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Aufeinander achten - sich umeinander kümmern

Gedanken zu einer Ethik der Bezogenheit - Sekundarstufe II

Hiltrud Hainmüller

Seltsam genug

Ein Mensch erlebt den krassen Fall,
Es menschelt deutlich überall -
Und trotzdem merkt man, weit und breit
Oft nicht die Spur von Menschlichkeit.

(Eugen Roth, Von Mensch zu Mensch, Kaiser Verlag, Klagenfurt, S. 29)

Pointiert formuliert Eugen Roth in seinem kleinen Gedicht eine Paradoxie, die spezifisch für uns Menschen zu sein scheint. Diese Paradoxie ist wie eine harte Nuss, an der sich die Verfechter traditioneller normativer Ethiken die Zähne ausbeißen, ohne sie je geknackt zu haben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Ruf nach einer Ethik laut wurde, die versucht, dieser  Widersprüchlichkeit Rechnung zu tragen, zu zeigen, wie wir als Menschen trotz und mit dieser Widersprüchlichkeit gut leben und einen »menschlichen« Umgang miteinander entwickeln können. Es sind vor allem Wissenschaftlerinnen aus feministischen Kreisen, die Ansätze für eine neue Ethik entwickelt haben, die in die Literatur unter dem Namen »Care-Ethik«, »Ethik der Achtsamkeit« oder »Fürsorgeethik« eingegangen ist.[1]

In eine ähnliche Richtung - allerdings mit anderen Schwerpunkten - gehen Überlegungen aus der Soziologie und Sozialpsychologie, wonach das Prinzip »Anerkennung« als leitende Maxime für eine zeitgemäße Ethik gefordert wird. Insgesamt  korrespondieren diese Richtungen mit den Forschungsergebnissen der Neurobiologie, wie sie zum Beispiel in den Werken von Joachim Bauer dargelegt wurden.[2] Danach ist der Mensch ein »Beziehungstier«, das auf gute Beziehungen existenziell angewiesen ist und danach strebt, diese herzustellen und zu sichern, wobei er wegen seiner Spiegelneuronen in der Lage ist, Empathie zu empfinden, auf diesem Weg auch die Bedürfnisse der Mitmenschen wahrzunehmen, mit den jeweils eigenen abzugleichen und in Übereinstimmung zu bringen. Der klassische Dualismus: hier Gefühl - da Verstand, gepaart mit Vernunft - hat sich als irreführend erwiesen.

Vielmehr wird vom Potenzial emotionaler Intelligenz ausgegangen, die es zu fördern gilt, wenn es um den gedeihlichen Umgang miteinander geht. Alle diese Ansätze sind durch wissenschaftliche Arbeiten noch wenig miteinander in Verbindung gebracht worden, obwohl die Zusammenhänge evident sind. Auch wenn ich jetzt mit den einschlägigen Begriffen operiere, ist es eigentlich unangemessen von der Care-Ethik oder der Anerkennungsethik zu sprechen, da keine Theorieentwürfe vorliegen, die gemeinsam von allen hier genannten Autorinnen und Autoren getragen würden. Dennoch ist diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie einen anderen Blick auf den Menschen werfen, von anderen anthropologischen Grundannahmen ausgehen und eine Ethik entwickeln, nach der es als geradezu unmoralisch gilt, Gefühle, Körper, Beziehungsstile und –kulturen nicht zu berücksichtigen. Dreh- und Angelpunkt der Care-Ethik, wie sie beispielsweise von Elisabeth Conradi entwickelt wurde, sind die  anthropologischen Grundbedingungen, die unser Menschsein bis heute bestimmen und die in der Evolution eine herausragende Rolle gespielt haben: Menschen sind aufeinander angewiesen; sie leben in einem asymmetrischen Beziehungsgeflecht und bedürfen der Zuwendung in je unterschiedlicher Art und Weise; darüber hinaus sind Menschen verschieden und entsprechend »unterschiedlich autonom«, das heißt, sie verfügen in unterschiedlicher Weise über Fähigkeiten und befinden sich in unterschiedlichen Abhängigkeiten.

Alle Menschen sind, so gesehen, bedürftig und benötigen in vielen Phasen und Bereichen ihres Lebens Hilfe und Zuwendung von anderen in unterschiedlichem Maße - ohne diese Hilfe und Zuwendung ist kein Leben und Überleben möglich. Das hört sich zunächst selbstverständlich an, und einige werden verwundert fragen, was daran »neu« sein soll. Treffend bemerkt dazu in einer Buchrezension kurz nach dem Erscheinen von Conradis Veröffentlichung Hermann-Josef Große Kracht: Vor diesem Hintergrund kritisiert Conradi nahezu sämtliche Basisannahmen der »bisherigen« neuzeitlichen Ethiken, da diese im Kern auf individualistischen Konzeptionen eines »bindungslosen Subjekts« und einer künstlichen Trennung von Theorie und Praxis, von Vernunft und Sinnlichkeit beruhen, mit Urzustandfiktionen,  Gleichheitsunterstellungen, Verallgemeinerungsverfahren, rationalem Diskurs, Reziprozitätsprinzipien, Verallgemeinerungsverfahren, abstraktem Perspektivtausch, rationalem Diskurs ect. arbeiten und auf einer theoretisch-abstrakten Differenzierung bestehen zwischen einer für alle verpflichtende Minimalmoral als »Rechtspflicht« und einer darüber hinausgehenden, nicht erzwingbaren »Surplus-Moral« individueller »Liebespflichten «, bzw. nicht verpflichtender altruistischer »Wohltätigkeit«.[3]

