StartseitePublikationenHiltrud HainmüllerWach werden – suchend auf dem Weg sein

Wach werden

Suchend auf dem Weg sein

Hiltrud Hainmüller

»Was Philosophie sei, das muß man versuchen. Dann ist Philosophie in eins der Versuch des lebendigen Gedankens und die Besinnung auf diese Gedanken (die Reflexion) oder das Tun und das Darüberreden. Aus dem eigenen Versuch heraus erst kann man wahrnehmen, was in der Welt als Philosophie uns begegnet.«[1]

»Ausgearbeitete Philosophie ist zwar an die Wissenschaften gebunden. Sie setzt die Wissenschaften in dem fortgeschrittenen Zustand voraus, den sie in dem jeweiligen Zeitalter erreicht haben. Aber der Sinn der Philosophie hat einen anderen Ursprung. Vor aller Wissenschaft tritt sie auf, wo Menschen wach werden.«[2]

Als ich diese Antworten von Karl Jaspers auf die Frage "Was ist Philosophie?" zum ersten Mal zu lesen bekam, war ich 16 Jahr alt und Schülerin in der Obersekunda. Ich wünschte mir damals wenigstens ein Unterrichtsfach, in welchem >wach werden< erwünscht gewesen wäre. Bis auf wenige Deutsch-, Geschichts- und Religionsstunden löste der Blitz >lebendiger Gedanken< eher Ängste beim Lehrpersonal aus. Was sich in das Unterrichtsgespräch nicht integrieren ließ, wurde tendenziell beiseite gewischt. Heute bin ich selbst Lehrerin, unterrichte das Fach Ethik, das es damals noch nicht gab, und überlege mir, wie ich dieses >Wachwerden< und den »Versuch des lebendigen Gedankens und die Besinnung auf diese Gedanken« bei Schülern fördern kann. »Wach werden« bedeutet etwas anderes als Wissensstoff anzuhäufen und zu reproduzieren. Mit Schülern den eigenen Versuch wagen, der den Boden bereitet für ein tieferes Verständnis dessen, »was in der Welt als Philosophie uns begegnet«, hat mich dazu veranlaßt, einen methodischen Weg zu suchen, der diesen Prozeß befördert im Sinne der drei Regeln Kants für das Philosophieren: »1. Selbst denken, 2. Sich in die Stelle jedes anderen denken, 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken«.[3]

Die folgenden drei Beispiele können in verschiedene Unterrichtseinheiten eingebaut werden. Sie haben exemplarischen Charakter.

1. Bildarbeit, kreatives Schreiben und Gedankenexperiment - Von Werten, Normen und goldenen Regeln

Der Einstieg erfolgt über eine freie Assoziation zu den Begriffen >Werte< und >Normen<. Welche Eindrücke lösen sie aus? - Verfall, Orientierung, Spaßgesellschaft... ? oder: Grau, Zwang, Langeweile, Pflicht... ? oder: Tugend, Sittenkodex, Moral... ? oder: immer mehr vom selben - das ewig Gestrige? Ich lege den Schülern eine Bildfolie von Pip Wilsons Blob-Baum auf, mit der wir uns suchend auf den Weg begeben.

Quelle: Pip Wilson: in: Big Book of Blobs by Pip Wilson, Ian Long (2008)

  • Mögliche Fragen zum Bild: Wie viele Figuren sind auf dem Bild erkennbar? (Einige Figuren müssen erst entdeckt werden).
  • Wie geht es auf diesem Baum zu?
  • Welche Situationen werden dargestellt, welches Verhalten äußert sich?
  • Welchen Titel könnte man dem Bild geben? (Schülervorschläge: Der Chaos-Baum, die Hoschi-Familie, Lebensbaum).

Danach folgt eine Einzelarbeit mit anschließendem Auswertungsgespräch: 
Suche dir zwei Situationen des Bildes heraus: eine, in der du dich wohlfühlst (1), und eine, die dich an eine eher unangenehme Situationen erinnert (2). 

