpraktika, Expertenbefragungen etc.
- Unterrichtsformen mit Simulationscharakter, d. h. unter Ausschluß von unmittelbaren Realbegegnungen wie Rollenspiele, Planspiele, Fallstudien, Übungsfirmen (Mini Companies), Computersimulationen.
- Unterrichtsprojekte und Unterrichtsvorhaben im Sinne der „Projektmethode“ von Dewey und Kilpatrick, wobei zwischen deren ursprünglichen Zielsetzungen und den zahlreichen Schematisierungen unterschieden werden muß, die der Projektmethode im Laufe der Entwicklung erfahren hat. (49)
Für die Durchführung von solchen Lernformen können allgemein folgende Prinzipien aufgestellt werden (wir folgen hier den beiden im Schulalltag geläufigstenHauptvertretern in der Bundesrepublik Herbert Gudjons (50) und Karl Frey (51) :
Projektunterricht Herbert Gudjons |
Projektschritt 1:Eine für den Erwerb von Erfahrungen geeignete, problemhaltige Sachlage auswählen
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Projektmethode Karl Frey |
1. Projektinitiative 2. Auseinandersetzung mit der Projektinitiative (Projektskizze) 3. Gemeinsame Entwicklung des Betätigungsgebiets (Projektplan) 4. Projektdurchführung 5. Beendigung des Projektes 6. Fixpunkte (Austausch von Ergebnissen) 7. Metainteraktionen (Auseinandersetzung über das Normalgeschehen im Projekt und den Umgang miteinander im Projekt) (Außer den Punkten 6 und 7, die quer zu den übrigen Punkten liegen, werden Stufen oder Schritte beschrieben, die Lernende und Lehrende im Projektprozess durchlaufen) |
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Als besonders ertragreiche Hilfe bei der Identitätsfindung von Jugendlichen ist heute ein Arbeitserfahrungs-Projekt als Lernmethode, das auf dem o. g. Modell fußt, im Zusammenhang mit der Arbeitswelt nahezu unumstritten. Der Übergangsbereich zwischen 14 und 18 Jahren stellt für die Identitätsbildung eine immer entscheidender werdende Größe dar, was von schulischen Instanzen lange Zeit nicht so gesehen wurde. Die heute auch von der einschlägigen Jugend- und Familienforschung nachgewiesenen Veränderungen in den Bedingungen des Aufwachsens erzwingen geradezu die Entwicklung neuer Formen der Bezugnahme der schulischen Angebote auf die Lebensinteressen und Lebensfragen von Jugendlichen, auch und gerade in der Übergangsphase: Der Wegfall geschlossener soziokultureller Milieus, auf deren prägende und stabiliserende Kraft sich die Schule stützen konnte, und die zunehmende Individualisierung von Lebenswelten bei gleichzeitiger Pluralisierung der Lebensstile und Lebensformen von Erwachsenen und Heranwachsenden sind u. a. die Hauptursachen dafür, daß Jugendliche in „eigener Regie“ leben wollen, dafür aber keine Maßstäbe, Orientierungen und Vorbilder mehr besitzen.Identitätsfindung - und -entwicklung kann aber ohne das Finden solcher Maßstäbe, der Orientierung am „positiven Modellverhalten“ anderer, nicht stattfinden. Das Erlernen von Freude, das Aufschieben von Bedürfnissen, aber auch das Verzichten, das Ertragen von Kritik und Spannung, ist nicht allein durch erzieherische Akte zu erreichen, sondern vor allem durch ein soziales Lernen, in das der Handelnde selbst verstrickt wird. Arbeitserfahrung als bewußt herbeigeführte Interaktion zwischen einer Person und konkreten Handlungsbezügen, in denen sie ernst genommen wird, ist ein solches soziales Lernfeld, das alle Chancen eines Beitrags zur sozialen Identitätsfindung bietet, wenn die notwendigen Voraussetzungen dazu beachtet werden.
Der Unterschied zwischen „Work experience” und Betriebspraktikum.
"Arbeitserfahrung (‘Work experience’) ist ein merkwürdiger Begriff. Er weist auf etwas hin, das weniger ist als eigentliche Erfahrung von Arbeit. Um genau zu sein: Der Begriff wird für Maßnahmen verwendet, bei denen Personen Arbeiten in einer Arbeitsumgebung ausprobieren, ohne dabei die volle Identität eines Arbeiters zu übernehmen. Die Unterscheidungsmerkmale sind dabei, daß eine Person in einer Kurzzeitmaßnahme beschäftigt ist, ohne seitens des Arbeitgebers dafür bezahlt zu werden". Diese Aussage von Watts (52) enthält drei wichtige Merkmale von Arbeitserfahrung:
a) Die pädagogische Absicht. Erfahrungen sollen in einem Feld gesammelt werden, das der betreffenden Person normalerweise fremd ist.
b) Die methodische Absicht. Um diese Erfahrung vermitteln zu können, bedarf es eines Instrumentariums, das dazu verhilft, den obengenannten Effekt zu erzielen.
c) Die didaktische Absicht. Sie besteht darin, zum Gelingen von a) und b) spezielle Schritte vorauszuplanen und die schrittweise Durchführung zu kontrollieren.
