10 Jahre Kooperationsklassen Freiburg
Hauptschule - Berufsschulen
Prof. Dr. Wolfgang Schwark
Verehrte Jubilare und Gäste:
10 Jahre Kooperationsklasse Freiburg – herzlichen Glückwunsch zu diesem mehr als bemerkenswerten Ereignis. Alle, die diese Erfolgsgeschichte geschrieben haben, können stolz auf das Erreichte sein und dürfen mit Genugtuung auf das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit zurückblicken. Sie haben vollbracht, was Pädagogen mit Freude erfüllt – nämlich Kinder und Jugendliche, vor allem die in besonders schwierigen Lagen, so auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten, dass jene ihren Alltag in Ausbildung oder Arbeit, in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis, aber auch in Vereinen, Glaubensgemeinschaften und politischen Zusammenhängen zu großen Teilen aussichtsreich gestalten können. Das macht den Kern der Professionalität von Lehrern, Sozialpädagogen und Berufsbegleitern aus; die besten unter ihnen verstehen sich zuvörderst als Erzieher, die Wege zur Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Einmündung aufzeigen, für diesen risikoreichen und schwierigen Gang Regeln aufstellen, den Jugendlichen uneigennützig ihre Hilfe und Unterstützung anbieten. Gelingt dieser Prozess, entsteht ein belastbares pädagogisches Vertrauensverhältnis zwischen Erziehern und Schülern. Darauf kommt es an. Auf einer solchen Grundlage entsteht das, was Psychologen als ein Gefühl der Selbstwirksamkeit bezeichnen. Jeder, der sich als halbwegs nützlich und wertvoll wahrnimmt, braucht das; er spürt dann: ich kann die mir gestellten Anforderungen bewältigen; manche Tätigkeiten beherrsche ich so gut, dass ich selbstgenügsam in ihnen aufgehen kann; konzentriertes Arbeiten macht mir Freude; körperliche Bewegung ermuntert mich.
Allerdings ist die gelingende pädagogische Arbeit im Sinne der Vermittlung von Selbstwirksamkeit an Rahmenbedingungen geknüpft, die sich dem Einfluss der Pädagogenschaft weithin entziehen. In erster Linie geht es um das Vorhandensein sogenannten Sozialkapitals, das für die Erziehung höchst bedeutsam ist und sich auf der Grundlage eines sicheren familiären Mindesteinkommens, eines intakten Beziehungsnetzes, tragfähiger persönlicher Bindungen und verbindlicher ethischer bzw. religiöser Überzeugungen einstellt. Hier stehen die Kooperationsklassen vor besonderen Schwierigkeiten, die sie eindrucksvoll gemeistert haben. Legt man die Bilanz in Zahlen zugrunde, dann konnten von 162 ehemaligen Schülern zwischen 80 und 90% erfolgreich in Ausbildung oder entlohnte Arbeit vermittelt werden. Dem geltenden Schulgesetz nach sind die Kooperationsklassen Teil der Hauptschule. Herkömmliche Hauptschulen erreichen diese Quote nicht.