An welcher Stelle möchtest du dich auf gar keinen Fall befinden? Gibt es Parallelen zwischen unserer Gesellschaft und dem Baum? An das Unterrichtsgespräch schließt sich die Hausaufgabe an: Verfassen einer Geschichte mit Vorgaben. Diese sind: Die Geschichte kann in der ersten oder dritten Person geschrieben werden. Sie kann von einer oder mehreren Figuren handeln, die sich auf dem Baum befinden. Sie kann davon handeln, wie die Figuren in die jeweilige Position auf dem Baum gekommen sind, wie sie sich dort fühlen und was sich vermutlich künftig mit ihnen ereignen wird. Die Schüler erhalten so die Möglichkeit, durch das Schreiben der Geschichte die eigene Phantasien zu entwickeln. Das gilt für Vorlieben gleichermaßen wie für Haßobjekte. Sie können sich erinnern, kritisieren, verwerfen, die Zukunft projektieren. Sie können eigene Verwicklungen gestalten, aber auch distanziert und reflektiert Stellung beziehen. 

Das folgende Beispiel eines Aufsatzes stammt aus der Geschichtensammlung einer 12. Klasse eines beruflichen Gymnasiums.

Baumstadt oder der Fall (Zeitungsartikel aus dem Borkenkäferblatt):

Der Sportladenbesitzer Rinde starb gestern ganz unerwartet. Für die einen war er eine offene, freundliche Person, für die anderen war er ein kalter berechnender Geschäftsmann. Er war der Gründer der >Wurzelhilfe<, die sich um die armen Leute in den Wurzeln kümmerten. Er kaufte aber auch rigoros die Konkurrenz auf oder er machte sie durch Billigangebote fertig. Seine letzten Gedanken: Hepp, ooohhh man, was für ein Feeling! - Irgendwas hab ich vergessen? Na egal. Als ich noch klein war, habe ich mir immer so etwas gewünscht. Mama und Papa waren ziemlich streng, und das hätte ich sowieso nicht bekommen, zu gefährlich. Pah, jetzt hab ich schnelle Autos, eine Baumkronenvilla und einen privaten Rindenaufzug. - Was war das nur? Meine Eltern wollten unbedingt, daß ich Arzt, Lehrer oder Professor werde. Sie verplanten meine gesamte Zukunft. Das schlimmste war ja, daß ich eine reiche Tochter aus dem Nachbarbaum heiraten sollte, die sie für mich ausgesucht hatten. Tja, auf mysteriöse Weise starb sie vorher. So ist das Leben. - Was hab ich vergessen? Naja, ich studierte nach der Baumschule auf der Astuni Waldwirtschaft und Sumpfpolitikwissenschaft. - Was war das gleich? Mit dem Erbe meiner Eltern, sie starben bei einem Wurzelbrand, fing ich mit einem kleinem Sportladen an. Ich begann eine Ladenkette aufzubauen und weitete sie auf den gesamten Wohnwald aus. Jetzt hab ich fast die gesamte Konkurrenz durch niedrige Preise ruiniert und aufgekauft. Ich habe Topqualität zu Spitzenpreisen. Ich finde halt: Jeder sollte sich was leisten können, ohne gleich ein Vermögen ausgeben zu müssen. - Ach, was war das nur? Eines Abends traf ich meine Frau. Wir verliebten uns und haben geheiratet. Meine 2 Söhne und meine Tochter werden das alles erben, wenn sie das überhaupt haben wollen. Wenn nicht, hmm, vielleicht verschenk ich es auch an einen mittellosen Urwald oder so. Ich bin sehr glücklich mit meiner Familie, aber ich will sie zu nichts zwingen. Manchmal kracht es, aber wir vertragen uns sehr schnell wieder. Mein Gedächtnis war nie meine Stärke. - Was war das nur? Ich teste meine Artikel oder lasse sie testen, damit die Qualität nicht sinkt. Das ist oft das Problem mit den Lieferanten, sie machen Sachen kaputt oder wollen dich bescheißen. Heute teste ich unsere Bungee-jumping-Artikel. Ach, jetzt weiß ich's: Ich hab das Seil vergessen! (Wolfgang Haberl, 17 Jahre) 