Diese Unterscheidung ist für das Verstehen in den englischsprachigen Ländern hilfreich, weil man in dort drei verschiedene Formen von Maßnahmen auseinanderhalten muß, die mit dem Begriff Work experience verbunden werden:
a) Maßnahmen für Schüler innerhalb der Pflichtschulzeit;
b) Maßnahmen für Schüler außerhalb des Pflichtschulalters im Rahmen von Weiterbildungseinrichtungen mit kombinierten Phasen von betrieblicher und schulischer Ausbildung (analog zum bundesdeutschen "Dualen Systems)
c) Maßnahmen für Schulabgänger, die keine Arbeit gefunden haben und die durch eine Trainingsmaßnahme die Chance erhalten sollen, dauerhaft Arbeit zu finden (analog zu Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (BvB) der Bundesagentur für Arbeit (BVB) die das Ziel haben, die Berufswahl, die Aufnahme einer Erstausbildung oder die berufliche Wiedereingliederung zu unterstützen.
Zusammenfassen läßt sich der Unterschied zwischen Kursen unter Einschluß von „work experience“ und schulischen Arbeitserfahrungsprogrammen dahingehend, daß das „Trainieren von Arbeit“ mit Hilfe dieser Kurse das zentrale Anliegen ist und darüber hinausgehende pädagogische Absichten damit nicht verbunden waren, höchstens im Sinne einer rudimentären Berufsbildung. Bei schulischen Programmen ist es genau umgekehrt: Nicht die reine „Erfahrung durch Arbeit“ steht im Vordergrund, sondern die pädagogisch sinnvolle und deshalb auch schulischerseits angeleitete Möglichkeit zur Erschließung neuer Erfahrungsfelder ist das zentrale Anliegen der Schule. Insofern ist Arbeitserfahrung hier Teil des Bildungs- und Erziehungsauftrages im Rahmen des Lehrplans und dementsprechend gesetzlich geregelt.
Durch die bundesdeutschen Lehrpläne wurde eine klare Scheidelinie zwischen den schulischen und den nachschulischen Maßnahmearten möglich. „Arbeitserfahrungsmaßnahmen" sind Maßnahmen von Schulen, die im Rahmen der Pflichtschulzeit durchgeführt werden. Dabei verbleibt die pädagogische Zielsetzung, die Aufsicht und Betreuung im Verantwortungsbereich der jeweiligen Schule und ihrer Beauftragten. Der Teilnehmer unterliegt denselben Regularien wie in der Schule selbst. Es ist die Schule, die den Schüler aus seinem normalen Lernort Schule heraus während einer gewissen Zeit für das Lernen an einem anderen Ort freistellt. Alle anderen Maßnahmen, in denen Arbeitserfahrung Verwendung findet, sind Programme, die nach dem Ende der Pflichtschulzeit einsetzen. Sie fallen nicht in die Zuständigkeit der Schulen im Rahmen der gesetzlichen Schulpflicht, sondern in die Verantwortung von Berufsbildungs- oder Weiterbildungseinrichtungen und betreffen daher nur Schüler, die ihre Pflichtschulzeit absolviert haben, d. h. die älter als 18 Jahre sind. Schulische Berufsorientierung und nachschulische Berufsbildung- oder Ausbildung wurden so klar voneinander getrennt. Berufsorientierung samt allen damit zusammenhängenden Inhalten und Methoden findet innerhalb der Pflichtschulzeit statt. Berufsbildungs- oder Ausbildungsmaßnahmen spielen einen Part erst dann, wenn die Pflichtschulzeit beendet ist, gleichgültig, ob und inwieweit während dieser Zeit Angebote zur Arbeitserfahrung gemacht worden sind oder nicht. „Training“ hingegen bezeichnet alle Maßnahmen, die auf dem Gebiet der Berufsvorbereitung, Berufsausbildung und Weiterbildung von Freien trägern im Auftrag der Arbeitsagenturen o. ä. ausgeführt oder in Auftrag gegeben werden. Ihre Maßnahmen sind Teil der Berufsbildung und kein Teil der Allgemeinbildung, die alleinige Aufgabe der Pflichtschule bleibt. Einfach nur für ein zweiwöchiges Praktikum in einen örtlichen Betrieb geschickt zu werden, ist eine lehrreiche und an sich wertvolle Erfahrung, die mit Sicherheit auch zur geistigen Reife beiträgt. Ist diese Erfahrung jedoch eingebettet in einen ganzen Prozeß des Kennenlernens und Begreifens der Arbeitswelt, so ist der Lernerfolg noch viel größer.