Mit all diesen Ethiken wird der Oberstufenschüler in der Regel vertraut gemacht. Er kennt sie unter dem Namen deontologische Ethik, Utilitarismus, Diskursethik oder Gerechtigkeitsethik, er verbindet sie mit den Namen Kant, Habermas, Bentham Mill, Hoerster, Rawls usw. Die Care-Ethik hingegen führt in den Lehrplänen ein Schattendasein. Entweder wird sie überhaupt nicht erwähnt oder unter die Rubrik »Gefühlsethiken« subsummiert - eine Kategorisierung, der die Vorstellung von der alten, längst überholte Trennung von Gefühl und beurteilender Vernunft zugrunde liegt.[4] Deshalb ist es an der Zeit, diese Kritik an den Basisannahmen herkömmlicher Ethiken sowohl im Hinblick auf die Theorie als auch auf praktische Beispiele bezogen zu entwickeln. Benhabib trifft durch ihre kritische Hobbeslektüre anschaulich den Nagel auf den Kopf. Die Unterstellung menschlicher Autonomie - wie sie allen Gerechtigkeitsethiken, die auf der Naturrechtsvorstellung gründen, gemeinsam ist - erweist sich als fragwürdig (M 1, M 2). Auch kann eine Ethik, die sich auf Reziprozität und Gleichheit gründet, moralische Fragen nach dem Miteinander in asymmetrischen Strukturen des Aufeinander-angewiesen-Seins nicht befriedigend beantworten.

Menschen leben sowohl in symmetrischen als auch asymmetrischen Beziehungen. Sie sind aufeinander angewiesen, und Geben und Nehmen stehen dabei oft keineswegs im Verhältnis der Gegenseitigkeit. So ist beispielsweise ein kranker Schüler auf die Hilfe von Mitschülern angewiesen, die ihn besuchen, ihm die Aufgaben bringen, ihn trösten usw., ohne dass er dafür eine »Gegenleistung« erbringt. Seine Anerkennung wird man an der positiven Resonanz erspüren, die sich in seinem Dank ausdrückt (s. M 3). Ein Mobbing-Opfer in einer Schulklasse ist häufig in einer schwächeren, benachteiligten Position - es ist eben nicht Gleicher und Gleichen. Viele Schulen bieten inzwischen für Eltern, Schüler und Lehrer Streitschlichter-Kurse, Vorträge und Fortbildungen zur Prävention von Gewalt und Mobbing an, in welchen nach care-ethischen Gesichtspunkten argumentiert und gearbeitet wird, wobei es um Wahrnehmung von Schwächen, Vermeidung von Ausgrenzung, Achtsamkeit für die Atmosphäre, den Umgangston geht.

Nach den schrecklichen Amokläufen und Gewaltausbrüchen an Schulen ist überdeutlich geworden, dass es notwendig ist, eine neue Kultur des »Sich Kümmerns« zu entwickeln, die weit mehr umfasst als auf die Einhaltung der Schulordnung oder (meist einseitig festgelegter) »Regeln« zu pochen. Eine Ethik, die nicht um die Verletzlichkeit des Menschen weiß, die nicht darauf gerichtet ist, das Leiden im Blick des Anderen wahrzunehmen und nicht die Begrenzungen, denen wir alle unterlegen sind, zur Kenntnis nimmt, wird  zur »ethischen Gewalt« (Judith Butler) (M 4). Um einen Blick für die Asymmetrien in unserem Beziehungsgeflecht zu entwickeln, eignet sich die Übung, die eigenen Erfahrungen aufzulisten und an einigen Beispielen zu zeigen, welche Verantwortung sich jeweils für die Beteiligten ergibt (M 5, M 6). Um in Prägen nach der moralischen Verantwortung Orientierung zu gewinnen, sollten beide Perspektiven eingenommen werden. Sie stehen in einem  komplementären Verhältnis zueinander und müssen in der Praxis gleichermaßen berücksichtigt werden (M 7). So lassen sich die Beispiele jeweils unter beiden Perspektiven anschauen.

Was bedeutet nun dieser andere Blick auf den Menschen? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Formulierung einer Ethik und die Begründung von moralischen Urteilen? Urteile zu fällen, zu rechtfertigen und durchzusetzen sei ebenso wichtig wie Urteile aufzuschieben, auszusetzen und aufzuheben, postuliert Butler. Dabei soll es menschlich zugehen: sich auf das Leben, die Beziehung, das »Anderssein des Anderen« einzulassen erfordert Geduld, »Pflicht« zu Bescheidenheit, Großzügigkeit und Bereitschaft zur Vergebung.[5] Auch wenn um Urteile gerungen werden muss, bedeutet nach Butler andererseits die Festschreibung der »Verurteilung« eine Distanzierung, die den Anderen aufgibt und zu einer »Entlebendigung« führt. Eine Gerechtigkeitsethik wird dann zu einer »Ethik der Gewalt«, wenn sie aus einer Position der Selbstgerechtigkeit heraus dem »Recht« vor der »Liebe« den Vorrang gibt. 

Materialteil

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M 1

M 2

M 3


M 4

M 5

M 6

M 7


Anmerkungen

[1] Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München 1995; Elisabeth Conradi, Take Care - Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a M. 2001; Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a . M. 2003.
[2] Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1994; Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2007.
[3] Herrmann-Josef Große Kracht, nachzulesen unter http://archiv.hamburger-illustrierte.de/arc2003/inland/kultur/literatur/rezconraditakecare
[4] So z.B. in einem neu erschienen Kompendium mit dem Titel »Mein Ziel: Abitur Ethik – das komplette Abi-Wissen« (Manz Lernhilfen Stuttgart 2009, hrsg. Von Klaus Goergen und Hanns Frericks).
[5] Butler (wie Anm. 1), S. 56.