Die Schüler dieser Klasse haben alle mit viel Engagement an ihrer Geschichte geschrieben. Die Geschichten wurden einzeln vorgetragen und anschließend für alle als Heft zusammengestellt. Die Analyse der Geschichten ergab, daß die meisten Schüler die Erwachsenenwelt dann ablehnen, wenn sie den Eindruck haben, daß bei Erwachsenen die Konsum-und Leistungsorientierung im Vordergrund steht und Erfolgsdenken und Ellenbogenverhalten auf Kosten menschlicher Beziehungen ausgelebt werden. Situationen der Hilflosigkeit und der seelischen Verzweiflung, Gefühle des Ausgeschlossenseins, der Aggression oder Wut ließen Spannungszustände deutlich werden. Aber auch >Alternativbäume< und positive Bewältigungsstrategien von unangenehmen Situationen wurden >phantasiert<. Die Arbeit mit den Bildern wurde auch in einer 9. Hauptschulklasse sowie einer zweijährigen Berufsschulklasse im Ethikunterricht durchgeführt. In dieser Altersstufe schrieben die Schüler häufig >Reisegeschichten< - entsprechend der eigenen Aufbruchsstimmung der Pubertät. In einer reinen Jungenklasse wurden auch Gewaltphantasien erkennbar, wobei sich diese Geschichten auf die Männchen mit Axt und Säge (vom einem Schüler >Psycho< und >Amok< genannt) bezogen. Eine stark vergrößerte Kopie des Baums, in Gruppenarbeit bunt angemalt und mitsamt den Geschichten auf einer große Wandzeitung veröffentlicht, stieß auf reges Interesse der Schulgemeinde. Der Lehrer erhält über diese Geschichten einen guten Einblick in das, was den Schülern auf den Nägeln brennt und Gegenstand weiterer Unterrichtsstunden werden kann. 

Eine mögliche Ergänzung und Vertiefung für den Ethikunterricht bietet sich in verschiedene Richtungen an. Zum einen kann die individualethische Fragestellung zum »Gebrauch der eigenen Freiheit« beleuchtet werden mit dem Text von Fernando Savater, >Mach dir ein schönes Leben<.[4] Zum anderen kann das gesellschaftliche Spannungsfeld in den Blick genommen werden. Zum Thema >Recht und Gerechtigkeit< kann eine Fortführung erfolgen zu Rawls' Theorie >Gerechtigkeit als Fairness<, indem als Ergänzung zum Baumbild Rawls' Gedankenexperiment vom >Schleier des Nichtwissens< durchgespielt wird.[5] In Gruppen erstellen Schüler eigene Verfassungen für ihre Insel.

II. Der >sokratische Dialog< - Denk- und Kommunikationsübung zugleich

Der >sokratische Dialog< wird in der Didaktik der Philosophie viel diskutiert als eine Methode, sich selbst zu erkennen oder der Wahrheit und der Erkenntnis bestimmter Sachverhalte näherzukommen. Ausgangspunkt des Gesprächs ist häufig die Was-ist-Frage. Bei dem Versuch einer Definition wird der Dialogpartner durch neue Fragen ins Nachdenken gebracht. Scheinbar selbstverständliche Wahrheiten werden in Frage gestellt, der Gesprächspartner wird in Widersprüche verwickelt oder sprachlos gemacht, indem durch neue Argumente weitere Gedankenanstöße erfolgen, die zu erweiterter Erkenntnis führen. Am Ende sind beide Partner etwas schlauer als zuvor - jedoch der Aporie ihres Wissens immer eingedenk. Regeln, an die sich beide halten sollten: der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein und »dem Guten« in Gedanken und Tat - so wie es einem »das Daimonion eingibt«.