Die Koop-Lehrerschaft musste und muss ungewöhnliche pädagogische Herausforderungen bewältigen. Ihre verantwortungsreiche und verdienstvolle Tätigkeit spielt sich in einem Umfeld ab, das nicht auf Unterstützung, Entlastung, Schutz und Vergleichbarem beruht; ganz im Gegenteil: Gegenwärtig ist sie betroffen von einer aufgeheizten Schulstrukturdiskussion, die um das gegliederte Schulsystem, vor allem um die Hauptschule, kreist und entweder deren Zukunft radikal in Frage stellt oder für deren Erhalt und Funktionsfähigkeit streitet. Verunsicherung greift um sich. Nichts scheint mehr zu stimmen. Viele fragen sich: Stehen Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft, Handwerk, Industrie und Wirtschaft, Mittelstand und die Länderparlamente noch hinter diesem Schultyp? Werden Hauptschulen in großer Zahl geschlossen? Wie stellt man sich Kooperationen zwischen den Schulen der Sekundarstufe, besonders von Haupt- und Realschulen, konkret und die Bevölkerung überzeugend vor? Wie geht ein auf verstärkte Kooperation oder sogar Integration angelegtes Schulsystem mit den Lerngefährdeten um? Fragen über Fragen prägen den gegenwärtigen, äußerst hitzig geführten schulpolitischen Diskurs, dessen Ende nicht absehbar ist. Das gehört zur Vergangenheit und Gegenwart des Modells Kooperations–Klasse; jedoch mit einer beeindruckenden Konnotation, einer positiven Färbung: Wer auf einem derart unübersichtlichen und mit Fallen zugestellten Gelände trotzdem pädagogisch erfolgreich arbeitet, Linie hält, sein professionelles Denken und Handeln nicht in vernunftlosen Scharmützeln vernutzt, sondern jungen Menschen in problematischen Lebenslagen produktiv widmet, wirkt beispielhaft, gibt Orientierung, wird zum Vorbild. Der Chronist und außen stehende Betrachter - als solchen sehe ich mich – übersetzt das in eine naheliegende Frage:
Was können und sollten unsere Schulen von den Kooperationsklassen lernen?
Dieses leitende Interesse richtet sich an alle Schularten und –stufen. Vielfalt bei den Antworten ist angezeigt. Deshalb möchte ich als Erstes wissen, wie Koop-Schüler sich und die pädagogischen Ergebnisse dieses Schulmodells einschätzen und bewerten. Als Zweites geht es mir darum, etwaige Alleinstellungsmerkmale der Kooperationsklasse herauszufinden. Als Drittes möchte ich wirksame Knotenpunkte im pädagogischen Netz der Kooperations-Klasse entdecken. Als Viertes wende ich mich dem Personal zu, das an der Koop-Klasse Freiburg tätig oder ihr zugeordnet ist. Zum Schluss frage ich nach der Übertragbarkeit einzelner Prinzipien bzw. Komponenten dieses pädagogischen Modells und dessen näherer Zukunft.
1. Die Schülersicht
Vorweg: Nach einer Pilotphase, die in Freiburg 1998 begann, hat der Gesetzgeber die Kooperationsklassen im Juli 2003 in das Schulgesetz aufgenommen. Seitdem sind sie eine weitere Regelform der Hauptschule. Sie umfassen zwei Schuljahre, das 9. Hauptschuljahr und das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), welches Teil der beruflichen Schulen ist. Das hauptsächliche Ziel der Koop-Klassen besteht darin, Schülern, die in der Normalform der Hauptschule höchstwahrscheinlich keinen Abschluss erreichen können, aber dennoch lern- und schulmotiviert sind, einen alternativen, eher arbeitsweltlichen Qualifizierungsweg dahin anzubieten. Neben dem allgemeinbildenden Unterricht, vorwiegend in den Kernfächern Deutsch, Mathematik, Englisch und in Fächerverbünden, sollen neue praxis- und berufsbezogene Inhalte der Zielerreichung dienen. Hauptschullehrer, Lehrer des BVJ, sozialpädagogische Fachkräfte, betriebliche Experten und Berater aus Institutionen der Lebenshilfe sollen dabei zusammenarbeiten. Die Federführung liegt bei den Lehrern. Die Unterrichtszeit beträgt zwischen 30 und 31 Wochenstunden. Die Klassen umfassen 12 bis 16 Schüler. Derzeit sind Kooperationsklassen in Baden-Württemberg an 53 Standorten für 1700 Schüler eingerichtet; dies bei einem Bestand von noch 1200 Hauptschulen. Bis Ende 2009 soll die Anzahl auf 171 – wie es heißt dann auf eine „flächendeckende“ Größe – erweitert werden.