Arbeitserfahrung wird heute in den erweiterten Rahmen der Einbeziehung der Außenwelt in den Unterricht gestellt und wie folgt unterteilt:
1. Arbeitserfahrung in echten Arbeitssituationen
2. Simulierte Arbeitserfahrung
3. Arbeitserfahrung durch Dienst am Gemeinwesen
4. Allgemeine Erkundung der Außenwelt
5. Zusammenarbeit mit beruflichen Schulen.
Dieses unter dem Stichwort „Arbeitserfahrung“ zusammengefaßte Bündel an Programmen und Maßnahmen wird in im Deutschen erweitert zu „Arbeitserfahrungsmaßnahmen“ oder „Arbeitserfahrungsprogrammen“, während in den englischen Übersetzungen die Begriffe Work experience und Work experience schemes erhalten blieben. Dieser Sprachregelung hat sich auch CEDEFOP, das europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung, und der deutschsprachige Übersetzungsdienst der Europäischen Kommission angeschlossen.
Bei Arbeitserfahrung handelt es sich also um Programme, die den Jugendlichen eine eigenständige Erfahrung der Arbeitswelt in Realsituationen ermöglichen. Ihr wesentliches Merkmal ist die Tatsache, daß diese Programme im Rahmen der Pflichtschule pädagogisch vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden.
Damit bleibt der enge Begriff Betriebspraktikum erweiterbar, und neu entstandene arbeitsweltbezogene Maßnahmen an Schulen wie Schüler-Produktionsprojekte (mini companies), Arbeitsschatten (work shadowing) oder gemeinwesenbezogene Arbeitserfahrungsprogramme (community based work experience schemes) (53) können einbezogen werden. Der entscheidende Trennungsstrich verläuft zunächst zwischen den Formen, bei denen Schüler nur Beobachtungs- oder Erkundungsaufgaben haben wie dies bei Erkundungen (work observation) oder bei Besichtigungen (work visits) der Fall ist, und der Ausübung tatsächlicher Arbeitsvollzüge, wie dies bei work experience und work shadowing der Fall ist. Arbeitserfahrung bezeichnet also nicht die Gesamtheit dieser Methoden, die ganz unterschiedlichen Zielen dienen, sondern nur diejenigen, die innerhalb eines weiteren pädagogischen Zusammenhangs von Bildungs- und Erziehungszielen im Rahmen von Lehrplänen der Schulen dazu dienen, Schülern mittels der Teilhabe an der Ausführung von Arbeitsvollzügen Einblicke in die Arbeitswelt zu geben. Der Lernort ist für längere Zeit und nicht nur für ein paar Stunden in dieser Umgebung selbst angesiedelt. Die Rahmenbedingungen für solche Tätigkeiten bilden in den meisten europäischen Ländern die festlegungen der Lehrpläne für die entsprechenden Fächer oder Fächergruppen (careers education) Eine dritte Variante, die zwischen der Beobachtung und der direkten Tätigkeit angesiedelt ist, stellen Simulationsprogramme dar, die man als „indirekte Arbeitserfahrungsprogramme“ bezeichnen kann. Sie dienen innerhalb desselben pädagogischen Zusammenhangs dazu, Schülern ohne direkte Teilnahme an betrieblichen Arbeitsvollzügen mittels Simulationen Einblicke in die Arbeitswelt zu vermitteln. Der Lernort ist dabei entweder die Schule oder eine andere Einrichtung. Wenn wir also von einem „Konzept Arbeitserfahrung” sprechen, so wird damit ausgedrückt, daß dieses Konzept quasi das gemeinsame Dach ist, unter dem sich diese drei unterschiedlichen methodischen Zugriffe versammelt haben. Das Ziel ist immer dasselbe: den Schülern Einblicke in die ihnen sonst verschlossene Arbeitswelt zu ermöglichen. Aber die Herangehensweisen an dieses Ziel differieren aus verschiedenen Gründen: So darf zum Beispiel aufgrund von gesetzlichen Beschränkungen Arbeitserfahrung (work experience) nur in einem ganz bestimmten Altersabschnitt durchgeführt werden, was aber für work simulation nicht zutrifft, da sie in der Schule stattfindet. Auch Altersgründe können für die Wahl des jeweiligen Programmes ausschlaggebend sein. So ist eine Methode wie work shadowing eher für ältere als für jüngere Schüler geeignet. Hingegen kann gerade für diese work observation als Auftakt von arbeitsweltbezogenen Maßnahmen gut herangezogen werden. Miller/Watts/Jamieson (54) haben noch weitere Unterscheidungskriterien hinzugefügt, die sich auf die Ferne oder Nähe zur Arbeitsumgebung, zum Arbeitsprozeß oder zur zeitweiligen Rolle als Arbeiter beziehen.