In diesem Sinne kann der >sokratische Dialog< als Vorbild dienen für eine Art der Gesprächsführung, die auch für Schüler von Interesse ist, wenn es um die Klärung von für sie wesentlichen Fragestellungen geht. Die Kritik an den sokratischen Dialogen besteht aus heutiger Sicht darin, daß in einigen Überlieferungen der Dialogpartner zum Jasager degradiert wird und die Asymmetrie dieses Gesprächs störend wirkt. In den selbstverfaßten Dialogen sollten sich die Dialogpartner als gleichwertig gegenüberstehen. Bevor ich beginne, einige Dialoge im Unterricht zu erarbeiten, lasse ich die Schüler klären, was sie unter einem >anregenden, guten Gespräch< verstehen, das sich vom Small-Talk, Tratsch und Klatsch oder Gelaber unterscheidet. Auch Regeln, die in einem solchen Gespräch Beachtung finden sollen, werden aufgestellt (zuhören können, ausreden lassen, nicht zu weit abschweifen, keine grobschlächtigen Sophistereien, keine Schuldzuweisungen usw.). Leider sind nicht alle sokratischen Dialoge gleichermaßen geeignet und fesselnd für Schüler.

Ich bevorzuge für den Unterricht folgende Dialoge: Was ist Tapferkeit? (aus dem Laches [6]); allerdings muß dabei die historische Situation und die Bedeutung verschiedener Kampfsportarten im antiken Griechenland behandelt werden, was Jungen besonders interessiert. Ein weiterer möglicher Dialog findet sich bei Platon, das Gespräch mit Thaitet über die Frage des Verhältnisses zwischen Wahrnehmen und Erkennen [7]. Der dritte Dialog ist Platons Philebos entnommen: Die Lust das einzige Gut? [8] Manchmal ziehe ich Dialoge von De Crescenzo hinzu, z.B. den Dialog: Sokrates und die Stoßstange [9], um zu zeigen, wie auch zeitgenössische Philosophen einen kreativen Umgang mit dem Gedankengut ihrer antiken Vorbilder pflegen. Nachdem die Dialoge nach den oben genannten Kriterien analysiert wurden, erhalten die Schüler die Aufgabe, selbst Dialoge zu schreiben - und zwar zu zweit.

2. Schreibversuche - ein Klausurexperiment zu zweit

Diese Aufgabe kann nach Übung auch als Klausurthema gestellt werden, wobei ich dann zur Wahl stelle, ob der Dialog zu zweit geschrieben wird (dann gibt es für beide Schüler für den Dialogteil eine Einheitsnote) oder ob der einzelne alleine schreiben möchte. Folgendes Thema wurde einer Klasse 12 angeboten:

  • Analysieren Sie den Dialog des Sokrates mit Protarchos »Die Lust das einzige Gut?« und zeigen Sie daran das Besondere der sokratischen Methode. Überlegen Sie folgende Fragen:
    1. Wodurch wird Protarchos sprachlos gemacht?
    2. Welche Bedeutung haben für Sokrates Gedächtnis, Vernunft, Wissen und wahres Urteil im menschlichen Leben?
    3. Was wird im sokratischen Dialog unter >Hebammenkunst< verstanden?
  • Von den nächsten Aufgaben können Sie sich je eine zur Erarbeitung auswählen und dabei versuchen, die sokratische Methode selbst anzuwenden. Sie können diese Aufgabe auch zu zweit durchführen: 
    1. Entwerfen Sie einen Dialog zwischen zwei Freunden zum Thema: Was ist Freundschaft?
    2. Entwerfen Sie einen Dialog zwischen einem Lehrer und einem Schüler zur Frage: Was ist ein gerechter Lehrer?
    3. Lesen Sie »Die Erlebnismaschine“ von R. Nozick[10]. Entwickeln Sie anschließend einen Dialog, in dem eine Person auftritt, die ganz begeistert davon ist, sich an die Maschine anschließen zu lassen, und eine weitere, die den Gegenpart einnimmt und ihr Gegenüber vom Anschluß an die Maschine abhalten möchte.[11]

Von den Schülern wurden alle drei Themen gewählt. Fast alle Schüler haben zu zweit geschrieben. Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Hier ein Beispiel:

Die Lust das einzige Gut? - oder: Wenn Sokrates ein Schlammbad nimmt...