Nach diesem informierenden Einschub nun zur Einschätzung der Koop-Klasse seitens ihrer Schüler. Die zugängliche Datenlage ist ergänzungsbedürftig. Verallgemeinernde Aussagen sind nicht möglich. Aber einige gesicherte Hinweise auf die Freiburger Klasse sind wegen des vorhandenen Materials erlaubt und angebracht. Dankenswerter Weise kann ich mich auf eine wissenschaftliche Hausarbeit beziehen, die die ehemalige Studentin und jetzige Referendarin Sanas Memarnia im vergangenen Jahr an der hiesigen Pädagogischen Hochschule zur Kooperationsklasse Freiburg vorgelegt hat. Darin versucht sie herauszufinden, wie Koop-Schüler ihre vorberufliche Situation einschätzen und vergleicht dies mit der Sicht der Schüler aus zwei regulären 9. Hauptschulklassen. Dafür setzt sie einen für alle Probanden identischen Fragebogen ein, der 8 Felder mit je 2-4 Items enthält. Es geht bei den befragten Schülern um die Kenntnis der Ausbildungsberufe, um Umfang und Tiefe beruflicher Erfahrungen durch Betriebspraktika, um die Bewerbungskompetenz, um die Qualität der Unterstützung der Erziehungsberechtigten, der Lehrer und der Vertreter nichtschulischer Einrichtungen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, schließlich um die Einschätzung der eigenen Berufschancen und die Bewertung der eigenen Berufsvorbereitung. Details referiere ich an dieser Stelle nicht; die können per Internet abgerufen werden. Das Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (GHS) Offenburg (semog.de) hat den gesamten Text ins Netz gestellt. Stattdessen versuche ich ein Fazit: Trotz aller Förderung sehen die befragten Hauptschüler der konventionellen Klassen ihre Ausbildungs- und Berufschancen und ihre Bewerbungskompetenz tendenziell positiver als die Koop-Jugendlichen. Das mag den Betrachter enttäuschen. Doch sollte es mit dem ersten Eindruck nicht sein Bewenden haben; der zweite Blick lohnt sich. Vermutlich haben die Koop-Schüler aufgrund ihrer höchst intensiven Begegnungen mit der betrieblichen Praxis eine realistische Sicht der Dinge, die in den Bereichen Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit auf sie und die Hauptschüler im Allgemeinen zukommen. Trotz ihrer Skepsis fühlen sie sich deutlich besser – als dies bei den Normalhauptschülern der Fall zu sein scheint – durch ihre Lehrer optimal sowie die Mitarbeiter aus den Betrieben und den nichtschulischen Einrichtungen sehr gut unterstützt und auf die zukünftigen Herausforderungen in Alltag und Beruf gründlich vorbereitet. Und man muss sich die Ausgangslage vor Augen halten: Die Koop-Klassen sind nur für solche Schüler da, von denen man annimmt, dass sie im Normalsystem keinen regulären Abschluss erreichen werden. Wer sich mit dem Thema „schlechte Schüler“ befasst, weiß: die größte Last, die diese Kinder mit sich herumschleppen, ist die Häufung negativer Einschätzungen und Erfahrungen, sind dauernde Entmutigungen und Misserfolge – eine Gemengelage, die sich insgesamt zu einem instabilen Selbstkonzept verdichtet. Anfangs stehen alle Beteiligten des Koop-Modells vor dieser Situation. Daraus müssen sie sich in gemeinsamer Anstrengung herausarbeiten. Für Freiburg darf man zu Recht annehmen, dass dies gelingt. Vor allem die Lehrer, die Ausbildungsbegleiter und die entsprechenden Fachleute in den Betrieben scheinen mit einem professionellen Wechselspiel den Schülern überzeugend vorzuleben, was Fordern und Fördern aus pädagogischer Sicht bedeutet: nämlich die „Sachen zu klären und den Menschen zu stärken“, um ein vielzitiertes Wort Hartmut von Hentigs aufzugreifen. Anders gesagt: Die Koop-Schüler stehen voll und ganz hinter ihrer Schule. Sie vertrauen ihr in seltener Weise.