Man sieht, daß work experience zusammengefaßt als „Konzept Arbeitserfahrung“ einige zusätzliche Komponenten umfaßt, die Ansätze der Berufsorientierung z. B. in der Bundesrepublik nicht aufweisen. Dazu gehört das work shadowing als Versuch, die Strukturen innerhalb von Beschäftigungsstellen mittels Begleitung einer Person als „Arbeitsschatten“ nachzuvollziehen. work shadowing ist als Vertiefung vorangegangener direkter Arbeitserfahrung gedacht und historisch auch aus ihr heraus entstanden. Work observation und Work simulation stehen als Methoden den beiden anderen in mancher Hinsicht ferner, da die erstere vor allem der Beobachtung im Sinne einer ersten Inaugenscheinnahme von Arbeitswelt dient und die letztere durch erfundene Rollen für Schüler zwar direkte Tätigkeiten bereithält, die Arbeitsprozesse, Arbeiter-Rolle und Arbeitsumgebung aber nur in der Schule nachgespielt werden. Die Akzente liegen also bei allen vier Methoden anders:
Während work experience den Schwerpunkt auf Arbeitsvollzüge legt, liegt dieser bei work visits auf der Beobachtung des Arbeitsprozesses und bei work shadowing auf dem Verständnis der Arbeiter-Rolle. Diese Schwerpunktsetzungen schließen sich natürlich nicht gegenseitig aus: Ein Schüler, der work experience absolviert, kann auch etwas über den Arbeitsprozeß und die Arbeiterrolle lernen. Aber weil der Focus unterschiedlich ist, verändert sich auch die Natur des Lerncharakters.
Warum ist "Arbeitserfahrung" eine Zukunftsaufgabe?
Fünf abschließende Bemerkungen dazu, warum das Thema „Arbeitserfahrung“ für die Bundesrepublik von aktuellem Gehalt ist.1.Vor kurzem noch erschienen Probleme im Zusammenhang mit dem Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt dem Betrachter angesichts der demographischen Entwicklung und der Suche nach Auszubildenden (zumindest in den alten Bundesländern) noch wie der Blick in ein Album mit Bildern aus längst verflossenen Zeiten. Unsere historische Perspektive erscheint oft eingeengt auf solche Zeit- spannen, in denen es massive Übergangsprobleme gibt, und solche Zeiträume, in denen das Einpassen in die Erwachsenenwelt mehr oder weniger problemlos funktioniert. Wenn ein grundlegendes Problem zeitweilig von guten Nachrichten verdrängt oder überlagert wird, glauben wir, daß es möglicherweise nicht mehr existiert. Das Gegenteil ist der Fall: Orientiert man sich an den gegenwärtigen Trends des Arbeitsmarktes, erscheint die Warnung vor der Vernachlässigung der Beschäftigung mit diesem Teilbereich angebracht. In den vergangenen Jahren sind regelmäßig zwischen 70. 000 und 80.000 Jugendliche ohne Berufsausbildung geblieben - immerhin 11% eines Altersjahrgangs. Etwa genausoviele junge Menschen stürzten nach abgeschlossener Lehrer direkt in die Arbeitslosigkeit. Zählt man die jugendlichen Teilnehmer an den zahllosen Maßnahmen zur Vorbeugung vor oder Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wie ABM-Maßnahmen, Beschäftigungsinitiativen, Förder-, Eingliederungs- und Umschulungslehrgänge, Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr etc. hinzu, dürfte man über diesen Sockelbestand an gemeldeten arbeitslosen Jugendlichen hinaus auf weit über eine Million Jugendliche kommen, die von kurzfristiger oder gar Langzeitarbeitslosigkeit bedroht oder betroffen sind, ganz zu schweigen von der ansteigenden Zahl Jugendlicher, die als Obdachlose, Punks oder Skins am Rande der Gesellschaft leben, und auch jene Jugendliche nicht eingerechnet, die es vorgezogen haben, längerfristig im Schulsystem zu verbleiben, damit sie nicht arbeitslos werden. Alle diese von Arbeitslosigkeit betroffenen oder bedrohten Personen haben Schulen durchlaufen (oder durchlaufen sie) und man hat ihnen vermittelt, daß, wenn sie in der Schule etwas leisten, sie es auch im Leben zu etwas bringen können. Selbst mit Blick auf geburtenschwache Jahrgänge und vor dem Hintergrund des fortschreitenden, u. a. technologisch bedingten Schrumpfens von Arbeitsplätzen steht gerade für unqualifizierte Jugendliche eine eher bedrückende Zukunft vor uns und sie werden sich mit welchen Mitteln auch immer dagegen wehren, von Schulen auf die Verliererstraße geschickt zu werden. Einige Phänomene des Schulalltags, wie das Ansteigen der Gewaltbereitschaft, die zunehmenden Disziplinprobleme etc. sind erste Hinweise auf negative Auswirkungen dieser Situation. Sozialpädagogische Elemente in den Schulalltag aufzunehmen, werden Lehrer auf Dauer nicht umhinkönnen und Arbeitserfahrung beinhaltet auch diese Dimension.