(Sokrates im Gespräch mit seinem Sklaven Ewald)

Ewald: Hallo, Sokrates! Hast du schon von der neuen Erlebnismaschine gehört?
Sokrates: Ja, warum?
Ewald: Ich finde diese Maschine ganz toll und denke daran, mich anschließen zu lassen.
Sokrates (steigt aus seinem Schlammbad): Was könnte angenehmer sein als ein Schlammbad! Ach, Ewald, auch du möchtest dich an diese Maschine anschließen lassen?
Ewald: Ja!
Sokrates: Was erhoffst du dir davon?
Ewald (wischt Sokrates den Schlamm vom Rücken): Ich finde es toll, daß man mit dieser Maschine nur noch schöne Gefühle und Erlebnisse haben kann, also nie wieder Angst, Trauer und schlechte Erlebnisse. Ist doch super, oder?
Sokrates (läßt sich von Ewald die Sandalen zuschnallen): Wenn du doch nur noch in diesem Becken liegst, hast du doch keine Freunde mehr.
Ewald (richtet Sokrates die Haare): Aber auch dieses Gefühl, Freunde zu haben, kann man dort einprogrammieren.
Sokrates: Was wären das für Freunde? Ohne echte Freunde verlierst du alle sozialen Kontakte, du verlernst die Kommunikation, und dein gesamtes Wissen wird überflüssig.
Ewald (beginnt, Sokrates' Strümpfe zu stopfen): Das gebe ich gerne auf für ein Leben voller Freude!
Sokrates (streift seinen Mantel aus einem alten Sack über): Doch kann es befriedigend sein, das eigene Wissen nicht zu erweitern und keine Fehler mehr zu machen, aus denen man lernt? Also würdest du auch die Vernunft aufgeben, die dich zu wahren Erkenntnissen führen könnte?
Ewald: Ja, denn ich wäre glücklich und zufrieden.
Sokrates: Aber entsteht Zufriedenheit nicht aus individuellen Erlebnissen? Empfinden Menschen alle Gefühle gleich? Wäre Ewald dann noch Ewald?
Ewald (sticht sich an der Nadel): Durchaus nicht!
Sokrates (reicht ihm ein Pflaster): In diesem Becken hättest du keine eigene Meinung mehr und du würdest nie richtig frei sein.
Ewald: Das wäre durchaus ein Punkt, über den man nachdenken müßte.
Sokrates: Und was wäre, wenn alle Menschen angeschlossen wären und die Maschine plötzlich ausfallen würde? Würde nicht Chaos unter den Menschen ausbrechen, weil sie verlernt haben, zusammenzuleben und Kompromisse zu schließen, hätten sie nicht jede einfache Tätigkeit verlernt, könnten sie dann überleben?
Ewald: Oh, Sokrates, du sprichst wie immer ziemlich klug! Ich glaube, ich muß meine innere Stimme befragen, ob es wirklich richtig wäre, mich anschließen zu lassen.

(Schüleraufsatz von Sophie u. Julia Bohlanz, Kl. 12, Merianschule Freiburg).

Was den Menschen zum Menschen macht - zum Personbegriff

Eine Vertiefung der eigenen Denkleistung kann erfolgen, indem die Dialoge der Schüler insgesamt ausgewertet werden. Mir fiel auf, daß sich anhand der Schülerdialoge zu Nozicks Erlebnismaschine der >Personbegriff< erarbeiten ließe, der im weiteren Oberstufenunterricht relevant wird, wenn es um die Menschenwürde geht. Die einzelnen Dialoge wurden entlang der Aussagen zum >Menschsein< ausgewertet und mit der Antwort von Nozick verglichen. Die Schüler waren erstaunt, daß sie insgesamt noch mehr Argumente als Nozick gefunden hatten. Es ergab sich folgende Zusammenstellung zum Personbegriff:

  • Fähigkeit zur Kommunikation,
  • freier Wille,
  • freie Entscheidung,
  • Individualität der Gefühle,
  • eigene Denkfähigkeit,
  • Mensch als soziales Wesen,
  • Selbständigkeit,
  • Überlebenswillen,
  • Erinnerungsfähigkeit,
  • Mensch als bedeutungsstiftendes Wesen, das den Dingen einen Sinn gibt.