2. Alleinstellungsmerkmale
Aus meiner Sicht ist dreierlei bemerkenswert: Erstens die verbindliche und institutionell geregelte Kooperation von Freiburger Hauptschulen und beruflichen Schulen, genauer: der Albert-Schweitzer-Schule II, der Friedrich-Weinbrenner-Gewerbeschule, der Edith-Stein-Gewerbeschule und der Gertrud-Luckner-Gewerbeschule sowie dem Arbeitgeberverband Südwestmetall, der im Rahmen seiner Förderlinie „Gewinnung von Nachwuchs mit besonderem Förderbedarf“ dem Projekt über den Bundesverband Berufliche Qualifikation (BBQ) eine halbe Stelle für die Begleitung der vier verbindlichen Praktika zur Verfügung stellt - ein zentraler Baustein für das Gelingen des ambitionierten Projekts. Ebenso entscheidend ist produktive Unterstützung dieser Initiative durch die Schulleitungen, das zuständige staatliche Schulamt, das Regierungspräsidium sowie das Kultusministerium. Der Gesamtrahmen, bestehend aus Schulen, Betrieben, Verbänden, Verwaltungen, Beratungsstellen, bestehend aus didaktischer, berufspädagogischer, sozialpädagogischer, technischer und lebenspraktischer Kompetenz ist für den nachhaltigen Erfolg dieses Modells unabdingbar. Die Protagonisten der ersten Stunde – die Kollegen Lehmann, Piegsda und Prost – sowie deren unmittelbaren konzeptionellen Unterstützer Hüttemann, Leupolz, Fleig, Häfner und Frau Schmock haben dies durchgängig so gesehen und über die Jahre hinweg unbeirrt mitgetragen. Das Konzept ist das eine, dessen Umsetzung das andere. Die erfolgreiche Realisierung besonders in der bei solchen Projekten immer schwierigen und kritischen Anfangsphase ist der Umsicht, der Hartnäckigkeit dem intellektuellen Format und praktischen Engagement des ersten Koop-Klassenlehrers Dr. Bernd Hainmüller zu verdanken. Annegret Steinbach, seine Nachfolgerin, setzt die beeindruckende Arbeit fort und hat das Heft der Pädagogik und der kooperativen Weiterentwicklung dieser besonderen Hauptschulform ebenso fest in der Hand wie dies bei ihm der Fall war. Das es so läuft, wie es läuft, ist darüber hinaus den beteiligten Schulleitungen, den Schülern, ihren Eltern, dem Berufshelfer, den Betrieben, der Bundesagentur für Arbeit, der Fördergesellschaft der Handwerkskammer, dem Roten Kreuz, Jugendoffizieren der Bundeswehr, Einrichtungen der sexualpädagogischen Beratung, der Drogenberatung und vielen anderen verdanken.
Das zweite Alleinstellungsmerkmal liegt für mich in dem institutionsübergreifend vertretenen pädagogischen Grundverständnis der Koop-Klassen, das vor allem immer wieder von Bernd Hainmüller in Erinnerung gebracht und angemahnt wird. In einer Zeit, die Wettbewerb und Exzellenz um nahezu jeden Preis predigt, geraten auch Bildung und Schule in solches Fahrwasser. Immer geht es um Aufwertung, um quantitative und qualitative Steigerung, um das Ausschöpfen der letzten Begabungsreserve. Das gilt auch für die Hauptschule. Modelle wie 7+3, 8+2, 9+1, multilaterale Versetzungsordnung, Werkrealschule belegen das. Anders gesagt: Die Förderung des oberen Drittels soll nicht nur die Hochschulen, sondern das gesamte Bildungssystem bis hin zu den Hauptschulen stärken. Das führt dann zur Spaltung in „Achiever“ und „Loser“, die uns in neoliberalen kapitalistischen Gesellschaften schwer zu schaffen macht. Die Anwälte der Jugendlichen in Koop-Klassen denken demgegenüber von der Basis, vom Anfang her. Sie setzen auf jeden jungen Menschen und dessen besondere Begabungen, die zumeist höchst vielfältig sind, aber oft durch besondere ökonomische und soziale Umstände nicht ohne fremde Begleitung und Unterstützung voll zur Geltung kommen können. Koop-Pädagogen bemühen sich, jeden mitzunehmen, niemanden zu beschämen, Achtsamkeit walten zu lassen – eine Perspektive aus wahrhaft reformpädagogischer Tradition, die sich auf so unterschiedliche Geister wie Maria Montessori, A. S. Makarenko, Adolf Reichwein, G. G. Hiller oder Hartmut von Hentig berufen kann. Auch wenn dies nicht alle Schüler erreicht, weil Scheitern auch zum Schulalltag gehört, schafft der Versuch der Umsetzung einer im guten Sinne radikalen reformpädagogischen Position Orientierung und stärkt die pädagogische Selbstwirksamkeit.
