Spurensuche Gurs
80 Jahre Deportation badischer Juden nach Gurs
Bernd Hainmüller
Am 22. Oktober 2020 jährte sich zum 80. Male die Deportation von 6.504 Deutschen jüdischer Herkunft in das französische Internierungslager Gurs am Fuß der französischen Pyrenäen. Im kollektiven Gedächtnis Südwestdeutschlands ist das Lager Gurs dadurch zentral mit den Opfern der sogenannten „Oktoberdeportation“ verbunden. Die Vorbereitung der „Judenaktion in Baden und in der Pfalz“ erfolgte von langer Hand und lieferte eine Art Masterplan für künftige Vertreibungen der Juden aus Deutschland. Am Morgen des 22. Oktober 1940, dem letzten Tag des Laubhüttenfests (Sukkot), wurden die Juden Badens und der sogenannten Saarpfalz binnen zwei Stunden mit maximal 50 kg Gepäck und 100 Reichsmark Bargeld zu Sammelstellen befohlen. Vorerst ausgenommen waren allein transportunfähige Kranke, Staatsangehörige verbündeter oder nicht kriegsbeteiligter Staaten sowie jüdische Partner sogenannter Mischehen. Der Altersstruktur der jüdischen Gemeinden entsprechend waren es vornehmlich ältere Menschen, denen hier unter massivem zeitlichen und psychischen Druck vorausschauende Entscheidungen über die mitzunehmende Kleidung, Verpflegung und den Hausrat abverlangt wurden. In sieben Eisenbahnzügen aus Baden (vermutlich zwei Züge aus Mannheim, fünf Züge aus Karlsruhe) und zwei Zügen aus der Pfalz wurden die Deportierten über Chalon-sur-Saône ins unbesetzte Frankreich der Vichy-Regierung abgeschoben. Die jüdischen Bewohner des Bodenseegebiets wurden in Offenburg den Sonderzügen zugeführt, weil eine Querung des schweizerischen Hoheitsgebiets am Hochrhein nicht in die Planung einbezogen wurde.Viele der badischen Juden starben schon im ersten Jahr der Internierung, die verbliebenen badischen Überlebenden wurden gemeinsam mit überwiegend französischen Juden und Widerstandskämpfern in 3 Deportationswellen ab August 1942 über das Transitlager Drancy bei Paris in das Konzentrationslager Auschwitz verschickt und dort ermordet.
Das Projekt "Spurensuche Gurs"
Über diese Phase des Beginns der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Jahre 1940 - die Nationalsozialisten nannten es „Endlösung der Judenfrage“ - ist in der Öffentlichkeit, insbesondere unter Jugendlichen, wenig oder gar nichts bekannt. Allgemein geht man davon aus, dass die Ermordung der jüdischen Staatsbürger überwiegend in den besetzten Ostgebieten und den dort errichteten Konzentrations- und Vernichtungslager ab 1942/1943 stattgefunden hat, nicht im Westen, in einem unwirtlichen Ort in den französischen Pyrenäen nahe der spanischen Grenze auf 1.000 m Meereshöhe.
Diese Tatsache hat das Blaue Haus in Breisach veranlasst, im Vorfeld der Gedenkfeierlichkeiten zur 80. Jährung dieses Ereignisses im Oktober 2020 ein auf drei Jahre angelegtes Projekt zu beantragen, bei dem sich jeweils zehn Studierende aus den Partnerstädten Breisach bzw. Freiburg und Oswiecim auf die Spurensuche der Erinnerung zum Lager Gurs begeben werden und ihre Ergebnisse danach denjenigen vermitteln sollen, die einerseits von deutscher Seite aus Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz unternehmen und andererseits von polnischer Seite aus Gedenkstätten in Deutschland besuchen. Dieses Projekt kann so die Komplexität des damaligen Geschehens in zwei Städten beleuchten, die direkt Tatorte der Inhaftierung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas geworden sind und die Erinnerung an das Geschehen an die zukünftigen Generationen in Deutschland, Polen, aber auch in Europa, wachhalten und weitertransportieren im Sinne einer gemeinsamen Zukunft über Ländergrenzen hinweg. Als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden die jungen Menschen somit befähigt, aus der jeweils regionalen Geschichte und ihren Menschen in Deutschland wie Polen eine national wie international bedeutsame Geschichte zu vermitteln und gleichzeitig an einem Europa der Zukunft zu