Vor diesem Hintergrund war ein Anknüpfen an die Diskussion um die Menschenwürde, wie sie im Zusammenhang von >Ethik in der Medizin< geführt wird, gegeben. Aus dem Band >Ethisch argumentieren< wurden ergänzend folgende Texte durchgearbeitet: »Die Begriffe >Mensch< und >Person< gehören zusammen«[12] und »Zum Begriff der Würde des Menschen: Dogma statt Ratio?«[13] sowie der Schluß: »Dialog zwischen einem Kantianer und Utilitaristen über Embryonenforschung«[14]

Hier finden die Schüler die selbst erarbeiteten Kategorien in einem neuen Zusammenhang wieder und können mit dem so erworbenen Vorverständnis eine recht abstrakt geführt Debatte leichter nachvollziehen. 

III. Freies Philosophieren - individuelle Zugänge zu Texten und Bildern 

Schüler besitzen unterschiedliche Zugänge zu unterschiedlichen Themen. Ich konnte beobachten, da Jungen häufiger Interesse an erkenntnistheoretische Themen zeigten, während Mädchen sich lieber mit Fragen der Persönlichkeitsentwicklung auseinandersetzten. Auch die Fähigkeit und das Interesse an abstraktem Denken sind in den Klassen 11/12 sehr unterschiedlich ausgeprägt: Einige Schüler verfügen bereits über ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit und differenziertem Argumentationsvermögen, andere werden eher durch Geschichten oder Bilder zum Nachdenken angeregt. Um möglichst viele Schüler am Geschehen im Ethikunterricht zu beteiligen und den Schülern die Möglichkeit des Austauschs über das, was jeder Einzelne denkt, zu geben, habe ich zu Beginn von Klasse 12 folgende Aufgabe gestellt:

Jeder sucht sich aus den drei Bänden von Gabriel Münnix[15] und den Unterrichtsmaterialien »Eine Persönlichkeit sein«[16] einen Text oder ein Bild heraus, zu dem er eine eigene kleine Arbeit verfaßt. Die Vorgaben waren: Wiedergabe des Textes oder Beschreibung des Bildes, mögliche Standortbestimmung des Autors (auch Beschäftigung mit der Biographie, zeit- liche Einordnung) und/oder eigene Reflexion über die individuelle Bedeutungsebene des Textes.

Auch hier ein Beispiel einer Schülerarbeit zu Friedrich Nietzsche »Jeder ist sich selbst der Fernste«. Die Schülerin hatte ihre Arbeit graphisch ausgestaltet, indem sie für die lexikalischen Teile - eine andere Farbe und Schrift gewählt hatte. 