Das dritte Alleinstellungsmerkmal sehe ich in der überraschenden Kombination von Freiheit bzw. Freiwilligkeit und Verbindlichkeit in Form fester Regelwerke. In die Koop-Klasse geht man aus eigenem Antrieb und in freier Entscheidung. Das gilt sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer. Niemand wird dorthin gezwungen; für öffentliche Pflichtschulen eher die Ausnahme als die Regel. Freiheit der Entscheidung schafft eine besondere Motivation, sich aufeinander einzulassen. Dieser Weg des Eintritts ist sicherlich ein Baustein für den bisherigen Erfolg des Modells Koop. Angesichts der häufig problematischen Lebensumstände und Lebensgeschichte vieler Koop-Schüler muss neben die Freiheit Verbindlichkeit treten. Alles andere würde in Verunsicherung, Überforderung und letztlich zu Orientierungslosigkeit führen. Im Zentrum steht ein für alle Beteiligten – für Schüler, Eltern, Lehrer und Schulleitungen – verbindlicher Lernvertrag. Dessen Verletzung wird sanktioniert und führt im Falle wiederholter Devianz und dreifacher Abmahnung zum Schulausschluss. Das Gesamtpaket an Begleit- und Führungsmaßnahmen ist hoch differenziert und hat zur pädagogischen Profilierung der Koop-Klasse Freiburg entscheidend beigetragen.
3. Didaktische Knoten
Spätestens seit dem 17. Jahrhundert – beispielsweise mit dem Aufsatz von John Locke zur Arbeitsschule aus dem Jahr 1693 - liegen die Themen, die auch die pädagogische Arbeit der Koop-Klassen berühren, für jeden sichtbar auf dem Tisch: Wie wird der Mensch zum Menschen? Durch das Lernen, durch die Arbeit, durch den Glauben oder wodurch sonst? Wie ist das Verhältnis von Unterricht und produktiver Arbeit zu beschreiben und zu gestalten? Wie ist der dialektische Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung zu betrachten?
Welche Verweisungszusammenhänge bestehen zwischen Freiheit und Zwang im pädagogischen Prozess? Jede Zeit versucht, eigene Antworten auf diese und weitere Fragen zu finden, setzt ihre Signaturen; von A. H. Francke über J. J. Rousseau, J. H. Pestalozzi, die Philanthropen wie F. E. von Rochow bis hin zu den Vertretern einer bürgerlichen oder sozialistischen Arbeitsschulbewegung, für die so unterschiedlichen Repräsentanten oder Gruppen stehen wie G. Kerschensteiner, A. S. Makarenko und der Bund der entschiedenen Schulreformer. Die Planer der Koop-Klassen beziehen hier im Detail keine Stellung, verweisen aber summarisch auf die Reformpädagogik von 1890 bis 1932, die – so sehe ich das - in der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung mehr denn je verkürzt rezipiert wird. Auf Dauer wird man nicht umhin kommen, die differenzierten Überlegungen zum Verhältnis einer Schule, die sich vor allem als pädagogische Provinz, d. h. als Schonraum versteht, und einer Schule, die früh Anschlüsse zur harten gesellschaftlichen Realität herstellt, sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen. In diesem Zusammenhang muss die Arbeitsschulpädagogik jeglicher Herkunft vorurteilslos betrachtet und auf unsere Lage hin neu interpretiert werden – vor allem unter der Maßgabe des Ernstcharakters von Schule, was sich in deren Konzentration auf die Arbeits- und Lebenswelt ausdrückt und in ihrem Bemühen zeigt, Erziehung nicht nur als Formung des Einzelnen, sondern auch als Formung der gesamten Gruppe zu begreifen. In der Praxis der Koop-Klasse Freiburg sehe ich didaktische Prinzipien, die sich damit verbinden, umgesetzt bzw. in der Umsetzung begriffen. Um es am Beispiel des notwendigen Ernstcharakters oder der Lebensnähe zu verdeutlichen:
- Aufnahmeprozedur, dreimonatige Probezeit und zwingende Einhaltung des Lernvertrags beinhalten gleichermaßen die Chance von Erfolg und Scheitern. Das sind keine beliebigen Spielereien, sondern unmissverständliche Verbindlichkeiten.