arbeiten. Das Blaue Haus in Breisach ist eine Gedenk- und Bildungsstätte für die Geschichte der Juden am Oberrhein. In den Mauern des Hauses werden mehr als 700 Jahre Geschichte lebendig. Veranstaltungen und Bildungsangebote am authentischen Ort erinnern an das Leben der jüdischen Gemeinden, das Zusammenleben von Christen und Juden sowie an das gewaltsame Ende dieser Strukturen während der Nazidiktatur durch die Deportation der Breisacher jüdischen Gemeinde im Oktober 1940 nach Gurs ins Département Pyrénées-Atlantiques in der Region Nouvelle-Aquitaine (Kanton Le Cœur de Béarn). Um das Projektgeschehen überschaubar zu halten, sollte sich das Projekt "Spurensuche Gurs" konzentrieren auf die Vernichtung der Breisacher jüdischen Gemeinde, ihr Schicksal in Breisach, in Gurs und im KL Auschwitz-Birkenau. Die existierenden Lücken in der lokalen und regionalen Forschung zum Komplex "Gurs" wollte das Blaue Haus mit seinem Projektantrag, soweit es möglich ist, schließen helfen. Gelänge die Spurensuche zu Breisach-Gurs-KL Auschwitz-Birkenau ist es folgerichtig, dass parallel zu dieser Forschung ein Multiplikatoreneffekt für zukünftige Jugendbegegnungen zwischen den Gedenkstätten Blaues Haus Breisach, Jüdisches Zentrum Oswiecim und der Pädagogischen Abteilung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau entwickelt werden kann. Profitieren könnten davon die in dem Verbund Gedenkstätten am südlichen Oberrhein (www.gedenkstaetten-suedlicher-oberrhein.de) zusammengeschlossenen Aktiven, aber auch alle weiteren Gedenkstätten an Orten der Deportation nach Gurs, die der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten der Landeszentrale für politische Bildung angehören (siehe www.lpb-bw.de). In Freiburg ist geplant, in den nächsten Jahren ein NS-Dokumentations- und Infozentrum mit einer Gedenkstätte für die Freiburger Juden zu errichten, hier entsteht ein weiterer bedeutender Partner.
Vier wichtige Lücken in der Gurs-Forschung
Als ehrenamtlicher Mitarbeiter des "Blauen Hauses" in Breisach habe ich ab dem Oktober 2019 dieses zweijährige Projekt "Spurensuche Gurs", gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Programms "Jugend erinnert" begleitet und Forschungsarbeiten zu Gurs unternommen. Unsere Projektgruppe besteht aus Christiane Walesch-Schneller, der Vorsitzenden des "Förderverein Blaues Haus Breisach", dem Historiker Robert Neisen aus Freiburg und den beiden Mitarbeiterinnen des "Blauen Hauses" Olivia Walesch-Schneller und Valeska Wilczek. Aufgrund der ab März 2020 einsetzenden Corona-Pandemie mußten einige Schwerpunkte des Vorhabens geändert werden, wie z. B. der Kontakt zu einer Studentengruppe aus Oswieczim, andere hingegen konnten trotz der einsetzenden Beschränkungen in Angriff genommen werden.
Gurs Spurensuche 1: "Das Führerhauptquartier "Tannenberg" am Kniebis und seine Rolle an fünf Tagen Ende Juni 1940"
Seit den 1980 Jahren werden die Vorgänge um die Massendeportation der badischen Juden am 22./23. Oktober 1940 forschungsmässig aufgearbeitet. Im Vordergrund stand zunächst die Frage, wer von Seiten der nationalsozialistischen Machthaber dieses Vorhaben geplant und durchgeführt hat: War es Hitler selbst, der die Anweisungen gab, waren es Himmler, der allmächtige Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und sein Stellvertreter Heydrich oder war es eine Einzelaktion der Gauleiter von Baden und der Pfalz, Robert Wagner und Josef Bürckel? Oder eine Zusammenarbeit aller? Inzwischen ist klar, dass nicht von einer "Einzelaktion" Bürckels und Wagners gesprochen werden kann, sondern von einem planvollen Ineinandergreifen dieser "Exekutoren" mit dem Reichssicherheitshauptamt von Himmler und Heydrich unter direkter Anweisung des Führers selbst Wir werden auf diese Frage im Beitrag:Gurs Spurensuche 1: "Das Führerhauptquartier "Tannenberg" am Kniebis und seine Rolle an fünf Tagen Ende Mai 1940" in Hinsicht auf die Deportationen zurückkommen.