Was, wer, wie bin ich? Die Frage nach dem WAS! Was bin ich? - die erste Antwort:ein Mensch, lat. Homo durch aufrechten Gang, steile Stirn, Herstellung von Gebrauchs- und Kulturgegenständen und durch Überlieferung erworbene Erfahrung durch Sprache und Schriftzeichen gekennzeichnet. Das bin ich also? Doch woher kommen meine Gedanken? Warum bin ich anders, in meinem Aussehen und meiner Charakter als die anderen Menschen? Warum unterscheidet sich jeder Mensch von dem anderen? Das Lexikon konnte meine Frage nach dem WAS nicht beantworten, vielleicht versuche ich es selbst einmal: Also, ich bin ein Mensch mit den oben genannten Eigenschaften zuzüglich eigenem Aussehen und Charakter. Wie sich Aussehen definiert, ist klar, mein Erscheinungsbild. Aber der Charakter? Eine bestimmte geistige Prägung und Haltung des Menschen. Also Prägung: Ich wurde von meiner Erziehung und durch meine Erfahrungen damit geprägt. Nur, wie kommt das jetzt zum Ausdruck und was und wer hat mich genau geprägt, daß ich zu dem geworden bin, was ich bin? Wieder die Frage nach dem WAS! Vielleicht sollte ich erst mal mit dem WER weitermachen. Wer bin ich? Ich bin S„ so genannt nach dem Wunsch meiner Eltern, 168 cm groß, blondes Haar, braune Augen. Das ist mein Aussehen! Und mein >Ich<, WER ist das? Was ich von mir denke, ist, daß ich glaube, ein Mensch von der >guten Sorte< zu sein, obwohl ich manchmal ziemlich böse sein kann, wenn ich schlecht gelaunt bin. Was bringt mich dazu, schlecht gelaunt zu sein? Meine Angst, genau! Manchmal denke ich, ich bin paranoid. Ich habe Angst, alleine zu sein, Angst, alleine gelassen zu werden, Angst, daß mich alle hassen, Angst, häßlich zu sein oder als komisch angesehen zu werden, Angst zu versagen, Angst, nichts hinzukriegen, Angst, die Erwartungen meiner Eltern, Lehrer, Freunde nicht zu erfüllen, Angst vor dem Alter, Angst, mich zwischen all den Erwartungen, die ich selbst an mich stelle, zu verlieren!Nur, habe ich mich überhaupt? Wie kann ich mich verlieren, wenn ich nicht einmal das WAS, geschweige denn das WER beantworten kann? Ich weiß zwar, wer S. ist, meine Freundin, wer sie für mich ist zumindest. WER sie wirklich ist, also was hinter ihrer hübschen, verrückten Fassade steckt, weiß nur sie, oder auch nicht, so wie ich. Auf jeden Fall habe ich kein Problem, sie irgendwo einzuordnen, auch wenn ich sie immer öfter irgendwo anders hinstecken muß, es sind halt die anderen Menschen. Doch wieder zurück zu mir, nach dem ich ja versuche zu suchen. Aber warum denn überhaupt suchen? Vielleicht gibt es da ja gar nichts, nach dem ich suchen kann, das Schöne, das ich erwarte zu finden, nämlich: ICH. Vielleicht sollte ich auch erst noch das WIE untersuchen, wie wirke ich auf andere Menschen? Auch das wird wieder schwer, weil es mir niemand wirklich sagt. Ich weiß, daß ich von einigen gemocht werde, ja, ich denke sogar, daß mich mehr Menschen mögen als hassen; aber: was mögen, was hassen sie an mir? Manche sagen, ich würde oft die Sachen falsch verstehen und dann ausfällig werden; jemand hat sogar schon meine Angst erkannt, manche meinen, mein Lachen sei ansteckend, und andere wiederum meinen, ich würde lachen wie eine Hyäne. Bin ich also eine falsch verstandene, angsthabende Hyäneanstecklacherin? Ich hoffe es nicht, oder ich bin es nicht nur. Aber WAS bin ich dann? WIE bin ich? WER bin ich? Nietzsche sagt, jeder ist sich selbst am fernsten, da hat er verdammt recht! Aber macht er es sich nicht zu einfach zu sagen, wir wüßten nicht, wer wir sind, weil wir nicht danach suchen? Was versuchte ich denn gerade? Er hat sicherlich recht, wenn er sagt, daß die Uhr 12 schlägt und gegen unser Ohr knallt und uns aufweckt und wir uns wundern, nichts vom Leben und den Erlebnissen mitbekommen zu haben. Ich habe mich selbst vorhin gefragt, WER und WAS hat mich geprägt, also: was ist passiert? Ich habe in meiner Kindheit nicht gefragt, aber jetzt will ich es wissen, und nicht aufgeben, danach zu suchen.Ein Satz gefällt mir aus Nietzsches Text besonders gut: »Wo euer Schatz ist, dort ist euer Herz, unser Schatz ist, wo die Bienenkörbe unserer Erkenntnis stehen«. Sind wir nicht Homos, durch Herstellung von Gebrauchsgegenständen gekennzeichnet, also auch zum Ernten unserer Bienenkörbe, um uns dann an dem Honig unserer Erkenntnis zu erlaben? Ich werde nicht aufhören, Fragen zu stellen, auch wenn ich nur einen Bruchteil und dann auch nur die banalsten beantworten kann. Die Fragen führen mich zu Fragen und manche geben mir Antwort und manche nicht, aber ICH bin ICH! Und ich merke schon, wie ich weniger Angst habe.

