StartseitePublikationenBernd HainmüllerKriegsspiel auf dem Lande (Leserzuschrift)

Kriegsspiel auf dem Lande

1938

Bernd Hainmüller

Vorbemerkung
Im Zuge der Veröffentlichung des Buches zur Freiburger Hitlerjugend erhielt ich zahlreiche Leserzuschriften, die die hier geschilderten Sachverhalte 1938 im ganzen damaligen Reichsgebiet bestätigen. Beispielgebend sei hier eine Leserzuschrift (Name bekannt) wiedergegeben, die das Kriegsspiel 1938 in Memmingen schildert. (B.H.)

Lieber Herr Hainmüller,

Es sieht so aus, als interessiere Sie das, was in jener Zeit mit unserer Jugend geschehen ist, ganz besonders. Darum habe ich mir gedacht, ich könnte Ihnen ja auch einen Beitrag dazu leisten, denn ich habe ja alles ganz persönlich erlebt. Natürlich gibt es Erinnerungslücken da und dort, aber immerhin sind noch recht starke Eindrücke unvergessen geblieben. Es ist ja eine Zeit in der der junge Mensch besonders erlebnisfähig ist. Und — in unserem Fall muß man sagen: leider — auch sehr "bildungsfähig‘. Die Folge war überall die gleiche wie in Freiburg: Wir wurden vormilitärisch und staatshörig herangebildet und waren natürlich der nationalsozialistischen Ideologie total ausgesetzt, und in einem Alter, wo man nicht mehr auf die reife Erfahrung der Eltern hört. (Meine Mutter z. B. war eine ganz einfache Landfrau, hatte aber ein gesundes Abwehrgefühl gegen das Dritte Reich. Hitler "der Schnupftabaksbart" war ihr von Anfang an unsympathisch.

Maufischer gegen Kuhschwänzler

Ein Geländespiel der Memminger HJ gegen die "Dörfler" im Herbst 1936

Vorbemerkung
Die Entwicklung der HJ von freiwilligen Verbänden zur "Staatsjugend" ging natürlich auf dem Land wesentlich langsamer vonstatten als in den Städten. In Memmingen z.B. waren nach der Auflösung der Bündischen Jugend sofort erfahrene Führerkader vorhanden, sogar auch aus den Reihen des ebenfalls verbotenen CVJM. Und es wurden natürlich auch die vorhandene Heime übernommen, und schließlich bewirkte die Einführung des schulfreien Samstags, daß eine rasche Organisationsbildung stattfinden konnte.

Hingegen hatten wir auf dem Land es schwerer. Es half uns niemand, ein Heim einzurichten. Wir eigneten uns einfach ohne viel zu fragen ein aufgelassenes Schießhaus des Schützenvereins an und rich­teten es ganz ohne Hilfe ein. Die Holzbeschaffung für den alten Ofen war kein Problem: Entweder brachten wir etwas mit oder machten mal in den Bauernwäldern eine "Holzaktion‘. Widerstände gab es von seiten der "Alten". Sogar der Ortsgruppenleiter der Partei raunzte mich einmal an, weil wir gesungen hatten "denn heute gehört uns Deutschland..."

Andererseits marschierten wir am 1. Mai noch (hinter der SA) mit unserer kleinen Fahne in die Kirche ein. Überhaupt richteten wir uns in fast allem nach der SA aus, die damals schon gut organisiert (und heimlich) bewaffnet war. Von Anfang an bestand eine mehr oder weniger offene Feindschaft zwischen den städtischen und dörflichen HJ—Einheiten. Daher gaben wir uns die wunderschönen Schimpfnamen Maufischer (wir zu den Memmingern) und Kuhschwänzler (die Memminger zu uns).Ob es im Herbst 1936 einen Fehdebrief gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war ein Geländespiel angesagt: Stadt gegen Land Süd. Kriegszíel für die Memminger war die Eroberung des Grönenbacher Schlosses. Die Chancen waren ganz verschieden. Die Memminger waren ca. 500 bis 600 Jungen, sie hatten außerdem eine Motor—HJ, eine Nachrichtenabteilung, und reichlich erfahrene Führer.

Wir Dörfler hatten: Die Gefolgschaft Illertal, bestehend aus den zwei Scharen Legau (70 Mann) und Lautrach (50 Mann) also zusammen 120. Die Gefolgschaft Florian Geyer, bestehend aus den Scharen Grönenbach(80) und Wolfertschwenden (ca. 50). Alles in allem konnten wir 250 Mann gegen die doppelte Anzahl Memminger aufbieten. Wir hatten keine Sondereinheiten, nur Fahrräder, auch keine erfahrenen Führer. Unsere beiden Gefolgschaftsführer waren übrigens Städter und verstanden nicht viel von unserer ländlichen Art und unseren Möglichkeiten.