- Das Curriculum zielt inhaltlich und formal in eine vergleichbare Richtung: Es setzt sich zusammen - um es mit den Worten der Planer zu sagen – aus einem „Schultraining“, einem „Berufs- und Arbeitstraining“ und einem „Überlebenstraining“. Es geht um die Vermittlung des für die Hauptschulprüfung erforderlichen Wissens, um die vorberufliche Qualifizierung in Werkstätten der Berufsschulen und der Betriebe und um die Persönlichkeitsbildung, das meint nicht zuletzt Vorbereitung auf ein Leben, das tendenziell eher von Not als von Luxus bestimmt sein wird. Das Wort „Training“ signalisiert das gemeinsame situationsbezogene, konkrete und zielorientierte Agieren aller am pädagogischen Prozess Beteiligten.
- Der Wechsel der Lernorte Hauptschule/Berufsschule stützt diesen Ansatz ebenso wie die pädagogische und didaktische Integration des beteiligten Personals. Um es beispielhaft zu illustrieren: Die Lehrer der Freiburger Koop-Klasse haben die Erfahrung gemacht, dass die Berufsschulatmosphäre, die hauptsächlich vom Unterricht erwachsener Schüler geprägt wird, positiv wirkt: Sie nötigt den Hauptschülern aus verschiedenen Gründen gehörigen Respekt ab und spornt an, den Älteren und Lebenserfahreneren nachzueifern und sich einen eigenen Fundus von Selbstwirksamkeit anzueignen.
Wie gesagt: Bei Arbeitsschulkonzepten spielt fast immer die gleichzeitige Sozialisation von Gruppe und Individuum über Lernen und Arbeit auf der Höhe der jeweiligen Produktionsverhältnisse eine zentrale Rolle. Demnach darf man seine erzieherischen Intentionen nicht nur auf den einzelnen Schüler richten, sondern muss Vergleichbares für die Gruppe vorsehen. Ob bürgerliche Gruppenpädagogik oder sozialistische Kollektiverziehung – die Berechtigung dieser Perspektive ist unstrittig. Die Konzeption der Freiburger Kooperationsklasse stellt das nicht in den Vordergrund ihrer Überlegungen. Aber sie greift dieses wesentliche didaktische Element auf, indem sie Sozialpädagogik, Werkstatt und didaktisches Handeln aufeinander bezieht bzw. integriert. Das fasst sie – wie es Hainmüller an einer Stelle formuliert – unter dem „Zauberwort“ Kooperation zusammen, das theoretischen Anspruch und gestaltete Praxis gleichermaßen umfasst. Und es gibt dafür einen eigens ausgewiesenen Bereich, der mit Erlebnispädagogik und team-building-activities bezeichnet wird. An der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung sind neben den Schülern Lehrer, Mitarbeiter des Bundesverbands Berufliche Qualifikation (BBQ) und weiteres pädagogisches Fachpersonal beteiligt. Entsprechend angelegte Schullandheimaufenthalte, die Freiburger Sozialrallye, deutsch-britische Jugendbegegnungen, Ortsbegehungen, Betriebserkundungen und Freizeiten stehen dafür.
Im Laufe der Jahre ist ein fein gesponnenes pädagogisches Netz mit stabilen didaktischen Knotenpunkten entstanden, das auch in der Zukunft zu halten verspricht. Zum bemerkenswerten didaktischen Profil gehören regelmäßige Hausbesuche der Lehrer, die u. a. eine professionelle didaktische Bedingungsanalyse im Sinne einer fundierten Erhebung der jeweiligen soziokulturellen Voraussetzungen der Schüler erlauben und damit die Entwicklung passgenauer inhaltlicher und methodischer Unterrichtsangebote ermöglichen.