2. Das Nachdenken über eine Reform des Dualen Ausbildungssystems wird uns nicht erspart bleiben. Es ist von mehreren Seiten her unter Druck geraten: Die Produktionsverlagerungen ins Ausland nur die Spitze des Eisbergs. Selbst bei denjenigen Produzenten, die im Inland bleiben, ist die Tendenz unübersehbar, ihren Facharbeiternachwuchs zwar aus dem Handwerk zu rekrutieren, sie aber dann innerbetrieblich - ohne Duales System - fort- und weiterzubilden, was wesentlich kostengünstiger ist, als selbst auszubilden. Setzt sich diese Schieflage fort, werden viele Ausbildungsberufe- und inhalte obsolet. Wo nicht mehr ausgebildet wird, wird man auch schwerlich Interesse am Angebot von Arbeitserfahrungsplätzen haben, was bedeutet, daß auch hier der Mangel zunimmt, obwohl das Interesse an Arbeitserfahrung immer größer wird, wie man an der Einbeziehung von Gymnasiasten in die Programme sieht. Es müssen also Auswege gesucht werden müssen, die um eine Neubestimmung des Dualen Systems, seiner Inhalte und seines Zweckes nicht herumkommen. Dies wiederum hat Rückwirkungen auf das Verhältnis zwischen Allgemein- und Berufsbildung, sowohl was die Inhalte, v. a. aber die Methoden anbelangt. Diese Zukunft verspricht spannend zu werden.
3. Die im Konzept Arbeitserfahrung angelegten Kriterien der möglichst großen Selbstbestimmung, der intensiven Selbstaktivität, des möglichst breiten Lebensbezugs und der Produktorientierung, wo immer diese möglich ist, kann allen Schülern helfen, sich auf eine Lebenswelt vorzubereiten, die immer unübersichtlicher wird und nicht nur denen, die vor dem Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt stehen. Das beinhaltet nicht den Anspruch, den gesamten Unterricht in Projektform durchzuführen, aber es ist ein Plädoyer dafür, Projektlernen als Erfahrungslernen, verbunden mit möglichst konkreter Arbeit, auch in anderen Bezügen als berufsorientierenden auszuprobieren. In Baden-Württemberg konnten beispielsweise Projekttage, die den Schulen thematisch sehr weitgehende Freiheiten einräumen, bisher am Ende des Schuljahres durchgeführt werden. Neuerdings können Projekte an drei Projekttagen während des Schuljahres unter einem fächerverbindendem Ansatz themenorientiert durchgeführt werden. Damit wird es möglich, einen ausgewählten Unterrichtsinhalt aus mehreren Sichtweisen heraus zu beleuchten und durch die ganzheitliche Betrachtungsweise die komplexen Zusammenhänge aufzuzeigen. Die Themenbereiche und die methodischen Ansätze des hier vorgestellten Konzepts Arbeitserfahrung in ihrer Vielfalt und Breite würden sich ideal eignen, die Problematik des Übergangs, der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Zukunft etc., - verbunden mit praktischen Schritten - zu bearbeiten. Auch die Lehrplanfortschreibung von 2014 in Baden-Württemberg hebt das lebensnahe, handlungsorientierte, ganzheitliche und lebenslange Lernen stärker hervor als bisher und spricht von „projekthaftem Unterricht“. Von diesem Bereich ausgehend wären die Chancen groß, nicht nur fächerübergreifend mit anderen Unterrichtsfächern zusammenzuarbeiten, sondern darüber hinaus die Lehrer dieser Fächer zu motivieren, selbst projekthaft zu arbeiten.