(Saskia Bitsch, Kl. 12, Merianschule Freiburg).

Die Arbeiten der gesamten Klasse bildeten einen bunten Strauß von Themen, die sich einzelnen Themen der Unterrichtseinheiten für die Oberstufe zuordnen ließen. Der Text von Saskia wurde behandelt im Zusammenhang mit dem Thema >Anthropologie und Ethik<, wobei die Verwandtschaft zwischen Psychologie und Philosophie herausgearbeitet wurde. Psychologische und philosophische Betrachtungen des Menschen konnten hier als gegenseitige Ergänzungen begriffen werden. Es ist offensichtlich, daß der Leser, der sich durch den Text von Saskia berühren läßt, feststellen wird, daß Reflexionen dieser Art auch ein Teil des Prozesses sind, den wir mit >Selbstwerdung< bezeichnen.

Mit Jaspers' Forderung nach Zugänglichkeit der Philosophie für jedermann habe ich meinen Artikel begonnen, mit seiner zusammenfassenden Betrachtung zur Frage, worin der Sinn des Philosophierens denn besteht, möchte ich schließen.»Ihr Sinn sei: - die Wirklichkeit im Ursprung erblicken, - die Wirklichkeit ergreifen durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe, im inneren Handeln,- uns aufschließen für die Weite des Umgreifenden,- Kommunikation von Mensch zu Mensch durch jeden Sinn von Wahrheit im liebenden Kampfe wagen, - Vernunft noch vor dem Fremdesten und vor dem Versagenden geduldig und unablässig wach erhalten. Philosophie ist das Konzentrierende, wodurch der Mensch er selbst wird, indem er der Wirklichkeit teilhaftig wird.«[17]


Anmerkungen

[1] Karl ]aspers, Einführung in die Philosophie, München 1971, S. 13
[2] A.a.O. S. 10
[3] Michael Wittschier: Erkenne dich selbst. Abenteuer Philosophie, Düsseldorf 1994, S.30
[4] Fernando Savater, Ethik für Erwachsene von morgen, Bonn 1996, S. 57.
[5] Es findet sich in: Hans-Ludwig Freese, Abenteuer im Kopf, Berlin 1996, S. 239.
[6] Z.B. in: W. Schwoerbel/H. Frericks/W. Vollmar (Hrsg.), Ethik 1 (Klasse 11), Köln/München 1987,S. 28.
[7] Z.B. in: Wittschier, siehe Anm. 3, S. 46.
[8] Z.B. in: Freese, siehe Anm. 5, S. 286.
[9] Luciano De Crescenzo, Oi diologoi. Von der Kunst miteinander zu reden, Zürich 1989, S. 73-87.
[10] Z.B. in: Freese, siehe Anm. 5, S. 289.
[11] Der Text >Die Erlebnismaschine< besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil, dem Gedankenexperiment, wird die Frage gestellt, ob es attraktiv erscheint, ein Jahr lang in ein Bassin abzutauchen und sich während dessen an eine Erlebnismaschine anschließen zu lassen, durch die man dann das Programm erleben kann, das zuvor in einem Katalog ausgesucht wurde - lustvolle schöne Gefühle inbegriffen. Im zweiten Teil gibt Nozick seine eigene Antwort. Für die Klausur wird nur der erste Teil des Textes vorgelegt; die Antwort wird in die Nachbesprechung einbezogen.
[12] Volker Pfeifer, Ethisch Argumentieren, Bühl, 1997, S. 203.
[13] A.a.O. S. 229 ff.
[14] A.a. O. S. 233 ff.
[15] Gabriele Münnix, Wirklich?, Leipzig 1997; - dies., Menschlich?, Leipzig 1997; - dies., Nirgendwo?, Leipzig 1997
[16] Hiltrud Hainmüller, Lebensfragen: Eine Persönlichkeit sein, Mülheim 1998.
[17] ]aspers, siehe Anm. 1, S. 14.