4. Professionalisierung / pädagogisches Personal
Im Idealfall sind Lehrer Experten für Unterricht, Erziehung, Beurteilung, Beratung und Schulentwicklung. Sie verfügen über fachliche, didaktische, methodische, diagnostische, kommunikative und organisatorische Kompetenzen. Sie sind hochbelastbar; sie verstehen sich als pädagogische Anwälte von Kindern und Jugendlichen, zeichnen sich durch ein hohes Berufsethos aus. Studium und Referendariat sollen dahingehend mit unterschiedlicher Gewichtung, aber letztlich gemeinsam sozialisieren. Ob das gelingt, ist umstritten. Die bisherigen Reformbemühungen haben nicht überzeugt. Die erste und zweite Phase der Lehrerbildung sind weiterhin konzeptionell und praktisch zu wenig aufeinander bezogen. Und die derzeitigen Ansätze, das zu ändern, verheißen keine Besserung. Wer beispielsweise die gegenwärtigen Bemühungen einer Umstellung der Lehramtsausbildung auf die gestufte Studienstruktur mit Bachelor- und Masterabschluss verfolgt, kann nur skeptisch sein. Bei dem zurzeit zu beobachtenden Wildwuchs in den Bundesländern zeichnen sich keine sachgerechten einvernehmlichen Lösungen ab. Die Qualifizierung von zukünftigen Lehrkräften für Koop-Klassen oder vergleichbare Profile ist dabei überhaupt kein Thema. Die früheren Koop-Lehrer mussten und die meisten der jetzigen Akteure müssen auf dem Wege des „learning by doing“ zurecht kommen.
Wie kommen wir bei Kooperation von Hochschule und Seminar weiter? Wohl nur mit kleinen Schritten. Aufgabe der Pädagogischen Hochschule ist es zunächst einmal, deutlich und regelmäßig über die Lehrertätigkeit in Kooperations-Klassen zu informieren und Studierende mit einer kompatiblen Lern- oder Berufsbiografie für diese Tätigkeit zu gewinnen, indem man sie u. a. bei der Wahl eines entsprechenden Studienschwerpunktes durch geeignete Studienangebote in Sozialpädagogik, Entwicklungs- und Kognitionspsychologie sowie in der Familientherapie unterstützt. Dies kann aufbauen auf der vorbildlichen praktischen Zusammenarbeit, die Karla Trimborn seitens der Hochschule mit der Freiburger Kooperationsklasse über die Jahre hinweg entwickelt hat und praktiziert. Immer wieder motiviert sie Lehramtsstudierende, Kontakte zur Kooperations-Klasse Freiburg aufzunehmen und die anspruchsvolle pädagogische Tätigkeit dort anzustreben. Darüber hinaus ist der entsprechende Ausbildungsverbund der Seminare für Didaktik und Lehrerbildung (GHS) Offenburg, Lörrach und Rottweil zu unterstützen; der bietet u. a mit Beteiligung des Bundesverbands Berufliche Qualifikation über eine modularisiertes Angebot überzeugenden Zuschnitts eine deutlich sozialpädagogisch gefärbte Zusatzqualifikation für Referendare an Hauptschulen mit besonderen Aufgabenstellungen an. Eine solche auf ein wichtiges innovatives Feld begrenzte Kooperation zwischen Seminaren und Hochschule ließe sich bei beiderseitigem guten Willen formalisieren und auf Dauer stellen.
Darüber hinaus sollte das wissenschaftliche Personal der Hochschule, überschaubare Forschungsprojekte zur Wirksamkeit der Koop-Klasse durchführen.