4. Vor dem Hintergrund der europäischen Wirtschafts-und Währungsunion erscheinen schulische Hilfen beim Übergang von der Schule in den Beruf in einem weiteren interessanten Licht. Inzwischen konzentriert sich das Interesse von Bildungsexperten im Zuge der dann auch notwendigen Harmonisierung der Bildungswesen v. a. auf die Phase zwischen Schulabschluß und Berufsabschluß, um zum Beispiel Schul- und Ausbildungsgänge und dort erreichte vergleichbare Qualifikationen festzustellen und diese Abschlüsse gegenseitig anerkennen zu können. Mit den im Dezember 1991 angenommenen Verträgen von Maastricht wurde ein weiterreichender Umbruch eingeleitet, der bis zum Anfang des nächsten Jahrtausends die Gestalt der Bildungswesen in Europa stark verändern wird. Die Artikel 126 und 127 der Verträge schaffen völlig neue Möglichkeiten einer europäischen Integration im Bildungsbereich, die weit über die Harmonisierung der Bildungswesen hinausgehen. Laut Artikel 126 soll die Gemeinschaft die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördern und die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten im Bildungsbereich gegebenenfalls unterstützen und ergänzen. Dies sind Aufgaben, die bisher nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft fielen. Der Artikel 126 führt auch das allgemeine Ziel der Entwicklung einer qualitativ hochstehenden Bildung ein, und der Artikel 127 ermächtigt die Gemeinschaft zur Durchführung einer gemeinschaftlichen Politik der beruflichen Bildung, die den bisherigen Begriff der „Aufstellung allgemeiner Grundsätze“ ersetzt. Die Aufnahme des Gesamtkomplexes Bildung in den Vertrag von Maastricht erfordert ein einheitliches und integriertes Konzept der Bildungs- und Ausbildungspolitik auf Gemeinschaftsebene, selbst wenn die Kompetenzebenen unterschiedlich bleiben („Zusammenarbeit“ in einem und „Politik“ im anderen Fall). Der Vertrag legt sowohl für die allgemeine als auch für die berufliche Bildung genau abgesteckte Bereiche fest, die den grundlegenden Herausforderungen entsprechen, denen sich die Gemeinschaft gegenübersieht und für deren Bewältigung sie eine besondere Verantwortung überrnimmt. Die Agenda 2020 der EU hebt hervor, daß die „Humanressourcen” und somit auch die allgemeine und berufliche Bildung entscheidende Faktoren für Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung sind. Die schulischen Hilfen im Bereich zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung gehören zweifellos zu den Marksteinen der zukünftigen europäischen Bildungspolitik dazu. Entsprechend breit gestreut bereits heute die Gemeinschaftsprogramme der EU, die seit Ende der beiden ersten Aktionsprogramme von 1978 - 1988 in Leben gerufen wurden. Dazu gehörten z. B. das Programm „Socrates”, das multilaterale Schulpartnerschaften befördern soll; das Programm „Leonardo”, das die Planung, Fertigstellung und Erprobung transnationaler Pilotprojekte in Angriff genommen hat, in denen verschiedene Partner zusammenarbeiten, um die berufliche Erstausbildung und den Übergang von der Schule ins Erwerbsleben zu verbessern. Dazu gehört auch die Fortschreibung von Socrates zu Comenius und das ab 2003 - 2013 aufgelegte Programm Lifelong Learning (LLP) , das u. a. die Förderung der Absolvierung von Arbeitserfahrungsprogrammen durch Jugendliche in anderen europäischen Ländern als dem Heimatland, v. a. fürJugendliche in der Erstausbildung, junge Arbeitnehmer und Ausbilder vorsah. Auch das ab 2014 gestartete Programm Erasmus + soll bis zum Jahre 2022 in einer breitgefächerten Palette von Bildungsmaßnahmen dazu verhelfen, die ehrgeizigen Ziele der Agenda 2020 zu verwirklichen.Die Planung reicht noch weiter: Neben der Übernahme einer unionsweiten Garantie, daß kein Jugendlicher unter 18 Jahren arbeitslos wird und einen Platz an einer Bildungsstätte oder eine kombinierte berufstheoretische- und praktische Ausbildung erhält, gehört dazu die Förderung der Herausbildung unternehmerischer Fähigkeiten sowie die Fähigkeit zur Nutzung neuer Technologien mittels Arbeitserfahrung, die Ausweitung des Umfangs und der Vielfalt bestehender Berufsausbildungsangebote und die verbesserte Koordinierung von Berufsberatungen und Stellenvermittlungen auf europäischer Ebene. Die Task Force Humanressourcen, die entsprechende Abteilung der Kommission, wird in einigen Jahren mehr Gewicht haben als manches nationale Kultusministerium.Eine europäische „Pädagogik des Übergangs“ paßt zweifellos in dieses Konzept. Die Methode Arbeitserfahrung kann bereits jetzt eine herausragende Hilfestellung dazu bieten, weil es zu den wenigen bereits gemeinsam erprobten Methoden der Hilfen für den Übergang in der EU zählt. Es steht außer Frage, daß diese gemeinsam erprobte Methode wesentlich stärker zu einer modernen europäischen Bildung beitragen können als bisher mehr oder minder halbherzige nationale Einzelmaßnahmen im Übergangsbereich zwischen Schule und Arbeitswelt.