Gurs Spurensuche 2: "Die Breisacher Eisenbahnbrücke - der letzte Blick der Deportierten auf die Heimat."
Ein zweiter Komplex der Forschung betrifft die Frage der "logistischen Abwicklung" der Deportation von fast 6.000 Menschen an einem einzigen Tag. Es gibt bislang dazu keine Unterlagen, ausser den Berichten der Deportierten selbst und einige Dokumente der Nationalsozialisten nach "erfolgreicher Ausführung". Eine Kernfrage der Logistik der Transporte ist der Weg, den die neun Züge von Baden und der Pfalz in Richtung Gurs nahmen und wer sie ab dem Passieren der neuen "Reichsgrenze" bei Chalons sur Saone auf dem Weg nach Gurs auf dem Gebiet des unbesetzten Frankreichs "übernommen" hat. Wir werden auf diese Frage im Beitrag: Gurs Spurensuche 2: "Die Breisacher Eisenbahnbrücke - der letzte Blick der Deportierten auf die Heimat" zurückkommen. Inzwischen hat das Blaue Haus meinen Online-Vortrag über die Brückenfrage online gestellt. https://www.youtube.com/channel/UCwk4Xq6KB6n93Es4PwkQ2UA
Gurs Spurensuche 3: "Die Deportation der Breisacher Juden nach Rouffach im Elsaß".
Ein dritter Komplex der Forschung betrifft die lokale Geschichte der Juden von Breisach im Zusammenhang der badischen Deportationen. Aus einigen Dokumenten war bekannt, dass speziell die Breisacher jüdischen Bürger vor der allgemeinen Deportation an 22./23. Oktober 1940 schon einmal deportiert worden waren und zwar im Juli/August 1940 nach ihrer Rückkehr aus der Evakuierung nach dem Waffenstillstand mit Frankreich am Ende des Westfeldzuges. Ca. 60 Personen waren von Breisach in die Nervenheilanstalt von Rouffach im Elsaß deportiert worden, konnten aber nach sechs Wochen wieder nach Breisach zurückkehren, bevor sie im Oktober 1940 mit allen anderen Bürgern aus 153 badischen Gemeinden nach Gurs verschickt wurden. Der "Fall Breisach" ist der sehr seltene Fall eines gelungenen Protestes u. a. der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin, der zur "vorläufigen Rücknahme" der Deportation führte. Wir werden auf diese Frage im Beitrag: Gurs Spurensuche 3: "Die Deportation der Breisacher Juden nach Rouffach im Elsaß" zurückkommen. Der Online-Vortrag von Robert Neisen über Breisach im Nationalsozialismus ist ebenfalls vom Blauen Haus ins Netz gestellt worden: https://www.youtube.com/channel/UCwk4Xq6KB6n93Es4PwkQ2UA
Gurs Spurensuche 4: "Kultureller Widerstand in Gurs am Beispiel von Manfred Wildmann und Horst Rosenthal"
Ein vierter Komplex betrifft die Situation der im Lager Gurs eingepferchten jüdischen Mitbürger selbst. Dass dieses Internierungslager eines der schrecklichsten und menschenverachtensten Lager der Vichy-Regierung Frankreichs war, ist allgemein unbestritten. Aber gab es auch Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse? Und wenn, wer waren diese Menschen, die Widerstand leisteten? Die Dokumente hierzu sind erst in Ansätzen erschlossen worden. Wir haben dazu erstaunliche Dokumente gefunden, die in Gurs Spurensuche 4: "Kultureller Widetsand in Gurs am Beispiel von Manfred Wildmann und Horst Rosenthal" vorgestellt werden.
Das Blaue Haus hat dazu drei ca. 20minütige Online-Beiträge aus den Forschungen rund um die Comics von Horst Rosenthal ins Netz gestellt. Folge 1: Mickey au Camp de Gurs; Folge 2: Die Brüder Rosenthal; Folge 3: Sprechen über "Mickey au Camp de Gurs mit Pnina Rosenberg, der Erforscherin der Comics. Alle abzurufen über:https://www.youtube.com/channel/UCwk4Xq6KB6n93Es4PwkQ2UA
Damit sind nach mehr als 14 Monaten intensiver Forschungsarbeit zumindest einige Mosaikstücke der "Spurensuche Gurs" erarbeitet worden und können der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wir werden sie im folgenden in Einzelbeiträgen näher vorstellen. Bitte gehen Sie zu den Artikeln mit den Bezeichnungen "Spurensuche Gurs 1- 4."