5. Vorbildlichkeit und Zukunft der Kooperations-Klasse
Die Kooperations-Klasse Freiburg ist ein überzeugendes Beispiel für pädagogische Innovationen und muss als Best-Practice-Beispiel gelten. Es bietet der gesamten Lehrerschaft eine grundsätzliche Orientierung, was den Umgang mit abschlussgefährdeten Schülern anbelangt, und gibt eine Fülle von Anregungen, die eigene Unterrichts- und Erziehungsarbeit auf diesem Feld zu überprüfen und zu verändern. Darin liegt neben seinem konkreten Erfolg der hauptsächliche Wert. Dieses Modell ist aber auf Grund seiner Einmaligkeit der personellen und situativen Bedingungen sowie des zwischen Freiheit und Bindung oszillierenden pädagogischen Zuschnitts weder in Teilen noch als Ganzes auf andere Bildungseinrichtungen umstandslos übertragbar. Sehr wohl kann es aber dazu anregen und dienen, eigene Schulkonzepte für Schüler mit Förderbedarf zu erarbeiten. Es sollte also in seiner Singularität akzeptiert werden. Bislang war das so. Jetzt soll sich das ändern: Man will die Kooperations-Klasse in veränderter Form als Regelangebot einrichten. Genauer: Die Anzahl der Standorte soll zum 1.8. mehr als verdreifacht und auf dann 171 erweitert werden. Ein Verordnungsentwurf des Kultusministeriums über die Ausbildung und Prüfung in Kooperationsklassen Hauptschule – Berufliche Schule sieht Entsprechendes vor. Die beabsichtigte Konfektionierung bringt konzeptionelle Änderungen mit sich, die konstitutive Merkmale des Freiburger Modells infrage stellen, beispielsweise die freiwillige Entscheidung der Schüler und ihrer Lehrer für die Koop-Klasse; die professionelle Auswahl der Schüler, die Selbstbewusstsein, Motivation und Identifikation schafft; die durchgehende Konzeption beider Schuljahre; den Lernortwechsel von der Hauptschule zur Berufsschule; den konsequenten Arbeitswelt- und Berufsbezug; die Stabilität der Lerngruppe über die gesamte Lernzeit hinweg und die Absage an einen Lehrerwechsel; die konsequente Einhaltung des Lernvertrags zwischen Eltern, Schülern und Lehrkräften sowie die gesicherte sozialpädagogische Betreuung und Begleitung. Neben konzeptionellen Veränderungen spielen wie meistens auch ungeklärte Ressourcenfragen eine erhebliche Rolle. Darauf haben jüngst Landkreistag und Städtetag Baden-Württemberg hingewiesen: Demnach ist bei der beabsichtigten flächendeckenden Lösung weder der zusätzliche Raum- noch der erweiterte Sachmittelbedarf ermittelt. Der zukünftige Klassenteiler, der auf Grund der besonderen Belastungen bereits jetzt zu hoch ist, bleibt offen. Und eine wünschenswerte Ausweitung der individuellen Förderung der Schüler kann bei einer unveränderten Deputats-Stunden-zuweisung nur zu Lasten des allgemeinen und fachlichen Bildungsbereichs gewährleistet werden. Um dies zu vermeiden, ist deren Erhöhung notwendig. Der Städtetag fordert klare Abstimmungen mit den Kommunalen Landesverbänden. Dazu heißt es unmissverständlich: „Das gilt insbesondere auch mit Blick auf die gegenwärtige Umbruchsituation bei den Hauptschulen, die zur Aufgabe von Schulstandorten und zu Schulzusammenschlüssen führen wird.“ In einer solchen Lage muss man darauf beharren, dass das Leuchtturmprojekt Kooperationsklasse Freiburg ungeschmälert und ungefährdet erhalten bleibt; es muss die Chance haben, seine erfolgreiche Arbeit auf der Grundlage seiner pädagogischen und didaktischen Kerne unbeirrt fortsetzen zu können – zum Nutzen seiner Schülerschaft. Die Jubilare haben unsere uneingeschränkte und entschiedene Unterstützung verdient. Auf die nächsten 10 Jahre Kooperations-Klasse Freiburg!
Wolfgang Schwark
(Der Verständlichkeit wegen und um die Vortragszeit in einem für die Hörerschaft zumutbaren Rahmen zu halten, wurde die männliche Sprachform gewählt. Frauen sind an den entsprechenden Stellen jeweils mit gemeint.)