5. Der naive Glaube, es werde schon zu akzeptablen Problemlösungen für den Übergangsbereich kommen, wenn man diesen Bereich nur informationstechnisch besser durchdringt und ihn arbeitsmarktpolitisch mit Hilfe einzelner Strukturveränderungen angemessen versorgt, ist in den letzten Jahrzehnten gründlich erschüttert worden. Eine Intensivierung der im Bereich der Qualifikationen durchgeführten Maßnahmen hat ebensowenig wie die Gesamtheit der bildungspolitischen Sondermaßnahmen für Jugendliche ausgereicht, um das Schreckgespenst der Jugendarbeitslosigkeit in Europa zu bannen und damit den Übergang von Jugendlichen in die Arbeitswelt sicherer zu machen. Genügt es von daher in der Zukunft, von einem „Mehr von demselben“ auszugehen, oder muß man nicht umgekehrt ganz neue, unkonventionelle Wege beschreiten, nach „neuen Orientierungskarten“ suchen? Die Flexibilisierung von Lernstrategien kann sicher nicht nur in Baden-Württemberg und in England, sondern in ganz Europa als eine solche neue Karte bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben des Schulwesens betrachtet werden. Von der Bereitschaft aller im Bereich der Schulen Verantwortlichen, sich dem immer rascher verändernden gesellschaftlichen Umfeld ständig neu anzupassen, wobei ein Grundbestand an Bildungsgütern erhalten bleiben muß, wird abhängen, wie die europäischen Länder auf das 21. Jahrhundert vorbereitet sind. Arbeitserfahrung gehört zu den „sechs Anstößen für eine bessere Ausbildung”, die sich für die EU-Kommission in der Auswertung ihrer zahlreichen europäischen Programme bewährt haben. Unter Beibehaltung der „Wahrung der kulturellen Vielfalt in der Einheit” wird es in den nächsten Jahrzehnten darum gehen, den Anstoß Arbeitserfahrung als besonders geeignete Methode im Übergang von allgemeiner und beruflicher Bildung in die nationalen Schulwesen der Mitgliedsstaaten so einzubringen, daß tatsächlich ein europäischer Bildungs- und Ausbildungsraum entsteht.
Anmerkungen
[1] Hainmüller,Bernd (1996): Arbeitserfahrung als Methode der Berufsorientierung; Freiburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik, Frankfurt
[2] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/
[3] Zahlen aus: http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/06/04/123-millionen-menschen-in-armut-das-ende-der-zivilisation-in-europa/
[4] Mertens, Dieter (1974): Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, in: Mitteilungen aus der Arbeitmarkt- und Berufsforschung (MittAb), 7. Jahrgang, Nürnberg.
[5] Bodensohn, Reiner Michael (1994): Didaktisierung der Arbeitswelt. Impulse für Bildungspolitik und Schulen? Diss. PH Ludwigsburg.
[6] Watts, Anthony G. (1983): Education, Unemployment and the Future of Work, Milton Keynes,S.1-15
[7] Watts, Anthony G. (1981): Careers Education and the Informal Economies, in: British Journal of Guidance & Counselling, Vol. 9, No. 1/1981, Cambridge.
[8] Arnold, Rolf (1994): Berufsbildung - Annäherungen an eine Evolutionäre Berufspädagogik, Hochgehren.
[9] Gardner, Howard (1993): Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder denken, Stuttgart. S.309 ff.
[10] Fauser, Peter/Konrad, Franz-Michael/Wöppel, Julius (1989): Lern-Arbeit, Arbeitslehre als praktisches Lernen, Weinheim und Basel,
[11] Zu diesem Komplex siehe: Flitner, Andreas (1992): Reform der Erziehung, München, S.77-99 und Amlung, Ullrich/Haubfleisch, Dietmar/Link, Jörg/Schmitt, Hanno (1993): Die alte Schule überwinden, Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt.
(12] vgl. die Übersicht von Gardner (1993) S.249 ff.
[13] Ministry of Education (1963): Half our future. A report of the Central Advisory Council (Newsom Report), HMSO, London, Vorwort.
[14] Arendt, Hannah (1985): Vita activa. Stuttgart, (Erstveröffentlichung in Englisch 1958, deutsch 1960).
[15] Arendt (1985) S. 130
[16] ebenda, S. 110
[17] Piaget, Jean (1936): Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Originalausgabe 1992, München. S. 278
[18] Piaget, ebenda, S. 278
[19] Piaget, ebenda, S.281/282
[20] Edelstein, W. /Keller, M. (1982): Perspektivität und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt, S. 11ff.
[21] Erikson, Erik (1971): Identität und Lebenszyklus, Frankfurt, S. 155 [22] Erikson, ebenda, S. 112
[23] Cohen, S. /. Taylor, L (1977): Ausbruchsversuche, Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt, Frankfurt, S. 206 [24] Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit, München, S. 560
[25] Mead, Margaret (1928): Kindheit und Jugend in Samoa, Neuauflage München 1970. Wenngleich inzwischen unterstellt wird, Meads Studie sei eine anthropologische Mythe, dürfte dieser Befund zumindest stimmen.
[26] Freud, Anna (1958): Probleme der Pubertät, in: Die Schriften der Anna Freud, Band 6, München, 1958 S. 1738-1769.
[27] Heitmeyer, W. (1990): Jugend und Politik, Chancen und Belastungen der Labilisierung politischer Orientierungssicherheiten, in: Heitmeyer, W./Olk, T. (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Gesellschaftliche Prozese, subjektive Verarbeitungsformen, jugendpolitische Konsequenzen, München, S.195-217
[28] Kaplan, Louise (1988): Abschied von der Kindheit, Stuttgart, S. 135 ff.