Der Kriegsplan: Die Memminger waren die Angreifer, die Dörfler hatten das Schloß Grönenbach zu verteidigen. Damit das Ganze ein echtes "Geländespiel" werden konnte, waren einige Spielregeln festgelegt, die von "unparteiischen" Schiedsrichtern zu überwachen waren:

  • Die Angreifer durften nicht die Hauptstraße von Memmingen nach Grönenbach benützen, sondern das Gelände links und rechts davon.
  • Alle Krieger mußten in Uniform sein, nur jeder Partei waren je 5 Mann erlaubt, die als "Spione" in Zivil auftreten durften.
  • Blaue und rote breite Armbänder aus Krepp—Papier markierten die Par­teien. Wem das Armband abgerissen war, der war "tot" und hatte auszuscheiden. Eroberte Armbänder wurden als "Trophäe" sorgsam eingesteckt.
  • Als Kampfmittel waren nur die Fäuste erlaubt, keinesfalls das Fahrtenmesser oder Knüppel. (so gab es auch keine ernstlichen Verletzungen).
  • Den Memmingern war nicht erlaubt, innerhalb des (kartenmäßig abgegrenz­ten) "Kampfgebietes" LKW oder PKW zu benützen, aber die wenigen Motor­räder schon. Fahrräder waren jede Menge erlaubt, auch die Reiter—JH durfte "aufsitzen" (wurden aber meist schnell zum "Absitzen" bewegt.
Der Kampfverlauf

Als Scharführer gehörte ich zum Kampfleiterstab der Dörfler. Da wir keinerlei " Nachrichtenmittel" besaßen, postierten wir vorwiegend Beobachter auf den vorhandenen Kirchtürmen und auf hohen Bäumen. Unten stand je ein Radmelder, der die Beobachtungen schnellsten an einen Posten (meist die Kameradschaftsführer) weitergeben mußte. Dieser saß am nächst­gelegenen Telefon und konnte so doch immerhin Meldungen an die Schwer­punkte weitergeben. Dieses Verfahren war gleich erfolgreich wie die Arbeit der feindlichen Nachrichtentruppe. Diese hatten eh nur wenige Tornisterfunkgeräte mit geringer Reichweite. Unsere Nachrichtenmethode konnten die Memminger so gut wie nicht anwenden, da sie ja in Angriffsbewegung waren.

Der Vorteil der Memminger war: Sie konnten meist sehr gut getarnt auf mehreren Routen anrücken, die wir erst mal erkunden mußten, was die Aufgabe unserer 5 "Spione" war (wovon 2 gefangen wurden, die andern 3 ziemlich erfolgreich operierten (auch per Telefon bzw. Fahrrad).

Da wir Verteidiger mit dem Durchbruch einer schnellen Radlertruppe jederzeit rechnen mußten, postierten wir eine ortskundige und raufgewohnte Grönenbacher Kameradschaft am Schloßberg selber gut getarnt im Gebüsch. Da konnte so leicht keiner durchkommen. Die Ittelsburger Kameradschaft hatte Vorsorge zutreffen, daß keine Umgehung von Süden her zustande kam. Die Schar Wolfertschwenden wurde aufgeteilt in zwei Gruppen: Eine starke Eingreifgruppe mit Rädern — und mehrere kleine Posten versteckt an Punkten, wo der Feind evtl. vorbeikommen mußte. Diese hatten also Beobachtungs— und Störungsaufgaben, galten aber auch als "verlorene Haufen". Wir hatten die Illerübergänge zu sichern, das waren die zwei Brücken Au und Illerbeuren, aber auch die mehreren Kähne an der Fluhmühle, wo die Memminger einen befreundeten Stützpunkt hatten. Tat­sächlich wurden — an anderer Stelle — mehrere Kähne benützt, von denen aber etliche absoffen, weil die Mannschaft mit dem schnellen Illerwasser nicht zurechtkam.

Die schwierigste Aufgabe hatte die Schar Lautrach. Sie mußte das Einsickern des Feindes verhindern — und das Schwierige war, daß zwei Dörfer dieser Gegend zu den Memmingern gehörten und somit den Vorteil der Ortskunde ausnützen konnten. Die Woringer Kameradschaft (lauter Radler) waren hauptsächlich Melder. Da unsere Land—HJ am Samstag nicht frei bekommen hätte, geschah das Ganze an einem Sonntag, bei gutem Wetter. Proviant brachte jeder selber mit. Die ersten Scharmützel gab es bei Ottobeuren, wo von unserem Spion ein größerer Trupp entdeckt und von einer schnellen Radlertruppe überfallen und ziemlich dezimiert wurde. Westlich der Iller, außerhalb der "Kampfgebietgrenze" hatten die Feinde (was nicht verboten worden war), mit Kraftwagen eine halbe Gefolgschaft an die "Grenze" herangefahren, wurden aber von einem Bauern an unseren Spion gemeldet und dieser konnte rechtzeitig die Angriffsrichtung er­mitteln. So kam es an der Aubrücke zu einem harten Kampf, wobei etliche ins Wasser fielen. Ein zweiter Angriffstrupp wurde aus einem guten Versteck (Ruine Rotenstein) total überrascht und aufgerieben. Es zeigte sich, daß die Memminger Stadtfräcke doch viele Hanseln dabei hatten, die keinen Kampf gewöhnt waren. Die Bauernfäuste waren meist robuster, vor allem die Ortskundigkeit war oft hilfreich. Gegen 15 Uhr war der Feind (stark gelichtet) in die Nähe des Schloßberges vorgerückt, aber verzettelt und nirgends durchbruchfähig. Mehrere Versuche scheiterten an den restlichen ca. 90 bis 100 Dörflern. So kam es — weil auch die Zeit um war — gegen 17 Uhr zu einem Waffen­stillstand, der bald unter Androhung eines starken "Ausfalles" in einen Ewigen Frieden umgewandelt wurde.

Nachwort

Wie in Freiburg, gab es drei Jahre später auch aus unseren Reihen viele Kriegsfreiwillige (allerdings nicht ganz soviel wie dort) und wenige kehrten heim.