[29] Erikson (1971) S. 112
[30] Erikson, ebenda, S. 124
[31] Winnicott, D. W. (1984): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt.S.320
[32] Siebert, Horst (1985): Identitätslernen in der Diskussion, Bonn, S. 102
(33] James, William (1899): Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some of Life´s Ideals, Nachdruck 1983 in: Frederick Burkhardt/Fredson Bowers/Ignaz Skrupelis, Band 10, London.
[34] Bohnsack, Fritz (1976): Erziehung zur Demokratie. John Deweys Pädagogik und ihre Bedeutung für die Reform unserer Schule, Ravensburg, S. 91
[35] Dewey, John (1993 - Erstausgabe 1916): Demokratie und Erziehung, Weinheim-Basel S. 396 ff.
[36] Dewey, ebenda, S. 407
[37] Zu den Differenzen zwischen Dewey und Kilpatrick siehe Oelkers, J. in: Dewey (1993) S. 506 ff.
[38] Dewey (1916) zitiert nach Scheuerl, Hans (1992): Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München., S. 245
[39] ebenda, S. 247
(40] ebenda, S. 244
[41] Ellsworth-Collings, in: Kaiser, Franz-Josef/Kaiser, Annemarie (Hrsg.) (1977): Projektstudium und Projektarbeit in der Schule, Bad Heilbrunn; laut eine Fiktion Knoll, Michael (1992): Abschied von einer Fiktion. Ellsworth Collings und das „Typhusprojekt”, in: Neue Sammlung Nr. 32, S. 571-587.
[42] Köhler, Ludwig/Ragaz, Leonhard (1925): Die heutige religiöse Lage und die Volksschule, Zürich, S. 111.
[43] so Eduard Spranger in einem brief an Kerschensteiner am 22. Mäez 1915, zitiert in Oelkers (Dewey 1993) S. 499.
[44] Siehe hierzu: Nohl, Hermann/Pallat, Ludwig (1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihreTheorie, Frankfurt.; Buber, Martin (1953): Reden über Erziehung, Heidelberg; Dewey, John (1986): Erfahrung durch und für Erfahrung, eingel., ausgew. u. kommentiert von Helmut Schreier, Stuttgart; Makarenko, Anton Semjonowitsch (1967): Eine Auswahl, Berlin; Gonon, Philipp (1992): Arbeitsschule und Qualifikation, Frankfurt; Amlung, Ullrich/Haubfleisch, Dietmar/Link, Jörg/Schmitt, Hanno (1993): Die alte Schule überwinden, Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt; van de Sandt, Rita (1977): Martin Bubers Bildnerische Tätigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart; Behrens-Cobet, Heidi/Schmidt, Ernst/Bajohr, Frank (1986): Freie Schulen. Eine vergessene Bildungsinitiative,Essen; Kruse, Klaus (1975): Zur Geschichte der Schullandheimpädagogik, in: Handbuch der Schullandheimpädagogik, Hamburg; Potthoff, Willy (1992): Reformpädagogik, Freiburg; Schwerdt, Ulrich (1993): Martin Luserke - Reformpädagogik im Spannungsfeld von pädagogischer Innovation und kulturkritischer Ideologie, Frankfurt; Bernhard, Armin/Eierdanz, Jürgen (Hrsg.) (1990): Der Bund der entschiedenen Schulreformer, Frankfurt; Flitner, Wilhelm/Kudritzki, Gerhard (1962): Die Deutsche Reformpädagogik, Band II, Düsseldorf.
[45] genannt seien hier stellvertretend: Abraham Maslow, Carl Rogers; Victor Frankl; Erich Fromm, Fritz Perls.
[46] Lewin, Kurt: (1951): Field Theory in Social Sciences, New York.
[47] Peccei, Aurelio (1980) (Hrsg.): Zukunftschance Lernen, Club of Rome, Bericht für die achtziger Jahre, Wien-Zürich - Innsbruck, Teil IV, S.151.
[48] Kolb, D. A. (1984): Experiential Learning, Englewood Cliffs, NJ.
[49] Beinke, Lothar (1992) Berufswahlunterricht, Bad Heilbrunn, S. 54 ff.
[50] Gudjons, Herbert (2008): Handlungsorientiert lehren und lernen. 7. Auflage. Bad Heilbrunn
[51] Frey, Karl (2007) Die Projektmethode. 11. Auflage. Weinheim und Basel
(52) Watts, Anthony G.(1983): Work experience and schools, Cambridge, S. 3
(53) Eine Beschreibung dieser erweiterten Formen von Arbeitserfahrung bietet Hainmüller (1996) S. 165 ff.
(54) Miller, A./Watts, A.G./Jamieson, I (1991): Rethinking work experience, Bristol, S. 24